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Entschleierung der Doktrin

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„Wir müssen ... die schmerzliche Beobachtung machen, daß gerade die Menschen, die ihren Aufstieg der Gewerkschaftsbewegung zu verdanken haben, die Funktion des Unternehmers oft viel intensiver zur Durchführung bringen, als es manchmal notwendig wäre. In dem einen oder anderen Fall sind vielleicht sachliche Gründe vorhanden, aber in Dutzenden Fällen müssen wir beobachten, daß diese Leute, die aus unseren Reihen kommen, viel strenger und herzloser sind als die Unternehmer selbst.“

Wir entnehmen diese Sätze dem Organ der Gewerkschaft der Angestellten in der Privatwirtschaft „Der Privatangestellte“ (Nr. 58). Der Verfasser dieser vorwurfsvollen, an die Adresse ehemaliger Kollegen gerichteten Klage ist der Meinung, in erster Linie einem psychologischen Problem gegenüber zu stehen, dem Problem nämlich der Entartung mancher Menschen in der ungewohnten Berührung der Macht. Dieses Problem ist ohne Zweifel gegeben. Es liegt aber an der Peripherie der eigentlichen Problematik, um die es hier geht: der Neuordnung der politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse.

Wir haben die Worte des Verfassers der zitierten Zeilen mit Bedauern, aber auch mit einer gewissen Erleichterung gelesen, sind sie doch ein ernstes Anzeichen einer aufkeimenden Erkenntnis der wahren Zusammenhänge, der beginnende Durchbruch echter Einsicht durch einen Schleier verwirrter Begriffe. Die Begriffsverwirrung, welche die Problemstellung der politischen Auseinandersetzungen nicht nur in Österreich in beängstigender Weise beeinflußt, ist geschichtlich bedingt. Die Stoßrichtung der Arbeiterbewegung, die ihr Entstehen dem Sehnen der Massen nach Sicherheit, Freiheit und Gleichberechtigung verdankten, ging gegen den Kern der kapitalistischen Machtordnung: das private Verfügungsrecht über den Produktionsapparat. Der Neubau einer Gesellschaft freier Menschen schien nur möglich, wenn dieser Machtkern entscheidend getroffen wurde. Alle Wucht des gesellschaftlichen Geschehens, ganze Weltanschauungen wurden in den Dienst dieser Zielsetzung gestellt. Die Härte der Auseinandersetzungen, die bald die gesamte zivilisierte Menschheit ergriffen, ließ keine Halbheiten zu. So kam es, daß dieses Ziel, welches ja nur ein taktisches Nahziel — am Wege zu Freiheit und Gleichberechtigung — sein konnte, im Bewußtsein der Massen und ihrer Führer zu einem absoluten Ziel wurde. So kam es, daß Sicherheit, Wohlstand, Freiheit, die Verbrüderung aller Menschen mit der Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln gleichgesetzt wurde. Diese Gleichsetzung gewann abseits jeder vernünftigen Überlegung mystische Kraft. Der Zustand völliger Liquidierung des privaten Eigentums wurde als der Idealzustand sozialer Gerechtigkeit, als ein Paradies auf Erden gelehrt, empfunden und geglaubt. Die Leuchtkraft dieses Zieles, die Intensität dieses Glaubens war so stark, daß die Realität des gesellschaftlichen Seins mehr und mehr aus dem Blickfeld versank. Wo immer aber diese Realität nach ihrem Recht verlangt, wurde und wird sie durch betäubende Propaganda erstickt.

Der Kampf der Arbeiterschaft war in seinen Anfängen gegen Machtballungen und Machtmißbrauch gerichtet. Freiheit und Sicherheit ergänzen einander, da die äußerste Unsicherheit aus der Willkür unkontrollierbarer, unverantwortlicher Potentaten kommt. Darum ist es unrichtig, Freiheit und Sicherheit einander entgegenzusetzen. Die Unsicherheit völlig abhängiger Massen hat im Gegenteil deren Drängen nach Freiheit, nach Mitbestimmung und Mitverantwortung erst geweckt. Wohl kann rücksichtslose und raffinierte Machttechnik das Aufbäumen der Massen hindern, so wie ein starker Damm die anschwellenden Fluten hemmt. Einmal aber kommt der Tag, an dem die Dämme brechen, wenn das Sehnen nach der Sicherheit, welche nur die Freiheit gibt, übermächtig geworden ist.

Eine der Realitäten des gesellschaftlichen Seins ist die Tatsache, daß in der arbeits- und funktionsteiligen Gesellschaft die Verfügung über die Produktionsmittel von irgend jemandem ausgeübt wird — man mag ihn Unternehmer, Kommissar oder Manager nennen. Die romantischen Vorstellungen einer gemeinschaftlichen Verfügung sind irreal. Darüber hinaus sind sie gefährlich, weil sie die Illusion einer gemeinschaftlichen Verfügung auch dort wachhalten, wo die tatsächliche Verfügungsmacht in den Händen einzelner Personen oder verhältnismäßig kleiner Gruppen liegt. Was kann schon der kleine Arbeiter an eigenem Willen dem Industriemagnaten entgegensetzen, der zehn oder hundert verstaatlichte Betriebe in seinen Händen vereint? Was wiegt sein „Recht“, alle paar Jahre Volksvertreter wählen zu dürfen, wenn er Tag für Tag in erdrückender Abhängigkeit von den zu wählenden Mächtigen bleibt? Für jeden, der diesen Zustand als das genaue Gegenteil dessen erkennt, wofür die Arbeiterbewegungen einstens kämpften, ist es mehr Hohn als Trost, daß diese neuen Mächtigen sich darauf berufen, Repräsentanten des Willens oder der Souveränität des Volkes zu sein. Die Worte „Sozialisierung“ und

„Demokratisierung“ haben einen guten Klang. Sie finden auch heute noch willig Gefolgschaft. Verstaatlichung bedeutet aber an sich schon zentrale Verfügungsgewalt, diese bedeutet Machtballung, und Machtballung ist genau dasjenige, was der Sozialismus einstmals erbittert bekämpfte. So hat die Magie des Wortes die Begriffe und Zielsetzungen verkehrt. Unter dem scheinheiligen Beifall jener, die es besser wissen, bauen sogar die Vorkämpfer einer freien Ordnung die letzten Zitadellen eben dieser Ordnung ab, um sie Stein für Stein den Bauherren der neuen Zwingburgen zuzutragen. Während staatliche Riesentrusts geschaffen werden, die sich jeder, auch der selbstverständlichsten öffentlichen Kontrolle entziehen, die Preise diktieren und ganze Landstriche ihrer Gewalt unterwerfen, werden die letzten Reste von Selbstverwaltung und Eigenständlichkeit zerstört. Dem Volk aber graut. Was unser Angestelltengewerkschafter spürt, ist nicht die Kälte der Herzen, sondern die kalte Härte der totalen, der entsittlichten, technisch vollendeten Macht, der wir schon einmal entronnen waren und die sich neuerlich, nunmehr in anderen Formen, mit würgendem Griff um uns zu legen droht.

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