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Erdbebenmesser der Angst

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VERFOLGUNG UND ANGST IN IHREN LEIB-SEELISCHEN AUSWIRKUNGEN. Dokumente. Herausgegeben von Hans M a r c h. Erhst-Klett-Verlag, Stuttgart, 1962. 274 Seiten, 32 Abbildungen. Preis 140.40 S.

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VERFOLGUNG UND ANGST IN IHREN LEIB-SEELISCHEN AUSWIRKUNGEN. Dokumente. Herausgegeben von Hans M a r c h. Erhst-Klett-Verlag, Stuttgart, 1962. 274 Seiten, 32 Abbildungen. Preis 140.40 S.

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Angst kann töten. Angst, vor allem jahrelange, ununterbrochene Angst durch politische Verfolgung, kann ferner zu schwersten Erkrankungen führen — sowohl körperlicher wie auch seelischer Art.

Die von Hans March gesammelten Gutachten, in denen sich führende deutsche Neurologen und Psychiater mit der psychosomatischen Wirkung jahrelanger Verfolgung und Angst befassen, bringen zum Teil auch Bewegung in die erstarrten Fronten psychiatrischen Denkens. Vor allem bei der Beurteilung von Entschädigungsansprüchen galt bisher der Grundsatz, daß seelische Erlebnisse keinesfalls zu schwersten seelischen Erkrankungen führen können — jedenfalls nicht dann, wenn keine einschlägige Konstitution oder Disposition vorliegt. Heute hält eine ganze Reihe bekannter Gutachter die Entstehung traumatischer Neurosen als Folge seelischer Erlebnisse im Erwachsenenalter für möglich, ohne von konstitutionellen oder dispositionellen Voraussetzungen zu sprechen.

Zu diesem Gesinnungswandel entschloß sich ein Teil der Fachleute angesichts zahlreicher neuer Tatsachen, die, wie beispielsweise Dr. J. Cremerius, München, in einem Gutachten erklärt, nur deshalb erst heute zu Tage treten, weil „es bis zu den - Terrormaßnahmen, die in den Jahren nach 1939 begannen, derartige, die Persönlichkeit des Menschen zerstörende seelische Traumata kaum je gegeben hatte“.

Eine Feststellung, die im vorliegenden Band an Hand eines erschütternden Fall-Materials einwandfrei belegt wird. In extremen Fällen führten Verfolgung und Angst sogar zum Tod — übrigens war der plötzliche Tod als Folge einer völlig ausweglosen Situation unter dem Stichwort „Voodoo-Tod“ in der medizinischen Literatur bereits früher bekannt. Man bezeichnete mit diesem Terminus das medizinisch völlig unerklärliche Sterben von Angehörigen verschiedener Naturvölker, die irgendein Tabu übertreten haben. Wobei die irrtümliche Berührung irgendeines kultischen. Gegenstandes, den nur der Medizinmann berühren darf, zum Beispiel vollauf genügt. Die Todesstrafe wird nicht von Menschenhand vollzogen, die „beleidigten“ Götter rächen sich sozusagen selbst: Innerhalb einer kurzen Frist stirbt der Missetäter. Er stirbt, weil er überzeugt ist. sterben zu müssen. Zweimal konnten solche „Voodoo-Tote“ obduziert werden, in beiden Fällen hieß es nachher: „Ohne Befund!“

Professor Dr. A. J o r e s, Hamburg, verwendete das .Wort vom „Voodoo-Tod“ erstmals auch in einem Befund über den Tod eines Naziopfers: Der wohlhabende jüdische Geschäftsmann O., bis dahin ein kerngesunder Mensch, starb kurze Zeit nach der Wegnahme seines Geschäftes und dem Beginn der massiven Verfolgungen nach andauernden, schwersten Angstzuständen.

Professor Jores stützt sich dabei unter anderem auf eine Arbeit von E. A- C o-hen, New York: „Human Behavior in the Concentration Camp.“ Cohen stellt fest, daß beim Transport in die Lager zahlreiche Juden schon in den Waggons oder sofort nach der Ankunft gestorben sind — und daß, trotz Hunger, Durst und Enge, Krankheit beziehungsweise Entkräftung als alleinige Erklärung für ihren Tod in vielen Fällen nicht genügen. Auch er sieht die eigentliche Todesursache in der mörderischen Verbindung von Angst und absoluter Aussichtslosigkeit. Aus russischen Gefangenenlagern werden ähnliche Fälle berichtet. Demnach ist der „Voodoo-Tod“ im zwanzigsten Jahrhundert weder auf Naturvölker noch auf wenige Einzelfälle beschränkt, sondern zu einer zeitweise gehäuft auftretenden Spielart des politischen Todes geworden.

In vielen anderen Fällen führten Verfolgung und Angst zu schweren organischen Dauerschäden, diese wiederum können in vielen Fällen ebenfalls zum Tode führen. Professor Jores erklärt in seinem Gutachten zu einem einschlägigen Fall, daß grundsätzlich bei jedem Menschen alle stärkeren Gefühlserregungen zu Tonusschwankungen der Blutgefäße führen, zu Tachykardie und eventuell auch spastischen Vorgängen. Wobei sich unter, allen Gefühlserregungen Angst besonders stark auf die Gefäße auswirkt. Bei zahlreichen Menschen treten, während sie Angst empfinden, im Elektrokardiogramm Veränderungen auf, die sonst nur bei Angina pectoris beobachtet werden, nämlich eine Senkung der ST-Strecke. Die Nadel wird zum seelischen Seismographen, zum Erdbebenmesser der Angst.

Angst, die schnell vorübergeht, führt auch nicht zu länger andauernden körperlichen Folgen. Dauernde Angst hingegen untergräbt die Gesundheit. Und zwar wirkt sich, im Gegensatz zu den noch vor wenigen Jahren geltenden Ansichten der Schulmedizin, gerade die mehr oder weniger „unterschwellig“, dafür aber auf lange Zeit hinaus wirkende Angst gesundheitlich besonders katastrophal aus. Es ist die Angst des Menschen, der Verfolgungen ausgesetzt ist“.

Zahlreiche Gutachten sprechen auch heute noch eine andere Sprache, zahlreiche Psychiater und Neurologen können oder wollen auch heute in Verfolgungsschäden, die nicht in das herkömmliche Beurteilungsschema passen, nichts anderes sehen, als Beispiele für die weitverbreitete, aus dem Wunsch geborene „Rentenneurose“.

Es ist das große Verdienst des Herausgebers, der Autoren und des Verlages, daß sie für eine neue, verständnisvollere Haltung den Verfolgungsschäden gegenüber eintreten. Ob man sich zu ihrer wissenschaftlichen Ausgangsstellung bekennt oder nicht, ob man zu ihrer psychologischen Schule gehört oder nicht, erscheint demgegenüber durchaus von zweitrangiger Wichtigkeit.

Man hat den Eindruck, als wäre die Frage, ob Verfolgungsschäden an Leib und Seele entschädigt werden sollen oder nicht, keineswegs nur ein wissenschaftliches Problem. Politische Einstellungen spielen mit. Bewußte oder unbewußte Zu-und Abneigungen beeinflussen das Urteil. Das Gefühl für Recht und Unrecht bleibt nicht unbeteiligt. Wenn es irgendwo unmöglich ist, nur Arzt zu sein, und nicht auch Mensch, dann hier.

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