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Englands Buchhandel hat es besser…

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Nicht von den größten Absatzmärkten der Welt, die dem englischen Buchhandel offen stehen, soll hier gesprochen werden (Australien, Kanada, Südafrika und USA bringen dem englischen Verleger und Fachbuchhändler 40 Prozent ihres Umsatzes); auch nicht von der erfreulichen Tatsache, daß.es in England noch einen finanziell und geistig gesicherten Mittelstand als Hauptleserschichte gibt, der sich in Mitteleuropa nach dem sozialen Strukturwandel erst wieder neu bilden muß. Hier sollen nur einige Streiflichter fallen auf die stetigen Leistungen, die auf diesen günstigen Voraussetzungen aufbauen und aus denen ein programmatisches Planen spricht.

Der Jahresumsatz der englischen Verleger ist von 15 Millionen Pfund vor dem Krieg auf 45 Millionen im Jahr 1953 gestiegen (wobei der durchschnittliche Ladenpreis seit damals nur um etwa 60 Prozent gestiegen ist) und ist weiter im Steigen begriffen. Wodurch gelingt es den Engländern, sogar in politisch labilen Zeiten, die Stellung des Buches als Gebrauchsartikel — und nicht wie andersw'o als Geschenks- oder Einrichtungsgegenstand — zu bewahren und zu stärken? Befragt nach' den Ursachen dieser Aufwärtsbewegung, sind sich alle Stellen einig, daß der Hauptanteil daran der jahrzehntelangen systematischen Erziehungsarbeit zu danken ist. Diese Erziehungsarbeit beginnt in den englischen Schulen und setzt sich im ganzen öffentlichen Leben fort, wo — sehr oft von privater Seite — große volksbildnerische Leistungen vollbracht werden. Englands große Dichter und Schriftsteller halten sich nicht in einem elfenbeinernen Turm auf, sondern nehmen zu den Fragen des öffentlichen Lebens oftmals temperamentvoll Stellung und schalten sich sogar als Verlagsdirektoren in den literarischen Produktionsapparat ein (z. B. T. S. Eliot. Graham Greene. Herbert Read usw.). Dadurch ist ein lebendiger Kontakt von Produzent und Konsument gewährleistet.

Schon die hochentwickelte Jugendbuchproduktion, die von keiner staatlichen oder pädagogischen Zentralstelle gelenkt wird, ist kommerziell sehr erfolgreich. 1953 wurden rund 1600 neue Kinder- und Jugendbücher produziert und verkauft (etwa "00 Titel mehr als im gleichen Jahr in den L'SA). In dieser Zahl sind auch die englischen Belohnungsbücher enthalten, die — ein eigener Buchtyp in großen Mengen den Schülern zur Aneiferung geschenkt werden.

Die größten Verdienste um die -Förderung des guten Buches haben jedoch einige, teils typisch englische Organisationsformen, die hier kurz erwähnt werden sollen:

1. Die National Book League, eine gemeinnützige Gesellschaft, die als Klub für berufliche und außerberufliche Buchinteressenten von 12.000 Mitgliedern erhalten wird. Sie bietet ihren Mitgliedern außer dem Londoner Klubleben und •iner Zeitschrift ein vorzügliches Informationsbüro, in dem täglich durchschnittlich 50 Anfragen von einfachen bibliographischen Suchanzeigen der Buchhändler bis au den kompliziertesten Fragen der Dokumentation, z. B. über Bücher seltener Fabrikationsvorgänge von Lieberseefirmen, beantwortet werden. Die zweite wichtige Aktivität der National Book League besteht in der Organisation von Wanderbuchausstellungen für Stadt und Land. Nicht nur bibliophile Sonderschauen werden veranstaltet, sondern auch eine Zusammenstellung der besten 1000 Bücher des Jahres, die — ausgewählt von Experten, geliehen von Verlegern — in Schuten und Gemeinden des ganzen Landes gezeigt werden. Jährlich veranstaltet die National Book League einen repräsentativen Vortrag in Londons größter Konzerthalle, bei dem Männer wie T. S. Eliot oder Bertrand Russel es sich zur Ehre anrechnen, zu sprechen. Diese die Beziehung zum Buch behandelnden Vorträge werden von der gesamten englischen Presse stark beachtet und kommentiert;

S. die Book-Society, eine mit rein geistigem Prestige wirkende Buchgemeinschaft, die ihren Mitgliedern keine preisliche! Begünstigung zuteil w-erden läßt. Die Mitglieder erhalten ihre Bücher durch Wahl und Beratung eines Komitees be-'rühmter Männer der Geisteswelt vermittelt;

. 3. das enge Netz der Oeffentlichen Büchereien, die von den Gemeinden erhalten, von den Gemeindeangehörigen eifrig benützt werden. Man kann Mitglied seiner Heimatgemeindebibliothek oder der seiner Arbeitsplatzgemeinde sein. In den Vorortezügen, Untergrundbahnen, Autobussen sieht man kaum einen Menschen am Weg zur oder von der Arbeit ohne Buch;

4. neben den Oeffentlichen Büchereien kommt den Leihbüchereien größte Bedeutung zu. Die Leihbücherei des Kaufhauses Harrods in London z. B. kauft von gängigen Titeln bis zu 1500 Exemplare, um ihre Kunden befriedigen zu können. Neben einer sehr großen Zahl von Ein- Mann-Betrieben mit individuellster Kundenberatung führen etwa 500 Filialen der Boots-Drogerien in ganz Großbritannien Leihbüchereien, die den Vorteil haben, daß man ein in Südengland entliehenes Buch in Nordschottland tauschen kann. Florence Boots, die Urheberin der Idee. Kunden für Seifen und Medikamente auch als Leser anzusprechen, gilt als eine der genialsten Frauen des englischen Buchhandels;

5. der jüngste große Erzieher zum guten Ruch ist Sir Allan Lane mit seinen 1935 gegründeten

Penguin-Books, der seither vom billigen Nachdruckroman seine Tätigkeit auf billige Erstausgaben an schöner Literatur, Fachbüchern, Kunstbüchern und Puffin-Kinderbüchern erweitert hat. Penguin bringt jährlich etwa 250 Titel, verkauft von einem verhältnismäßig kleinen Haus in der Nähe Londons wöchentlich etwa 250.000 Bücher an die Buchhändler der ganzen'Welt. Werbemäßig konnte er es sich leisten, sein Propagandabudget wesentlich einzuschränken. Früher versandte er kostenlos hunderttausende Prospekte, jetzt beschränkt er sich darauf, nur noch 50.000 Bücherlisten an die englischen Schulen zu senden, an denen es Penguin-Clubs gibt — Leser von heute, aber vor allem von morgen;

6. einen besonderen Anreiz bilden diejenigen tnglischen Buchhandlungen, die nicht als Verkaufsraum mit einem Ladentisch, der Käufer und Verkäufer in zwei Lager teilt, eingerichtet sind, sondern als Bibliothek, als Ausstellungsraum, in dem der Lesehungrige frei umherschweift, auf Wunsch beraten wird, aber sonst niemals durch eine Frage in seiner persönlichen Freiheit beschränkt wird.

Einen bedeutenden Anteil an dieser Erziehung»-

arbeit leistet die englische Presse, in der die ganze Skala des literarischen Lebens, von der ausführlichen Betrachtung der esoterischen Dichtung bis zu kalkulatorischen Erwägungen der Buchproduktion, dem Publikum unermüdlich vorgetragen wird, da mit Leserbriefen immer aktiv in die Diskussion eingreift. In den letzten Monaten beschäftigte sich z. B. die „Times" mit den Problemen der Autorenhonorare, wobei so ziemlich alles, was in England mit dieser Frage zu tun hat, zur Feder griff. Durch diese systematische Infiltration des Alltags mit.literarischen Problemen wurde die Stellung des Buches als Gebrauchsartikel in England allmählich zur Selbstverständlichkeit.

Diese kleinen Hinweise auf Englands buchfördernde Aktivitäten scheinen uns gerade jetzt aktuell, wo es der deutschsprachige Verlegerstand wie alljährlich unternimmt, seine gigantische Produktion auf der Frankfurter Buchmesse den Interessenten aus aller Welt zu zeigen. Steht in den deutschsprachigen Ländern der imponierenden Stoßkraft auf dem Gebiet der Buchproduktion ein ebensolcher Impetus, oder besser noch, eine stetig wirkende, planende Kraft zur Erziehung neuer Leserschichten gegenüber?

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