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Einwanderersorgen, Auswanderersorgen...

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Die nachstehenden Zahlen zur Auswanderungslage, die hiermit erstmals in Oesterreich veröffentlicht werden, wurden uns vom I. C. E.M., dem „Zwischenstaatlichen Komitee für Europäische Auswanderung“ (M. Kraus, Deputy Chief, Liaison Mission, Austria), zur Verfügung gestellt.

Die Flüchtlingsfrage ist nicht ein rein österreichisches, sondern ein Weltproblem; auch seine Lösung kann nur im Vergleich mit anderen Staaten behandelt werden.

Von selbst ergeben sich dabei zwei Gruppen; zunächst diejenige, in denen die Flüchtlinge auf ihrer freiwilligen oder zwangsweisen Flucht zuerst aufgenommen wurden und auch noch weiterhin Aufnahme finden (sie können auch als Auswanderungsländer bezeichnet werden), und dann jene Länder, die vornehmlich als Einwanderungsländer (durchweg in Uebersee) den Flüchtlingen dienen. Zu den ersteren, also den Aus Wanderungsländern, zählen: (West)Deutschland, Griechenland, Holland, Italien und Oesterreich.

Zu den wichtigsten Einwanderungsstaaten zählen: Argentinien, Australien, Brasilien, Chile, Israel, Kanada, Kostarika, Paraguay, Venezuela und USA.

Die Länder Westdeutschlands, die die Westdeutsche Bundesrepublik darstellen, haben heute eine Bevölkerungszahl von rund

49 Millionen Einwohnern gegenüber rund 38 Millionen vor dem Krieg. Dies bedeutet eine Zunahme von elf Millionen Einwohnern, einer Summe, die ungefähr der Einwohnerzahl der Niederlande gleichkommt. Das Zahlenverhältnis der Flüchtlinge zu der einheimischen Bevölkerung betrug 1951 37 Prozent in Schleswig-Holstein, 32,7 Prozent in Niedersachsen, 25,2 Prozent in Bayern und drei Prozent im Rheinland; dazu kommt noch, daß das Hereinfluten von Flüchtlingen aus der sowjetischen Zone weiterhin anhält. Das erste Programm für diese innerdeutsche Verlegung war für 300.000 Flüchtlinge bereits 1949 fertiggestellt. Bevor diese Zahl jedoch erreicht werden konnte, war bereits ein zweites Programm für eine Verlegung von weiteren 600.000 Personen entwickelt. Das Ergebnis war,' daß bis Ende 1952 beinahe eine halbe Million Personen ihren Aufenthalt veränderten und weitere 250.000 im Laufe des Jahres

1953 umgesiedelt werden sollten. Bis Ende 1954 sollen auf diese Art insgesamt 900.000 Menschen in die Bundesländer gelangen. Die Durchführung dieses Programms machte den Bau von ungefähr 250.000 neuen Wohnungen notwendig, was ungefähr 1,6 Milliarden D-Mark oder 380 Millionen Dollar erforderte. Parallel mit diesen durch die Behörden gelenkten Bewegungen lief auch eine durch Privatinitiative gelenkte, die zahlenmäßig noch über die staatliche Bewegung hinausging. Trotz dieser Anstrengung ist Deutschland nicht stark genug, dieses internationale Problem allein zu erledigen. Es muß also die Auswanderung herangezogen werden.

50 konnten im Einvernehmen der Bundesrepublik mit dem „Zwischenstaatlichen Komitee für Europäische Auswanderung“ (I. C. E. M.) über 50 Prozent der durch das Komitee während der letzten 12 Monate aus Europa transportierten Personen aus Deutschland genommen werden, das Programm für 1953 sieht wieder ungefähr 30 Prozent Auswanderer aus Deutschland vor. Damit wird in der Westdeutschen Bundesrepublik die Lösung der Flüchtlingsfrage in einem gesunden Einvernehmen zwischen Ansiedlung und Umsiedlung gesucht — und gefunden.

Griechenland weist bei einer Einwohnerzahl von 1,9 Millionen eine Dichte von 60 Menschen pro Quadratkilometer amf. Der jährliche Bevölkerungswachstumskoeffi-

„Die Furche“ zLent wird für die Zeit von 1948 bis 1953 auf 12 Prozent errechnet. Der Bevölkerugs-zuwachs für Personen im arbeitsfähigen Alter ist noch größer und wird auf 16 Prozent geschätzt. Der augenblickliche, durch den Bevölkerungsüberschuß ausgeübte Druck zwingt das Land, in den nächsten Jahren mindestens 30.000 Menschen jährlich auszusiedeln.

Italien hat bei einer Einwohnerzahl von 46 Millionen eine Dichte von sogar rund 153 Personen pro Quadratkilometer. Dadurch sind gegenwärtig bereits gegen drei Millionen Einwohner auswanderungsbereit.

In Oesterreich leben gegenwärtig 195.000 Volksdeutsche, 24.500 Reichsdeutsche, 43.000 fremdsprachige DPs, wozu noch über 250.000 Neueingebürgerte kommen. Bei einer Einwohnerzahl von 7,1 Millionen ergibt sich eine Dichte von etwa 85 Personen pro Quadratkilometer. Man rechnet, daß im Jahre 1953 rund 5000 bis 6000 Flüchtlinge und Einheimische auswandern werden, vorwiegend nach Kanada, Brasilien, Australien und kleineren südamerikanischen Staaten. In dem amerikanischen Einwanderungsgesetz entfällt auf Oesterreich eine Quote von 20.000 Personen, die innerhalb der nächsten drei Jahre nach USA einwandern können, und zwar 8000 fremdsprachige DPs und 12.000 Volksdeutsche. Mit dem Beginn der Aktion kann auf Grund vorsichtiger Schätzung anfangs des Jahres 1954 gerechnet werden.

Vollkommen anders liegen die Verhältnisse in den Einwanderungsländern. Die Einwohnerzahl Australiens ist beispielsweise gleich mit derjenigen Oesterreichs, so daß in Australien nur ein Mensch auf einem Quadratkilometer wohnt. In den Jahren 1947 bis 1952 wurden hier rund 720.000 Menschen aufgenommen. Vorübergehend wurde im Jahre 1952 die Einwanderung gestoppt, da das Land die Masse der Eingewanderten erst wirtschaftlich verdauen mußte und eine Arbeitslosigkeit von rund 30.000 Menschen hatte. Verhandlungen über weitere Familienzusammenführungsaktionen und auch Einwanderungsaktionen aus Oesterreich stehen vor dem Abschluß.

Mit seinen 8,511.189 Quadratkilometern ist Brasilien lOOmal größer als Oesterreich und 22mal größer als Deutschland. 48 Millionen Einwohner ergeben eine Dichte von weniger als 6 Menschen auf den Quadratkilometer.

Bisher sind nach Brasilien rund 5 Millionen Europäer eingewandert. Brasilien braucht Einwanderer, um seine Landwirtschaft und Industrie vergrößern zu können. Im Jahre 1920 waren erst gegen 650.000 Personen an der landwirtschaftlichen Erzeugung beteiligt, im Jahre 1940 waren es bereits zwei Millionen. Der Wert der brasilianischen Industrieprodukte ist in weniger als zehn Jahren von acht Milliarden Cruzeiros (3 Cr. = 2 ö. S) auf 27 Milliarden Cruzeiros gestiegen, ein Beweis des wirtschaftlichen Aufschwunges. Die Bevölkerung Brasiliens wächst doppelt so schnell, als die landwirtschaftlichen Erzeugnisse gesteigert werden können, da bloß 4,5 Prozent des Gesamtbodens bebaut sind. Somit bleibt Brasilien auch weiterhin für Einwanderungen überaus aufnahmefähig. Innerhalb der Jahre 1947 bis 1952 allein wanderten gegen 200.000 Menschen nach Brasilien ein.

Nur 14 Millionen wohnen in dem fast zehn Millionen Quadratkilometer großen K a n a-d a, so daß wir eine Dichte von etwas mehr als einem Menschen auf einen Quadratkilometer haben. In den Jahren 1947 bis 1952 wanderten rund 700.000 Menschen ein. Aus Oesterreich wanderten in der ersten Hälfte des Jahres 1953 2000 Menschen aller Berufsgruppen nach Kanada ein. Auch dieses Land ist weiterhin aufnahmefähig.

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben bei einer Einwohnerzahl von 150 Millionen Menschen eine Dichte von immerhin 19 Personen auf den Quadratkilometer. Trotzdem sind die USA das Land, das die Einwanderung größtmöglich förderte und auch noch weiterhin fördern wird. Insgesamt wanderten zwischen 1947 und 1952 gegen 720.000 Menschen nach den USA ein. Gegenwärtig ist wieder ein Gesetz genehmigt, das eine Einwanderung von 214.000 Personen aus Europa innerhalb von drei Jahren vorsieht. Der Beginn dieser Aktion sowie der Umfang des Personenkreises steht allerdings noch nicht fest.

Mehr oder minder ähnlich günstig liegen die Verhältnisse in den anderen Einwanderungsländern, wie Argentinien, Chile, Kostarika, Paraguay, Venezuela.

Aus dieser Zusammenstellung ist die schwierige Lage Oesterreichs und auch die große Leistung des Staates bei den laufenden Ansiedlungs- und Einbaumaßnahmen ersichtlich, besonders wenn die verschiedenen Bevölkerungsdichten zum Vergleich herangezogen werden. Im besonderen sei hier hervorgehoben, daß beispielsweise Staaten, die eine wesentlich größere Fläche und geringere Bevölkerungsdichte aufzuweisen haben, sich trotzdem gegen eine Einwanderung zeitweise abschließen, um den Einbau der Neuankömmlinge in geregelte Bahnen zu lenken, während Oesterreich infolge der geographischen Lage keine Möglichkeit hat, sich mit den zeitlichen Einbaumaßnahmen zu befassen, sondern laufend unter wirtschaftlichem Druck steht. Um so mehr müssen seine ehrlichen Bemühungen anerkannt werden, dieser schwierigen Lage Herr zu werden und sie möglichst menschlich und in nicht allzuweiter Ferne zu lösen.

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