6564308-1949_29_04.jpg
Digital In Arbeit

Eine untergehende Nation?

Werbung
Werbung
Werbung

Die Royal Commission of Population, die vor fünf Jahren, mitten im Krieg, von der Regierung Churchill eingesetzt wurde, um die Bevölkerungsbewegung Großbritanniens zu untersuchen, hat kürzlich ihre Arbeiten abgeschlossen und legt in einem ausführlichen Bericht das Ergebnis ihrer Untersuchungen der Öffentlichkeit vor. Dieses Ergebnis hat in England beträchtliches Aufsehen hervorgerufen und wird demnächst auch das Parlament beschäftigen.

Der Bericht gibt zunächst einen Überblick über Englands demographische Verhältnisse in den letzten Jahrhunderten. Im Jahre 1700 zählte Großbritannien (ohne Irland) wahrscheinlich sieben Millionen Einwohner; gegenwärtig rechnet man mehr als 49 Millionen. Dieses schnelle Wachstum der Bevölkerung ist durch den Reichtum und die Stärke des Landes bedingt, nicht zuletzt aber ist es auch dem Fortschritt der medizinischen Wissenschaft zuzusebreiben. Großbritannien wies vor 1700 eine hohe Geburtenziffer, aber auch eine hohe Sterblichkeitsziffer auf. Wahrscheinlich weniger als die Hälfte der Kinder hat damals nicht das 20. Lebensjahr erreicht. 1840 hatten bereits zwei Drittel der Mädchen die Chance, das 15. Lebensjahr zu erreichen, und ein Drittel aller Frauen erreichte sogar dos 65. Lebensjahr. Heute ist die Sterblichkeitsziffer so gering, daß 94 Prozent aller Mädchen das 15. und 71 Prozent der englischen Frauen das 65. Lebensjahr erreichen. Aber schon in. der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte eine nicht geringe Senkung der Geburtenziffer ein, die sich in den letzten Jahrzehnten noch beschleunigte. Um 1880, zur Zeit Königin Viktoria , hatte die englische Familie durchschnittlich sechs Kinder (jetzt zwei). Genauer: in hundert englischen Familien gibt es gegenwärtig 220 Kinder. Das genügt nicht, um den augenblicklichen Bevölkerungsstand Großbritanniens zu halten. Es müssen vielmehr auf 100 Familien mindestens 240 Kinder kommen, um ein Absinken des englischen Bevölkerungsstandes zu verhindern. Trotzdem behandelt der Bericht das Problem der kinderreichen Familie ziemlich gleichgültig. Und hier setzt die Kritik der katholischen Öffentlichkeit ein. Sie stellt fest, daß der Rückgang der Geburtenziffer hauptsächlich auf den ungehinderten Gebrauch empfängnisverhütender Mittel zurückzuführen ist. Der Kommissionsbericht erklärt dazu einfach, daß die englischen Familien keine Änderung in ihren Gewohnheiten eintreten lassen werden; die durchschnittliche englische Familie werde so klein wie bisher bleiben und sich höchstens vielleicht um ein weniges vergrößern. Es ist der Kommission dabei nicht entgangen, daß sich der Geburtenrückgang bei den englischen Katholiken erheblich langsamer vollzieht als im Landesdurchschnitt.

Wenn man die Aus- und Einwanderung nicht berücksichtigt, kommt man zu nachstehenden Schlüssen:

Die Bevölkerungszahl Großbritanniens wird in den nächsten Jahren noch eine leichte Erhöhung erfahren.

Die Zahl der Arbeitsfähigen wird in den nächsten 30 Jahren auf dem gegenwärtigen Stand gehalten werden können; aber die Zahl der jungen Leute (zwischen 15 und 39 Jahren) wird sich in den nächsten 15 Jahren um eineinhalb Millionen verringern; während die Zahl der Greise (Personen über 65 Jahre) in den nächsten Jahren eine Steigerung um 2,300.000 erfahren dürfte.

In weiterer Folge wird sich die Bevölkerung Großbritanniens gegen Ende des 20. Jahrhunderts langsam vermindern. Vorausgesetzt, daß die gegenwärtige Fruchtbarkeit der englischen Familie unverändert bleibt, wird Großbritannien im Jahre 2007 etwas weniger als 49 Millionen Einwohner zählen, ‘im Jahre 2047 aber nur noch 44,5 Millionen. Sollte jedoch die GeburtenZiffer weiter fallen, dann würde Großbritannien im Jahre 2007 nur noch 41,5 Millionen Einwohner haben und im Jahre 2047 gar weniger als 30 Millionen. Gewiß erklärt die Untersuchungskommission eine Erhöhung der Geburtenziffer auf einen Stand, der einen bedeutenden Bevölkerungsrückgang verhindert, für wünschenswert; sie kommt dabei zu dem Schluß, daß diese Grenze (nach oben) erreicht würde, wenn die Durchschnittszahl der Kinder in 100 englischen Familien nicht 220, sondern 240 betragen würde. Es ist aber bezeichnend, daß sie weder die Hoff- : nung noch den Wunsch ausdrückt, den Bevölkerungszuwachs überhaupt zu stei- ; gern. Hierin unterscheidet sich die Auffassung der Royal Commission of Population erheblich von den Gedankengängen deutscher Bevölkerungspolitiker, die, wie Professor Burgdorfer und andere, ein ähnliches Rechenergebnis zum Anlaß nahmen, die deutsche Öffentlichkeit zu alarmieren und einen starken Bevölkerungszuwachs zu fordern. Es muß allerdings zugegeben werden, daß das Bevölkerungsproblem in Großbritannien sich angesichts der hohen Bevölkerungsdichte der Insel anders darstellt. Andererseits muß auf die Aufnahmefähigkeit der Dominions hingewiesen werden, die noch immer recht dünn besiedelt sind und eine erhebliche Einwanderung von - Weißen aus dem Mutterland vertragen.

Hier rechnet die Kommission aber geradezu mit der Wahrscheinlichkeit, daß der Strom der britischen Auswanderung nach- lassen und der Prozentsatz der Engländer in den Dominions sich weiter verringern wird und gibt den klugen Rat: in maßvollen Grenzen sollen alljährlich Engländer das Mutterland verlassen, um das englische Element in den Kolonien zu stärken, aber an ihre Stelle sollen neue Tausende von Einwanderern in Großbritannien Aufnahme finden, um die angelsächsische Rasse zu beleben.

Anscheinend ist dieser Grundsatz schon von vielen Einwanderern befolgt worden, bevor dieser Untersuchungsbericht der Öffentlichkeit unterbreitet wurde. Eine beträchtliche Anzahl von Flüchtlingen aus allen Ländern des europäischen Kontinents hat in den letzten Jahren die britische Staatsbürgerschaft erworben. Alljährlich kommen Tausende von Ukrainern, Letten, Litauern und Esten nach England. 17.000 ehemalige deutsche Kriegsgefangene arbeiten in der Landwirtschaft, von denen, wie man hört, nur wenige wieder nach Hause wollen. In einigen Jahren werden sie auch die Möglichkeit haben, die britische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Tausende deutsche Mädchen werden für die englische Hauswirtschaft und Textilindustrie geworben; manche von ihnen werden hier ihre neue Heimat finden, die sie im Osten verloren haben. Unverkennbar ist die Einwanderung aus den germanischen Ländern besonders gerne gesehen.

Das sagt der Untersuchungsbericht wohl nicht. Er enthält dagegen viele aufschlußreiche Ratschläge, wie das Familienleben neue Auftriebe bekommen soll. So wird empfohlen, den größeren Familien Steuererleichterungen zu gewähren, den Wohnungsbau zu beschleunigen, den Wohnraum der Familien zu vergrößern. Es fehlen nicht Hinweise auf die notwendige räumliche Erweiterung der Schulen, die Errichtung von Kindergärten, die Ausdehnung der ärztlichen Hilfe für werdende Mütter und auf einen weiteren Ausbau der sozialen Fürsorge überhaupt.

Der Bericht wird Gegenstand der Aussprache im Parlament sein. Es ist sehr wahrscheinlich, daß seine Empfehlungen weitestgehend berücksichtigt werden. Sein Gründlichkeit verdient es. Denn er ist das Ergbnis fünfjähriger Arbeit, bei der eineinhalb Millionen Antworten auf eine Umfrage verarbeitet sind, und er hat den ansehnlichen Betrag von über 200.000 Pfund Sterling gekostet.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung