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Eine Weltmacht verharrt im Chaos

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Wie kam es dazu und wer ist schuld am russischen Debakel? Das ist die Frage, die sich dem Beobachter angesichts der Nachrichten über Bussenmafias und allgemeinen Niedergang immer wieder stellt. In seinem Buch „Weites Land - Russische Erfahrungen, russische Perspektiven” sucht Gerd Rüge wohlweislich nicht, diese Fragen direkt zu beantworten. Derartiges hat er nie als seine Aufgabe gesehen. Statt dessen macht er an Hand seiner persönlichen Erlebnisse als Korrespondent in Moskau den langsamen Absturz des Systems und die folgende Entwicklung nachvollziehbar.

Rüge kam noch in der Ära Chruschtschows nach Moskau, als nach Stalin auch dessen Erbschaft begraben wurde. In vielen Anekdoten zeichnet er das Bild des Mannes, der das „Tauwetter” verursacht hatte, das erste sichtbare Aufbrechen von Stalins Zwangssystem. Die unberechenbaren Initiativen Chruschtschows wurden schließlich seinen Kollegen zu viel und sie setzten ihn ins Ausgedinge. Breschnew versuchte erfolglos, das Bad zurückzudrehen. Nach seinem Tod ergriff KGB-Chef Andro-pow die Macht. Bealistischer als Chruschtschow setzte er wieder dazu an, das Biesenland zu modernisieren. Er starb nach eineinhalb Jahren. Sein Schützling Gorbatschow konnte diesmal noch vom Apparat neutralisiert werden, der den senilen Tschernenko bevorzugte. Dieser überlebte aber auch nicht länger als Andropow.

Nun setzte Gorbatschow mit dem Bückhalt des KGB an, um endgültig die Führung der Sowjetunion in die Hand zu bekommen, mit Glasnost und Perestroika als Ergebnis. Buge zeigt einen Gorbatschow, der so geschickt taktierte, daß er die Zauderer überzeugen und die Gegner neutralisieren konnte. Er war ein genialer Konsenspolitiker. Das hieß aber auch, immer wieder Kompromisse zu akzeptieren. Das war den begeisterten Beformern unverständlich. Unter den frischen Beformkräften, die er zu seiner Unterstützung nach Moskau holte, befand sich Boris Jelzin.

Es dauerte nicht lange, bis sie sich entzweiten. Die schwierige Konsenspolitik Gorbatschows taugte Jelzin überhaupt nicht. „Gorbatschow operierte im Minenfeld gefährlicher Gegensätze. In einer Gesellschaft, deren Kräfte sich polarisierten, hatte er keine Partei, die hinter ihm stand.” Diese Bemerkung Ruges zeigt eine Erscheinung auf, die in diesen Zeiten des Wandels mehr und mehr reformentschlossene Staatsführer trifft, so Chirac in Frankreich und Clinton in den USA.

„In Boris Jelzin stand Gorbatschow jetzt ein Volkstribun als Gegner gegenüber, der auf eigene Macht pochen konnte.” Sein neues Thema war „die Souveränität Bußlands, das zuvor nur ein untergeordneter Teil der Sowjetunion gewesen war.” Bereits die offene Russifizierungspolitik Breschnews hatte in den anderen Republiken Widerstand geweckt. Die nun offiziell erklärte Unabhängigkeit und gleichzeitig Vormachtstellung Rußlands brachte das schnelle Ende der Union. Nach dem fehlgeschlagenen Putsch der alten Garde war Gorbatschow auch kein Präsident mehr. Jelzin hatte gegen alle Konkurrenten die Macht übernommen.

Vielleicht hatte Gorbatschow eine Politik ähnlich der Chinas im Auge gehabt. Aus den Berichten Buges läßt sich jedoch ablesen, daß seine Chancen von vornherein gering waren. Die Wirtschaft war zu krank für publikumswirksame Maßnahmen. Andererseits hatte er selber den Demokratisierungsprozeß ausgelöst und damit einen immer stärkeren Druck in Richtung aufschnelle wirtschaftliche Besserung erzeugt. Damit gab es keine Zeit mehr für eine chinesische Politik, also eine Phase politischer Härte bei wirtschaftlicher Lockerung. Daran konnte auch Jelzin oder irgendein anderer Beformer nichts ändern. Es gab keine Bettung mehr vor dem völligen Zusammenbruch mit der Hoffnung auf die Möglichkeit des Entstehens einer neuen Gesellschaft aus den Trümmern.

Buge besuchte seit Jelzins Machtübernahme viele alte und neue Freunde und Bekannte. Viele sind erfolgreiche Unternehmer geworden.

Er zitiert Neuunternehmer, die die Zeichen der Zeit rechtzeitig verstanden hätten und eine günstige Stellung in einem lokalen Staatsbetrieb ausnützten, um das Unternehmen in ihren privaten Betrieb umzuwandeln, oft, ohne Zeit mit dem Studium der verworrenen Gesetzeslage zu verschwenden. Andere hatten im alten System nur dahinvegetiert und entpuppen sich nun als Senkrechtstarter. Auf einer höheren Ebene, hörte Buge, tue man alles, um Großbetriebe in den Buin zu treiben und dann um ein Taschengeld den Direktoren und Schlüsselleuten in den zuständigen Ministerien zuzuschanzen. Die Horrornachrichten von monatelang nicht ausbezahlten Gehältern sind nicht in jedem Fall Beweis für den totalen Absturz.

Immer wieder kritisieren ausländische Beobachter, daß die neuen Unternehmer aus der alten kommunistischen Führungsschicht kommen. Aber woher sonst sollen sie kommen? Aus der Schicht ohne Ausbildung? Solche Fälle gibt es, doch sie bleiben Ausnahmen. Angesichts dieses verworrenen Wilden Ostens sollte man im übrigen nicht vergessen, daß auch in den USA die großen Vermögen des vorigen Jahrhunderts nicht von Waisenknaben geschaffen wurden. Man denke an den Kennedy-Großvater, der den Familienaufstieg als „Bostons irischer Pate” begann.

Die große Masse muß in der Schattenwirtschaft überleben, auch jene, die Arbeit haben. Denn im heutigen Rußland lebt der Mensch nicht nur vom Lohn allein. Immer wieder aber muß Rüge die Leidensfähigkeit der Völker des einstigen Reiches bewundern, die Fähigkeit, in aussichtsloser Lage zu überdauern. Das, zusammen mit den vielen Erfolgsstories von Einzelpersonen, stimmt ihn optimistisch in bezug auf die Zukunft Rußlands und der GUS-Staaten. Dazu sei noch daran erinnert, daß zwischen 1913 und 1917 die industrielle Produktion Rußlands um 75 Prozent gefallen ist, dann noch einmal um 75 Prozent zwischen 1917 und 1921. Die Russen haben es überlebt und die Energie gefunden, wieder anzufangen. Trotz des Zusammenbruchs bietet ihr heutiger Nullpunkt bessere Chancen.

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