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Eine Wirtsdiaftsrevolution rollt

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Die der UdSSR vorgelagerten Völker des Ostens wurden durch den Krieg in eine unaufhörliche Revolution gedrängt, die ein tausendjähriges Gefüge von sozialen und ökonomischen Bindungen verändert. Der Osten, durch seine Geistesgeschichte durch viele Jahrhunderte ein Komposit von bäuerlichem Stoizismus und traditionsstarrer Beharrlichkeit, eine Sphäre, in der die billigste Ware die Zeit ist, verwandelt sich.

Alle slawischen Staaten haben ebenso wie Ungarn und Rumänien ohne Rücksicht auf Nützlichkeit eine Veränderung der Besitzrechte an Boden vorgenommen, die alle bisher bekannten Ausmaße übersteigt. Die Polen übernahmen 6,5 Millionen Hektar landwirtschaftlichen Nutzbodens in Ostdeutschland und zerteilten weitere 9000 Güter mit 2,9 Millionen Hektar in ihrem alten Vaterland. In der Tschechoslowakei gingen 2,350.000 Hektar Ackerboden, Wiesen und Weiden der Sudetendeutschen jn tschechische Hä.nde über. Jugoslawien parzellierte allein in Kroatien 1S2.850 Hektar Großgrund- und Mittelbesitz, im ganzen Staatsgebiet schätzungsweise 400.000 Hektar. In Ungarn griff die Landnahme' der Bauern auf 3,214.000 Hektar, in Rumänien auf 1,4 Millionen Hektar Nutzland über, in dem fast nur mit Zwergbauern besiedelten Bulgarien fand sich ebenfalls noch eine Bodenreserve von 1200 Hektar, die zerstückelt wurde, In der Zone zwischen der Ostsee und dem Raum der unteren Donau ist demnach die hierarchische Ordnung des Dorfes auf einer Fläche von insgesamt 16,765.000 Hektar mehr spontan als systematisch zerbrochen.

Die neuen Besitzer dieses Bodens haben in den zwei Jahren nach der Beendigung des Krieges den mühseligen Versuch unternommen, die Landmarken abzustecken, sidi mit Geräten zu versorgen und oft auch eine Notunterkunft für Menschen und Tiere zu errichten. Es scheint die Berechnung zuzutreffen, daß im Durchschnitt die Hälfte des Nutzlandes bisher unbebaut blieb, genau wissen wir, daß in Rumänien und Ungarn im Vorjahr nur ein Viertel unter den Pflug genommen, das übrige Land brach liegengelassen und abgeweidet wurde. Osteuropa, das seit je die Märkte des Westens mit Nahrung reichlich und billig beschickte, ist selbst Käufer im Ausland geworden. Polen, Rumänien und Bulgarien leiden empfindlichen Mangel, Jugoslawien benötigt gewisse I.ebensmittetarten zur Ergänzung, nur die Tschechoslowakei, deren agrarische Struktur innerhalb des früheren tschechischen Staatsgebietes unangetastet blieb, und Ungarn versorgen sich aus eigener Ernte.

Die Revolution des Dorfes war noch nicht beendet, als die zweite Welle eines sozialen Umbruchs von der Stadt ihren Ausgang nahm. Sie führte die I nt) u s t r i e in den Besitz des Volkes, beziehungsweise des Staate^!ber. Als erster Staat erließ die Tschechoslowakei 1945 das Dekret zur Nationalisierung der Wirtschaft, das 75 Prozent der industriellen Erzcu-gun^skapazität entprivatisierte, dazu einen Großteil der Lebensmittelbctrieb;:, das gesamte Geldwesen und die Versicherungen. Unmittelbarer Staatsbesitz wurden ferner Eisenbahn, Autotransport, Schiffahrt und Flugwesen. In nicht geringcrem lfJmfang ging der Prozeß der Ausschaltung des Privateigentums in der Wirrs-hnft in Jugoslawien vor sich, das zu Jahresende 1946 die Nationalisierung von 4? Wirtschaftszweigen beschloß. Weniger weitgehend waren die staatlichen Eingriffe in die polnische, bulgarische und ungarische Wirtschaft, während sich Rumänien völlig absentierte und nur die Nationalbank verstaatlichte. Die Geldwerte der auf diese Weise enteigneten Sachgüter sind gegenwärtig gar nicht feststellbar.

Der Elan dieser staatlich gelenkten Aktionen erschöpfte sich aber keineswegs in der formellen Obernahmsprozedur und der Ernenriung der neuen Werksdirektoren durch den Staat. Fast alle Länder standen vor dem Zwang, ihren Exekutivorganen in der Wirtschaft ein Programm in die Hand zu legen, nach dem produziert werden muß. Aus den _ noch ungeordneten Vorschriften der ersten beiden Nachkriegsjahre entstanden die nach statistischen Unterlagen durchdachten Ein- und Mehrjahrespläne der Wirtschaft mit genau festgelegten Produktionsquoten, während gleichzeitig erhebliche Umbau- und Konzentrationsprojekte in Angriff genommen wurden. Polen wagte es, einen Drei jahresplan für die Periode von 1946 bis 1949 aufzustellen, der das Nationaleinkommen des Landes von 8,8 Milliarden auf 20,67 Milliarden Vorkriegszloty erhöhen soll. Der bisher vorwiegend agrarische Staat soll künftig ein Vorwiegend industrieller werden. Die Erzeugung von Nahrungsmitteln muß je Einwohner gegenüber 1938 um 10 Prozent, der Gebrauchsgüter um 25 Prozent, der Produktionsmittel (Maschinen und Geräte) gar um 150* Prozent hinaufgetrieben werden. Zu diesem Zwecke werden riesige Geldmittel investiert, 1,5 Millionen Menschen mobilisiert, umgeschult und an neue Arbeitsplätze verteilt. Die Tschechoslowakei hat sich das Ziel einer Flebung des Lebensstandards um 10 Prozent gegenüber der Vorkriegszeit durch die Verwirklichung eines Zweijahresplanes von 1947/48 gesetzt. Die höchste Vorkriegserzeugung an Eisen und Stahl muß in diesem Zeitraum erreicht, in der Kohlenförderung übertroffen werden. Der Plan greift auf fast alle Wirtschaftsgebiete über und erfordert zu seiner Finanzierung einen beträchtlichen Teil des Nationaleinkommens. Mehr als eine halbe Million Menschen müssen ihre Arbeitsplätze und Berufe wechseln.

Jugoslawien hat schon 1946 nach einem Einjahresplan gearbeitet, dem der Fünfjahresplan 1947 bis 1951 folgt. Nach Einjahrtsp'änen wird auch die Industrie in Bulgarien und Rumänien geleitet. In allen Fällen ist beabsichtigt, die Wirtschaft anzukurbeln, die Quantität der Erzeugung und hiirauf ihre Qualität zu verbessern, das Erzeueungsvolumen auszuweiten, das bäuerliche Reservoir an Arbeitskräften für die Industrie auszuwerten und nicht nur unabhängig vom Ausland, sonde.-n dirüber hinaus exportfähig zu werden.

Damit sich diese Länder später nicht gegenseitig totkonkurrieren, unternahm der vorausschauende tschechoslowakische Industrieminister Lauschman den Versuch, die Industrialisierungspläne der Oststaaten und Österreichs zu synchronisieren, um ein wildes und konjunkturelles Wachstum zu verhindern und die Basis für einen gesunden Warenaustausch zu legen. Seine Re:sen nach Belgrad, Sofia, Bukarest, Warschau und Wien dienten diesem Zweck.

Die Planwirtschaft und -die Rechnung in Prozenten der Planerfüllung beherrschen seit Monaten das Leben des industriellen Arbeiters in Osteuropa. Eine tschechische Stimme charakterisiert diese für den Osten unerhörte Erscheinung mit folgenden Worten: „Der zweiundzwanzigste Monat nach der Wiedererrichtung der Tschechoslowakei steht im Zeichen des Prozents. Es sind dies die Prozente, um die die Förderung an Kohle und Erzen steigt, Prozente, um die sich die Erzeugung hebt, Prozente, die den Plan überschreiten.“ Tatsächlich treten nunmehr alle absoluten Ziffern in den Hintergrund, gebannt sehen die Menschen auf Prozentzahlen und Statistiken, auf die Ergebnisse der Wettbewerbe zwischen oft länderweit entfernten gleichartigen Betrieben, auf die Propagandaparolen in Zeitung und Rundfunk. Man scheint nicht mehr für den Erwerb, sondern für „Plan“ und „Prozente“ zu arbeiten. Das Arbeitstempo wird verschärft, „freiwillige“ Feiertagsschichten vergrößern praktisch die Arbeitsstunden pro Woche, „Arbeitsbrigaden“ von Beamten, Studenten und Jugendlichen fahren in die Gniben ein, „Stoßarbeiter“ werden mit Medaillen, Belegschaften mit „Ehrenschildern“ ausgezeichnet, Militärkapellen spielen in Montagehallen während der Werkspause, und Staatsmänner überreichen den erfolgreichsten Männern der Wirtschaft Siegesdiplome. Die Einheitsgewerkschaften, heute mit Macht ausgestattete Institutionen, überwachen den sozialen Frieden, der Streik_ als Kampfmittel ist verpönt, die Tschechoslowakei hat ihn sogar in gewissen Fällen verboten, und dem Staatsbürger wird ein-t gehämmert, sein Geld besitze nur jenen Wert, den ihm die Arbeit verleiht. Als realen Lohn für seinen mit allen Hilfsmitteln der modernen Propaganda entfachten Eifer verheißt man dem Arbeit?r einen bisher nie gekannten Wohlstand.

Es wäre ein Selbstbetrug der Westeuropäer, die gegenwärtig im Osten auftretenden Nahrungsschwierigkeiten als Verfallszeichen zu werten. Das Chaos der Bodenverteilung wird wettgemacht durch den Fanatismus zur Industrialisierung. Dahinter steht wiederum die ebenso fanatische Entschlossenheit des neuen Regimes der östlichen Demokratie, die nationalisierte Wirtschaft „vor jeder unvorhergesehenen Komplikation und vor Eingriffen des privatkapitalistischen Lagers“ zu sichern, wie eine tschechische Begründung besagt, die mit den Ansichten in allen slawischen Ländern übereinstimmt. Das Bedürfnis nach Krediten der „kapitalistischen“ Wirtschaft ist groß, ihre Verweigerung hat eine retardierende Wirkung, doch sind weder die Ereignisse auszulöschen, noch ihre Tendenzen umkehrbar. Die Sozialisierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung derselben Länder — beide gewaltigen Eingriffe in den bisherigen Wirtschaftsaufbau müssen gelingen, wenn nicht beide mißglücken sollen. Die Frage wird sein: Wenn alle diese Agrarländer sich auf. Industrieländer umstellen, während sie notwendigerweise gleichzeitig ihre Agrarproduktion und Getreideausfuhr verringern — wer wird ihre Überschüsse an Industrieprodukten kaufen? Am allerwenigsten wird dies Rußland sein, dessen' Industrieaufrüstung auf höchsten Touren läuft. Eine Wirtschaftsrevolution in den Randländern des europäischen Ostens ist eine der bedeutendsten an der künftigen Formung Europas wirkenden Tatsachen. Freilich — ihr Ablauf im einzelnen wie im ganzen ist noch nicht zu berechnen.

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