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Englands grofe Entscheidung

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In England ist die allgemeine Wehrpflicht eingeführt worden. Seit Kriegsende hat der „man in the street“, der einfache, Engländer, das Staunen verlernt. Eine Welt, die er bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges für festgefügt hielt, ist aus den Fugen gegangen. Innenpolitisch sieht er sich einer sozialen und wirtschaftlichen Umschichtung gegenüber, von der er noch nicht weiß, ob sie — wie die Labour-Regierung sagt — zu neuer Freiheit führen wird oder, wie die Opposition behauptet, in ein für England noch nie dagewesenes Maß der Diktatur des Staates. Noch augenscheinlicher tritt ihm diese Veränderung in der Stellung des Imperiums entgegen. Die Meerbeherrschung Albions ist eine Phrase der Dichter und eine stolze Erinnerung an die Vergangenheit geworden. 1947 ging die britfsche Fahne am Kasr von Kairo nieder, 1948 soll sich dieses Schauspiel am Palast des Vizekönigs von Indien in Neu-Delhi vollziehen. Und 1949?

Auf viele unbeantwortete schicksalschwere Fagen antwortete die englische Regierung dem Parlament mit der Einbringung eines Gesetzes zur Einführung der dauernden allgemeinen Wehrpflicht. Historisch und politisch ein Schritt von sehr großer Tragweite. In der Organisation seiner Wehrkraft ist Großbritannien immer seine, eigenen Wege gegangen. Hatten die Festlandsstaaten Europas große Volksfriedensarmeen unterhalten, untermauerte England seine imperiale Stellung durch die überwältigende Stärke seiner Flotte. Kleine Verbände der Landmacht über das ganze Empire verstreut, lebten, unabhängig von der Zentralstelle, ihr Eigenleben und erleichterten es einer ausgezeichneten Verwaltung, riesige Gebiete mit einem Minimum an Menschen zu beherrschen. Die Abneigung, dem König oder dem Parlament das gewaltige Machtmittel einer Armee in die Hand zu geben, war seit dem Cromwell-Abenteuer allgemein. So mußte Wilhelm III. seine holländischen Garden, die für ihn gekämpft hatten, nach Hause schicken.' Im amerikanischen Kriege kaufte England hessische Truppen, und Wellington hatte bei Belle Alliance mehr Hannoveraner als Engländer unter seinem Kommando. Noch 1913 beherrschten die Engländer Indiens 316 Millionen Menschen nur mit Hilfe von 53.000 Mann Infanterie, 5616 Mann Kavallerie und 11.989 Mann Artillerie.

Schon die Schlachten des ersten Weltkrieges versetzten dieser Nur-Flottenpolitik einen Stoß. So liegt vielleicht der Ursprung des jetzigen Wehrpflichtgesetzes in den Schicksalen des englischen regulären Expeditionsheeres bei Ypern, Möns und Lange-marck begründet. Damals war England gezwungen, wenigstens auf Kriegsdauer durch Feldmarschall Kitchener die allgemeine Wehrpflicht durchführen zu lassen. Der Friede aber sah die Engländer nur zu gern auf diese Neuerung verzichten. Das alte System der kleinen Berufsarmee und der mehr sportlich als soldatisch eingestellten Territorialarmy wurde wieder eingeführt “Der zweite Stoß, den aber das Prinzip erlitt, war tödlich. Als die deutschen Panzer durch die Straßen von Dünkirchen rollten, mußten diese vortrefflichen alten „Regu-lars“ und „Colonials“ kämpfen, bis ihnen das Wasser zum Hals ging, um wenigstens den Großteil des Expeditionsheeres zu retten. In England aber betete das Volk, predigte ein Churchill, damit dem Wunder an der Marne des ersten Krieges das Wunder am Kanal im zweiten folge. Die Freiheit der Welt stand zufolge des Mangels einer englischen Armee durch Monate auf tönernen Füßen. England aber erkannte, daß die Tage der Wunder gezählt sind# und daß ein dritter Schock nicht nur die Armee, sondern auch England kosten könnte.

Das weiß die Regierung und die Volksvertretung, und deshalb die Einbringung des Gesetzes. Um dem englischen Staatsbürger alles Störende wegzuräumen, wurde das Gesetz unter dem Titel „Nationales Dienstgesetz“ und nicht als „Gesetz zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht“ vorgeschlagen. Um jeden einzelnen Satz der Gesetzesvorlage mußte die Regierung im Parlament ringen. Es ist schwierig, aus dem Wust von Entwürfen, Zusatzanträgen, Anfragen, Amendements die wichtigsten Punkte herauszukristallisieren. Durch die Opposition in den Reihen der eigenen Partei mußte die Regierung die Dauer der Dienstpflicht von 18 auf 12 Monate herabsetzen, dienstverpflichtet ist aber jeder vom 18. bis zum 26. Lebensjahr. Nur eine einzige Klasse ist vom Militärdienst befreit: die Minenarbeiter, die in den Kohlengruben unter .Tag arbeiten. Hier zeigt sich schon ein Ansatz zu dem Dilemma zwischen Wehrkraft und Arbeitskraft, das sich in England in diesem Katastrophenwinter als ein äußerst schwerwiegendes Problem zeigte. Für grundsätzliche Kriegsdienstverweigerer wird ein nationaler Zivildienst oder eine Einberufung zu den nichtkämpfenden Truppenteilen erwogen. Vorläufig erhält das Gesetz eine fünfjährige Gültigkeitsdauer.

In diesen aufregenden Tagen, in diesem Trubel der gegensätzlichen Meinungen, bestätigte das House of Commons wieder seine Musterhaftigkeit. Der Geist gewaltiger parlamentarischer Vergangenheit, der Geist der Pitt, Beaconfield, Palmerston schwebte über dem Haus, So wie diese es getan hatten, führten die Minister Isaak und Alexander die Regierungspartei in das scharfe Treffen. In diesem traditionellen Geiste hielt Winston Churchill seine Rede, in der er für das Gemeinwohl Englands der Labour-Party die Unterstützung der Opposition zusagte. Die schärfste Ablehnung kam von der sogenannten „Rebellengruppe“ des Labour-Lagers. Der Bogen der Gegensätze war weit gespannt. Eine weibliche Abgeordnete griff das Gesetz als Defaitismus am Frieden an. Eine Kollegin aus der gleichen Partei verteidigte es leidenschaftlich und wollte es auch auf die Frauen ausgedehnt wissen, 70 bis 80 Abgeordnete aller Richtungen meldeten sich manchmal gleichzeitig beim Speaker zum Wort. Den Sieg der Regierung besiegelte die Stellungnahme eines der gefürchtetsten „Rebellen“ und Antagonisten Bevins in der Labour-Party, C r o s s-m a n, der zum großen Erstaunen aller die „Conscription Bill“ unterstützte. Wie er selbst sagte, schöpfte er seine Einstellung aus den Antworten der Sozialisten in Wien, Paris und Prag vor Ausbruch des Krieges und der bitteren Kritik an Englands Schuld infolge der gesdiehenen Abrüstung. So fiel bei der Abstimmung die Entscheidung mit 386 Stimmen für und 85 Stimmen gegen das Gesetz.

England hat den Rubikon überschritten, die allgemeine Wehrpflicht wird Gesetzeskraft erhalten. Die bunten Werbeplakate zum Eintritt in die Armee, die den Ausländern in den Straßen Londons Staunen ablockten, werden wohl verschwinden. Vielleicht wird die Rivalität unter den Dienstzweigen noch die Schlagzeilen belassen, wie „Komm und reise mit der Flotte“, „Die Panzerwaffe wird einen Mann aus dir machen“. England ist aber in einer Veränderung begriffen, in der diese Schlagworte den Geist der rauhen Wirklichkeit nicht ausdrücken. Dünkirchen, Fliegerbomben und V-Waffen haben eine geschichtliche Wendung begründet!, ihre Befürworter versichern, daß diese Wendung kein Widerspruch ist, wenn die Menschheit von dem neuen Zeitalter das Gesdienk eines Dauerfriedens erwartet.

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