Er nannte Stalin Seelenverderber

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Ossip Mandelstam: "Doch ich bin nicht von wölfischem Blut"

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Ossip Mandelstam: "Doch ich bin nicht von wölfischem Blut"

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Und das Wolfsjahrhundert, es springt auf mich los, doch ich bin nicht von wölfischem Blut ..." Heute gilt der Verfasser dieser Zeilen, der russisch-jüdische Dichter Ossip Mandelstam (1891-1938), als einer der größten Dichter des 20. Jahrhunderts. Das war nicht immer so. Dieser kompromisslose Mann des Wortes geriet durch ein Gedicht, in dem er Stalin einen "Verderber von Seelen und einen Bauernabschlächter" nannte, in die Fänge des kommunistischen Apparats. Er wurde denunziert, gedemütigt, in der Verbannung gesundheitlich ruiniert, in den Hunger, in die Verzweiflung getrieben. Im Dezember 1938 starb er in einem Lager bei Wladiwostok während einer "Desinfektionsmaßnahme": Die typhuskranken, von Läusen befallenen Gefangenen mussten bei Frost 40 Minuten nackt ausharren, bis ihre Lumpen geschwefelt waren. Während dieser Prozedur brach der 47-jährige Dichter tot zusammen. Eine vollständige Rehabilitierung des politisch Verfemten erfolgte erst im Jahr 1987 im Zug von Gorbatschows Glasnost-Politik. Der Schweizer Übersetzer Ralph Dutli hat jetzt zum erstenmal alle erhaltenen Briefe von Mandelstam ins Deutsche übersetzt: "Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David". Die Briefe stammen aus den Jahren von 1907 bis 1938. Sie sind an Eltern und Brüder gerichtet, an Freunde und Kollegen, an Funktionäre und an seine neun Jahre jüngere Frau Nadeschda. Ralph Dutlis Ausgabe enthält aber auch Briefe von Denunzianten, die 1938, nachdem Mandelstam nach drei Jahren Verbannung gerade wieder frei war, zu einer neuerlichen Verhaftung führten. Diese Dokumente wurden erst jüngst gefunden.

Der Übersetzer hat schließlich dem erschütternden Buch 20 Aussagen von Zeitgenossen sowie Stimmen der Nachwelt beigegeben, von denen nur eine zitiert werden soll, die seines Landsmannes Vladimir Nabokov: "Mit zu den traurigsten Fällen zählt wohl Ossip Mandelstam, ein herrlicher Dichter, der größte von allen, die in Russland unter der Sowjetherrschaft zu überleben versuchten -, der von diesem brutalen und schwachsinnigen Regime verfolgt und am Ende in einem entlegenen Konzentrationslager in den Tod getrieben wurde. Bis zuletzt ließ er, heldenmütig, nicht ab, Gedichte zu schreiben: bewunderungswürdige Zeugnisse eines sein Tiefstes und Höchstes entbindenden menschlichen Geistes."

Paris, 1907: Der 16-Jährige wird von den Eltern aus St. Petersburg zum Studium nach Frankreich geschickt, weil er ihrer Meinung nach zu weit nach links zum revolutionären Lager tendiert. Das Mittel wirkt. In Paris interessiert er sich nicht mehr für Revolutionen, sondern für Poesie. Der Vater, ein Kaufmann, ermöglicht ihm einen Studienaufenthalt in Heidelberg; er darf auch in die Schweiz und nach Italien reisen. Ein Studium im zaristischen Russland scheitert an der Dreiprozentquote für jüdische Studenten.

Nach 1910 war Mandelstam nie mehr im Westen. 28 Jahre lang sollte der europäisch und weltoffen denkende Dichter im isolierten Russland von diesen frühen Reisen zehren. Einen besonderen Platz nehmen die Briefe an seine Frau ein. 1919 hatte er sie in Kiew kennengelernt. Die Liebe zwischen den beiden war eine außerordentliche. Nadeschda kränkelte häufig, sie litt an Tuberkulose, und er schuftete für sie, damit sie auf der Krim Heilung fände. Aus jedem Brief der frühen zwanziger Jahre spricht zärtliche Sorge. Dabei erschöpfte er sich durch mühsame Übersetzerarbeit, focht Kämpfe gegen bösartige Plagiatsverleumdungen, brannte sich aus. Immer häufiger bat er Nadeschda um Rat, klammerte sich an sie. Mit kaum 40 Jahren erlitt er seinen ersten Herzanfall. Die Atemnot wurde zu seiner ständigen Begleiterin.

Kleinliche Sorgen zehrten seine Kraft auf: keine Arbeit, kein Geld, keine Wohnung. Jahrelang lebten die beiden wie Nomaden. Eine sich lösende Schuhsohle, ein zerbrochenes Fieberthermometer wurden zu Problemen. Mit 45 Jahren schrieb der Dichter an seinen Vater: "Du und ich, wir sind alte Männer und verstehen beide, wie wenig der Mensch braucht und worin überhaupt das Wesentliche liegt ... Meine Gesundheit ist derart, dass ich mit 45 Jahren die Reize eines Lebens mit 85 kennengelernt habe." Die Ironie verließ ihn, als er erkannte, dass ihn die Verantwortlichen buchstäblich aushungern wollten. 1937 schrieb er an einen Kollegen: "Ich bin ein Schatten. Mich gibt es nicht. Ich habe nur das Recht zu sterben. Mich und meine Frau treibt man in den Selbstmord." Kaum jemand wagte ihm zu helfen. Die beiden lebten in völliger Isolierung, bis er abgeholt wurde zum letzten Transport: "Die Angst ist bei uns, mit im Bund, Gefährtin du - mit breitem Mund."

Es ist wichtig und richtig, den Nachgeborenen die Gräuel des Hitler-Regimes eindringlich vor Augen zu führen. Aber es ist ebenso wichtig und richtig, die Verbrechen der Kommunisten zu enthüllen. Nicht, um ein Regime gegen das andere auszuspielen, sondern um der Wahrheit willen. Die Tatsache, dass einer riesigen Bibliothek von Studien zum Nationalsozialismus, von Augenzeugenberichten und Darstellungen von Betroffenen eine unvergleichlich geringere Zahl von Büchern über den Kommunismus gegenübersteht, gibt zu denken.

Mandelstams Briefe sind keine ideologische Auseinandersetzung mit dem damals herrschenden System. Das wäre bei den Zensurverhältnissen unmöglich gewesen. Sie sind aber ein deutliches Zeugnis gegen Inhumanität, Grausamkeit, Dummheit, ja Verkommenheit. Mandelstams hektisches, gequältes Leben, das sich in diesen Briefen spiegelt, blieb bis zuletzt der Kampf eines Menschen, der sich seine Würde nicht nehmen ließ. Der Titel der Briefausgabe stammt aus einer Liebeserklärung an seine Frau.

Ossip Mandelstam: Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David Gesammelte Briefe 1907-1938 Ammann Verlag, Zürich 2000, 496 Seiten, geb., öS 496,-/e 36,05

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