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Einen Sommer lang

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„Das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang“, dieses berühmte Wort Rilkes wird vielen Tschechen lange in Erinnerung bleiben. Dieser Sommer 1968 brachte vielen von ihnen die Erfüllung jenes Minimalprogrammes, das seit vielen Jahren ihre Sehnsucht war. Dieses Minimalprogramm war sehr klein und menschlich sehr dürftig. Es umschloß die Sehnsucht, einmal ins Ausland reisen zu können, und zwar in den freien Westen, sich ein paar Kleinigkeiten in diesen Ländern kaufen zu können, in den eigenen Zeitungen schreiben zu dürfen, was man dachte, etwas mehr Freiheit im eigenen Land zu haben und etwas mehr verdienen zu können. Bis auf den letzteren Punkt erfüllte der Sommer 1968 dieses kleine Programm. Tausende und Abertausende von Tschechen fuhren in den freien Westen, wechselten zu einem schlechten Kurs die mitgebrachten und lange gesparten Kronen um und kauften sich in den Warenhäusern jene Dinge, die die Menschen des freien Westens kaum noch beachten und die für diese Tschechen doch unvorstellbare Schätze darstellten. Und sie konnten in ihren Zeitungen lesen und sogar schreiben, was sie sich dachten.

Jetzt ist alles aus. Und für lange, lange Zeit wahrscheinlich aus. Dieser Sommer 1968 wird in der böhmischen Geschichte wahrscheinlich jene Verklärung erfahren wie alle anderen kurzen schönen Zeiten, auf denen

immer wieder langeschreckliche folgten. Dieser Sommer 1968 wird sich anreihen an die Erinnerung an die Zeit Przemysls Ottokars II., Karl IV., Franz Joseph und Masaryk. Auf diese glücklichen Zeiten folgten die „schreckliche“ Brandenburger Zeit, die Hussitenkriege und Hitler. Rilkes Wort vom Schönen, das nur des Schrecklichen Anfang ist, hat sich wieder einmal bewahrheitet.

In welcher Form das Kompromiß zwischen den tschechoslowakischen und russischen Führern zustande- kam, wird die Welt wahrscheinlich nie erfahren. Vielleicht spielten Pläne über die Aufteilung des Staates nach Hitlerschem Muster eine Rolle oder wurden diese Pläne im Denken der tschechoslowakischen Führer weiter ausgebaut zu schrecklichen Visionen dank des Kabastrophenkomplexes, an dem doch jeder Tscheche irgendwie leidet: Die Slowakei selbständig, die ungarischen Teile der Slowakei an Ungarn abgetreten, das Olsa-Ge- biet wieder zu Polen und ein kleiner Teil des Sudetenlandes an die DDR, wodurch Ulbricht in die Rolle eines Befreiers der Sudetendeutschen hätte kommen können.

Diese Visionen allein hätten schon genügt, um jedes Kompromiß, das eigentlich ein Diktat war, anzunehmen. Die Sorge um das Leben so manchen Politikers mag dazugekom

men sein, um unter diesem Druck auch jedes Diktat zu akzeptieren. Vor allen Dingen aber darf man eines nicht vergessen: Es handelte sich um einen Konflikt zwischen Kommunisten. Aus wirtschaftlichen Gründen hatte die tschechoslowakische kommunistische Führung eine Liberalisierung des Regimes durchgeführt, da ansonst der wirtschaftliche Zusammenbruch des Landes zu erwarten war. Das Volk versuchte diese Liberalisierung in eine Demokratisierung umzuwandeln. Durch diese Liberalisierung versuchte Dubcek das Volk hinter sich zu bringen, und tatsächlich gelang es ihm, das Regime, das bisher bei höchstens zehn Prozent der Bevölkerung Zustimmung gefunden hatte, populär zu machen.

Aber die Russen fürchteten, daß die Demokratisierung durch das Regime nicht aufgefangen werden könnte, griffen mit harter Hand zu und stellten den Status quo wieder her. Dubcek, der geschulte Kommunist, fügte sich dem Befehl, und das Land wird sich wieder in zwei Teile spalten, in einen größeren Teil, der das Regime ablehnt, und einen kleinen, der davon profitiert.

Die Weltgeschichte ist nur zu oft auch das Weltgericht. Als der Reichsverweser Nikolaus von Horthy seinen gekrönten König aus dem Land

jagte und dieser schließlich in der Verbannung in Portugal starb, legte er schon die Grundlagen für seine eigene Verbannung im gleichen Land Portugal, in dem er auch starb. Als Alexander von Serbien 1917 in einem Scheinverfahren die Mörder Franz Ferdinands hinrichten ließ, weil sie ihm unbequem geworden waren, da lud er schon die Pistole seines Mörders, der ihn 1934 in Marseille erschoß. Die Weltgeschichte ist nur zu oft ein unerbittliches Weltgericht.

Als im Februar 1948 Präsident Beneš versuchte, das Kommen der Volksdemokratie zu verhindern, war es General Ludvik Svoboda, der ihm in den Rücken fiel und ihn zwiang, unter der Form eines Kompromisses ein Diktat anzuerkennen, das dem Lande die Volksdemokratie brachte. Der gleiche General Svoboda mußte jetzt ein Kompromiß unterschreiben, das wieder ein Diktat war und das dem Land neuerlich die Volksdemokratie bringt. Die Weltgeschichte ist nur zu oft ein unerbittliches Weltgericht.

Der Emigrant und der Schwejk, diese zwei Formen der Existenz, werden wieder das böhmische Dasein bestimmen. Böhmen ist das klassische Land der Exulanten und Emigranten. Seit dem heiligen Adalbert ergießt sich ein ununterbrochener Strom von Menschen aus dem Land, die als letzte Konsequenz, um leben zu können, das „miserable Recht der Emigration“ in Anspruch nehmen. Auch andere Völker des Ostens, wie die Polen und Russen hatten ihre Emigration. Aber diese hatte lange nicht die Bedeutung wie die tschechische Emigration. Einfach, weil Polen und Russen große Völker sind, das tschechische aber ein kleines Volk ist und eine Emigration, die besonders immer die Schichten der Intelligenz umfaßt, daher einer Dezimierung gleichkommt. Wer aber nicht auswandern kann, muß in die innere Emigration gehen, das heißt er muß sich abschließen und versuchen, zu überleben, indem er das Spiel vom braven Soldaten Schwejk spielt, durch kleine Sabotage den kleinen Raum der Freiheit etwas erweitert und unmerklich aber sicher das Regime ad absurdum führt. Das bedeutet aber wiederum, warten zu können, bis jene Sekunde X kommt, da ein Silberstreifen am Horizont die Hoffnung auf eine neue Freiheit gibt. Denn Böhmen gehört zum Abendland, und zum Abendland gehört die Freiheit, • und deshalb kann Böhmen die Sehnsucht nach Freiheit nie verlieren.

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