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Ende des Repertoire-Theaters?

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München, im Jänner 1958

Der klassische Spielplan des deutschsprachigen Theaters ist der Repertoire-Spielplan. Er bietet uns geistige Vielfalt und die Möglichkeit, aus einem Wochen- oder Monatsprogramm auszuwählen, wonach uns der Sinn steht. Das Ausland, insbesondere die romanischen Länder, beneidet die deutschsprachigen Länder um diese Form des Theaters. Schon in Orten wie Turin oder Marseille (Städten also von der Größe Kölns) kann man vier Wochen lang vielleicht nur ein halbseidenes Boulevardstück und ein Volksstück sehen, gleichzeitig aber nichts anderes. Welchen Reichtum dagegen präsentieren vergleichsweise Städte aiit nur einem Zehntel an Einwohnern, wie Göttingen. Luzern oder Klagenfurt! Doch eben dieses deutsche Repertoire-Theater ist in Gefahr. In den großen Theaterorten noch mehr als in der Provinz. Die Eingeweihten wissen das schon lange. Jetzt aber weiß es auch die Oeffentlich-keit. Denn vor kurzem trat in München der Intendant des Bayrischen Staatsschauspiels, Kurt Hor-witz, von seinem Amt zurück. Nicht wegen irgendwelcher persönlichen Differenzen, sondern aus Protest gegen die gegenwärtige Situation der großen deutschsprachigen Schauspielbühnen. Er tat es, obwohl ihm der bayrische Staat Zusatzsubventionen ab 1958 zusagte und obwohl ihm selbst ein günstiger Pensionsvertrag angeboten wurde.

Daß diese Demonstration in München geschah, ist zwar kein Zufall; denn die Schwierigkeiten, einen respektablen Repertoire-Spielplan aufrechtzuerhalten, sind dort noch größer als anderswo. Horwitz und sein Kollege von den Kammerspielen. Hans Schweikart, können Star-Gastspielern zum Beispiel nur halb soviel zahlen wie einige andere namhafte deutsche Bühnen. In keiner Stadt ist dazu noch die gleichzeitige Verlockung zu Filmarbeit mit zehn- bis fünfzehnfacher Gage so groß wie in München. Dennoch, die Schwierigkeiten sind auch an allen anderen großen deutschen Bühnen unverkennbar. Und was das Schlimmste ist: sie wachsen permanent!

Der Theaterfreund, der von all dem vor der Rampe

kaum etwas wahrgenommen hat, fragt nun etwas hilflos, aber besorgt: Wer hat Schuld an dieser Situation, und wie kann der Krise abgeholfen werden? Das Vertrackte an der Sache ist jedoch, daß es weder einen Alleinschuldigen noch ein Allheilmittel gibt. Die Intendanten befinden sich an verschiedenen Fronten in der Defensive. Ein Repertoire-Spielplan ist nur möglich mit einem festen Ensemble und mit Ensemblegeist. Die bekanntesten und gesuchtesten Darsteller gehen immer seltener langfristige Bindungen an die Bühnen ein. Sie verdienen mehr und ernten mehr Starruhm, wenn sie heute hier filmen, morgen dort in einem Reißer gastieren und dann wieder irgendwo im Fernsehen wirken. Die besten Schauspieler verpflichten sich daher nur noch auf einige Wochen oder Monate an eine und dieselbe Bühne. Die Gestaltung des Spielplans ist daher für die Verantwortlichen keineswegs nur mehr ein künstlerischer Vorgang, sondern eine Art Fahrplankonferenz für luftreisende Bühnenstars. Aber das Repertoire-Theater schlägt sich noch an anderen Fronten mit nur geringen Aussichten Da kompliziert die Zunahme der Gastregie-Aufführungen die Besetzungspläne wegen der Sonderwünsche dieser Gäste. Die Abonnenten wirken zunehmend auf den Spielplan ein. Die Gewerkschaften drängen auf verkürzte Arbeitszeit, gleichviel ob dies im Einzelfall künstlerische Katastrophen zur Folge hat. Und so weiter und so fort!

Alles in allem: die Schuld ist quas! eine Kollektivschuld aller Beteiligten. Und Abhilfe müssen ebenfalls alle Beteiligten zu schaffen suchen, indem sie der gewiß guten Tradition mehr zu opfern bereit sind, als es private Freiheit, der Wunsch nach hohen Gagen oder gewerkschaftliche Parolen usw zulassen. Kommt die Krise nicht zum Stillstand, so werden wir eines Tages d=s zweifelhafte Glück haben, in den großen Theatern hier einmal einen Monat lang „Charleys Tante“ und nichts anderes, und dort einmal zwei Wochen lang den „Götz von Berlichingen“, aber nichts anderes, vorgesetzt bekommen. Darnach aber, meinen wir, steht uns nicht der Sinn.

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