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Englands Labour-Party

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Die Reibungslosigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der die Labour-Party in England die Macht ergriff, hat weithin Erstaunen hervorgerufen. Wenn auch der Versuch der nationalsozialistischen Propaganda, die Labour-Party als radikale Umsturzpartei hinzustellen, außerhalb eines kleinen Kreises von Gläubigen kaum Erfolg hatte, so horchte doch die Welt auf, als ein Mann wie Churchill der Labour-Party die Absicht zuschrieb, das traditionelle politische System Englands zu zerstören. Obwohl die englische Wählerschaft gegen Churchill entschieden hat, war es doch für die Labour-Party wichtig, durch Tat und Geste zu beweisen, daß sie eine Reformpartei im Sinne der englischen Tradition sei und nicht eine nach Umsturz lüsterne Gruppe. Die Konservativen aber bemühten sich“ ihrerseits, nach der Wahl ihre Achtung vor dem Mehrheitswillen zu bekunden.

So sehen wir in England das Schauspiel, daß Reformen, die einmal von der öffentlichen Meinung als notwendig erkannt worden sind, auf dem von der Mehrheit gewünschten Wege der Gesetzmäßigkeit durchgeführt werden, während die Minderheit kaum den' Versuch macht, sie ernstlich darin zu stören.

Will man dieses Phänomen verstehen, so muß man sich klarmachen, daß die englische Arbeiterpartei trotz ihrem Namen nicht den Anspruch erhebt, ausschließlich die Partei des britischen Proletariats zu sein, sondern sich als nationale Partei fühlt, wie schon ein österreichischer Sozialist vor 15 Jahren, als in England das sogenannte zweite Labour-Kabinett im Amt war, es formulierte: „Hier regiert eine Arbeiterpartei, die alles, was sie tut, im. Namen der .Nation', des Volksganzen, tut. Aber nicht nur die Regierungstätigkeit; die ganze Propaganda der englischen Arbeiterpartei ist darauf eingestellt, sich als die wahre Vertreterin der wirklichen Interessen des englischen Volkes zu betrachten, die Partei mit dem Volksganzen zu identifizieren... Man kann ruhig behaupten, daß, wenn die Arbeiterpartei diese Ideologie aufgäbe und anfinge, sich bloß als Vertreterin einer einzigen Klasse vorzustellen, sie dies zahllose Anhänger kosten würde — auch unter den englischen Arbeitern.“ — Dieser richtig gesehene Charakter der Läbour-Party hat sich seither eher noch verstärkt. Durch die Selbstverständlichkeit, mit der die Arbeiterpartei alles tat, um im Koalitionskabinett Churchill den Sieg der Lebensform zu sichern, die allen Engländern das Leben erst lebenswert macht, hat sie ihren Patriotismus über jeden Zweifel erhoben. Nichts von dem, was man nach dem ersten Weltkrieg glaubte, manchen ihrer Führer vorwerfen zu können: der dokri-näre Pazifismus, die Propaganda für die Kriegsdienstverweigerung, war in diesem Kriege vorgekommen. Um so rascher gewannen ihre Ideen einer radikalen Reform der englischen Sozialordnung Boden in den Köpfen der Daheimgebliebenen und der Frontkämpfer. Das furchtbare Kriegserlebnis machte dem Durchschnittsengländer vieles problematisch, worüber er früher nicht nachgedacht hatte. Die durch die allgemeine Dienst- und Arbeitspflicht herbeigeführte Begegnung verschiedener Bevölkerungsschichten, die in England schroffer als auf dem Kontinent abgesondert waren, die Bewährung der Planwirtschaft, im Kriegseinsatz, das Unvermögen mancher privat betriebener Wirtschaftszweige, wie der Kohlenproduk-

tion, den Anforderungen des Krieges gerecht zu werden, dies alles machte viele Engländer, die nicht zur Arbeiterschaft gehörten, hellhörig für die Forderungen der Labour-Party.

Dabei kam es dieser natürlich sehr zustatten, daß es ihr möglich war, an alle Engländer guten Glaubens zu appellieren. Im Gegensatz zu den sozialistischen Parteien des Kontinents, die schon bei ihrer Entstellung sogleich den Marxismus zur dogmatischen Grundlage machten — der Marxismus war hier eben der Arbeiterbewegung beinahe zeitlich vorangegangen —, hat sich die Labour-Party von jedem Doktrinarismus freizuhalten gewußt. In England traf der entstehende Marxismus auf eine Arbeiterschaft, die schon manche Reformen erkämpft hatte, in der Frühzeit oft mit der Drohung von Gewaltanwendung, erfolgreich aber immer nur dann, wenn ihre Forderungen die Unterstützung des sozial fortschrittlichen Teiles des Bürgertums fanden.

Schon in ihren frühesten Kämpfen um die politische Gleichstellung, von der sie sich mit Recht die Besserung ihrer furchtbaren Lage , versprach, in die sie während der Napoleonischen Kriege und in der schrecklichen Wirtschaftsdepression, die diesen Kriegen folgte, geraten war, fand die Arbeiterschaft Führer in bürgerlichen Unternehmern und Politikern, wie Owen und Cobbett. Aber nicht auf einzelne „Überläufer“ beschränkte sich die Sympathie des Bürgertums, der starke Sinn für das Recht, der seit langem im englischen Volke ausgebildet war, kam zum Ausbruch, als die reaktionäre Regierung Liverpool-Castlereagh Arbeiter, die Gewalttaten begangen hatten, statt wegen Aufruhrs, wegen Hochverrats anklagte, um durch Todesurteile die Arbeiter einschüchtern zu können. Eine Jury nach der anderen sprach die Angeklagten frei. Ebenso deutlich antwortete das Rechtsgefühl weiter bürgerlicher Kreise, als 1819 unfähige Beamte ein Blutbad auf dem Peterloo-Field bei Manchester verschuldeten. Da trat ein großer Teil der öffentlichen Meinung, darunter Blätter wie die „Times“, die gewiß keine Sympathie für die radikalen Reformer hegten, für die Opfer und gegen die Regierung auf. Und wieder waren es bürgerliche Freunde der Arbeiter, wie Francis Place und Joseph Hume, die 1825 die Legalisierung' der Gewerkschaften im „nichtreformierten“, feudalen Unterhaus dieser Zeit durchsetzten. Dafür konnte 1832 die Reform, die den bürgerlichen Mittelstand für mehr als ein Jahrhundert zur herrschenden — wenn auch in Gemeinschaft mit dem alten Adel regierenden — Klasse machte, nur ertrotzt werden, weil die Drohungen mit der „roten“ Revolution im Hintergrund stand. Solange die Demokratie nicht völlig durchgeführt ist. spielt auch in England die Gewalt oder die Drohung damit die Rolle der Geburtshelferin jeden Fortschritts. Als aber bald darauf der radikale Flügel der Arbeiterschaft, der den Klassenstandpunkt betonend, jede Hilfe der bürgerlichen Radikalen ablehnte und seine Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht allein, auch er die Gewalt nicht verschmähend, in der Chartisten-Bewegung durchsetzen wollte, erhielt er eine furchtbare Lehre. In Blut und Elend brach der Aufstand zusammen.

Inzwischen entwickelten sich die reformistisch eingestellten Gewerkschaften und seit 1844 auch die Cooperative Societies (ursprünglich Konsum--später auch Produktivgenossenschaften) kräftig weiter und 1867 errangen die Arbeiter, dank der glänzenden Organisations- und Rednergabe des Bürgerlichen Bright und dank der genialen Einsicht des Konservativen Disraeli in die Forderung der Stunde, das allgemeine Wahlrecht. Wie Trevilyan, der führende Historiker des heutigen Englands, dazu sagt: „Der Sieg wurde diesmal erzielt, weil die Reformbewegung nicht wie im Chartismus auf Klassentrennung, sondern auf Klassenyer-einigung aus war. Arbeiterschaft und Mittelstand zusammen hatten gesiegt. Vergeblich beschimpften die Aristokraten Bright. Im Grunde waren sie voll Furcht, dieser alten, weisen englischen Furcht vor den Mitbürgern, sobald sie einmal in höchsten Zorn gebracht sind und die so viel zur Rettung Englands beigetragen hat, wie viele heroische Tugenden.“

Man kann leicht einsehen, daß auf eine Arbeiterschaft, die solche Erfahrungen hinter sich hatte, der erste Band von Marx'„Kapital“, der im selben Jahr erschien, in dem die englische Arbeiterschaft das Wahlrecht erhalten hatte, geringeren Eindruck machte als auf auf die machtlose, ganz auf sich selbst gestellte Arbeiterschaft des Kontinents. Gerade in seinem Ursprungsland fand der Marxismus keinen Anklang. Nicht die 1882 gegründete sozialdemokratische Vereinigung, sondern die ein Jahr später auftretende, ganz undogmatische Gesellschaft der Fabier wurde zur geistig bewegenden Kraft der bald darauf gegründeten ArbeiterparteL Diese, ursprünglich Independent Labour Party genannt, vermochte zunächst keinen Einfluß im Parlament zu gewinnen. Die Gewerkschaften, die jetzt auch die ungelernten Arbeiter umfaßten, gewannen 1891 den Londoner Dockarbeiterstreik, getragen von der Sympathie weiter bürgerlicher Kreise. Der katholische Erzbischof von Westmin-ster, Kardinal Manning, vermittelte den Friedensschluß. Die politischen Vertreter der Arbeiter saßen aber rfach wie vor auf den Bänken der Liberalen. Erst der Versuch der konservativen Regierung, eine Gerichtsentscheidung, die den Gewerkschaften praktisch Streiks unmöglich machte, nicht durch ein Gesetz unwirksam zu machen, sondern als geltendes Recht bestehen zu lassen, führte 1906 zum ersten großem Wahlerfolg der Arbeiterpartei.

Die Arbeiterpartei hat sich damals in ihrer jetzigen Form konstituiert. In ihr fanden sich die Gewerkschaften und Genossenschaften, die ihre Mitglieder kollektiv vertreten, mit der früher Independent Labour Party genannten Gruppe zusammen, die auf die Einzelmitgliedschaft ihrer Mitglieder aufgebaut ist.

Aus diesen drei Gruppen besteht die Arbeiterpartei noch heute. Dabei ist beachtenswert, daß die Einzelmitglieder zu einem großen Teil den Mittelschichten entstammen, daß sich aber unter den Intellektuellen von ihnen die meisten Marxisten befinden. Der Anteil der Marxilten ist viel geringer unter den fast durchwegs der Arbeiterschaft entstammenden Gewerkschaften und unter den, denselben Schichten entstammenden Genossenschaftsmitgliedern.

Zahlenmäßig am stärksten ist der Block der Gewerkschaften. Millionen seiner Mitglieder stehen Hunderttausende von Einzelmitgliedern der Arbeiterpartei gegenüber. Aber es zeugt für die aus Generationen gewonnene Erfahrung und Einsicht der Führer der Labour-Party, daß sie, als sie die Kandidaten für die entscheidende Wahl dieses Jahres aufstellten, in erster Linie die mittelständischen Elemente der Partei berücksichtigten. Unter den Kandidaten standen neben Gewerkschaftsführern Lehrer, Geistliche, Offiziere, Rechtsanwälte und selbst Inhaber größerer Privatunternehmungen. Nicht an das Klasseninteresse wurde appelliert, sondern an die Moral und Vernunft der ganzen Nation. Mit Stolz bezeichnete man sich gegenüber der konservativen „Klassenpartei“, die kaum einen Lohnempfänger unter ihren Kandidaten hatte, als wahre Volkspartei, und tatsächlich ist heute die Labour-Party, die unter ihren Mitgliedem höchste Offiziere, wie Feldmarschall Alexander, Abkömmlinge alter Adelsgeschlechter, wie die jetzigen Regierungsmitglieder, die Earls von Huntingdon und Listowel, Gelehrte, wie Prof. Hugh Dalton, und daneben Millionen von Arbeitern und Angehörigen des Mittelstandes zählt, wie die siegreiche Partei in den Reformzeiten des vorigen Jahrhunderts, eine Koalition von Arbeiterschaft und fortschrittlichem Bürgertum. — Dabei war das Programm der Partei entschieden sozialistisch. Die Bank von England, die Kohlengruben, die Eisenbahnen und die Schwerindustrie sollen sozialisiert werden, freilich gegen angemessene Entschädigung, so daß1 wohl die wirtschaftliche Macht der bisherigen Eigentümer, nicht aber ihr Wohlstand entscheidend geschwächt wird. Man braucht nur die Enteignungen, wie sie jetzt in Osteuropa durchgeführt werden, zu betrachten, um den Unterschied zwischen sozialer Reform und sozialer Revolution zu erkennen. Die politische Reife, auch der englischen Oberschichte, und die Tatsache, daß die Demokratie dort zur Selbstverständlichkeit geworden ist, machte dort Reformen möglich, im Gegensatze zur Entwicklung in Osteuropa, wo die Revolution die Herrenschichten'hinwegfegte. Verzicht auf Weltansiiauungskämpfe Diese politische Einsicht der Oberschicht, zusammen mit dem Verzicht auf weltanschauliche Kämpfe, sowohl bei der Arbeiterpartei wie bei den Konservativen, die Beschränkung der Auseinandersetzung auf die geforderten konkreten Reformen machen es dem glücklichen England möglich“, Stück für Stück seiner sozialen Struktur umzubauen und dabei die Tradition zu bewahren, aus der die Nation immer wieder die Kraft gewonnen hat, sich auch in aussichtslos scheinenden Lagen zu behaupten.

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