6628246-1956_22_04.jpg
Digital In Arbeit

Erinnern wir uns...

Werbung
Werbung
Werbung

Die Welt hat eigentlich erwartet, daß nach der posthumen Kritik an Stalin, nach seiner „Entgöttlichung“, endlich auch jene geheimnisvollen Vorgänge und menschlichen Tragödien eine sachliche Darstellung erfahren, die sich jähre- und jahrzehntelang im Schatten der innerparteilichen Kämpfe abgespielt haben. Bis jetzt ist jedoch kein Wort davon gefallen. Eine Reihe von Persönlichkeiten, Viele davon längst verstorben, die in den Jahren 1936 bis 1939 verschwanden, sind jetzt rehabilitiert “worden. Doch ist keine einzige darunter, die in den großen Prozessen der Jahre 1936 und 1937 abgeurteilt worden sind.

Erinnern wir uns. Es, waren im ganzen vier Prozesse, von der Welt „Prozesse gegen die alten Bolschewiken“ genannt, -welche die Welt erschütterten.

Der erste war der Prozeß Zinowjew-Kamenew. Zinowjew, der Führer der Petrograder Arbeiter, Präsident der Kommunistischen Internationale in ihrer Blütezeit, und Leo Kamenew, stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare unter Lenin, Vorsitzender des so wichtigen Rates für Arbeit und Verteidigung, Vorsitzender des Moskauer Sowjets — beide Mitglieder des Politbüros, als Lenin es präsidierte, beide Kampfgenossen Stalins gegen Trotzki, beide, die Stalin zum Generalsekretär der Partei wählten —, wurden im Juli 1936 zum Tode verurteilt und hingerichtet unter der Beschuldigung, das Attentat auf Kirow veranlaßt zu haben. Bisher wurden ihre Namen nicht erwähnt, nicht einmal andeutungsweise.

Der zweite Prozeß war derjenige des „trotz-kistischen Zentrums“. Die populärsten Namen darunter waren die Karl Radeks, des bekannten Publizisten, und des stellvertretenden Volkskommissars für Aeußeres, Grigori So-kolnikow, ehemals Finanzminister und Mitglied, des Leninschen Politbüros. Auch andere illustre Träger der Revolution, im Auslande weniger bekannt, saßen auf der Anklagebank. Auch von ihnen wurde bisher niemand erwähnt. Keiner von den. Angeklagten auch in diesem Prozeß wurde rehabilitiert. Nicht einmal Tomski, der ehemalige Vorsitzende der Gewerkschaften der Sowjetunion, der mit zu diesem Kreise gehörte, zuletzt Abteilungsleiter im Moskauer Staatsverlag war und sich im Augenblick der Verhaftung erschoß.

Auch von den Angeklagten im dritten öffentlich durchgeführten Prozeß, genannt der Prozeß des „Rechts-Links-Blockes“ oder der Prozeß des „zweiten Trotzkistischen Zentrums“, hat' man bisher nichts gehört. Gerade in diesem Prozeß war die Anklagebank von den größten Heroen der bolschewistischen Revolution besetzt. Da war der Theoretiker der Partei, der Freund Lenins, der ehemalige Chefredakteur der „Prawda“ und Mitglied des Politbüros, Nikolaj Bucharin, da war der Regierungschef nach Lenins Tod, Alexej Rykow, natürlich auch Mitglied des Politbüros, da war der ukrainische Regierungschef und spätere Botschafter in London, Christian Rakowsky, der langjährige Polizeiminister, Herr über Leben und Tod aller Sowjetbürger, Heinrich Jagoda, der nun selbst dem Henker verfiel, nachdem er Tausende und aber Tausende hatte hinrichten lassen. Da waren die bekannten Aerzte, da waren noch viele andere. Auch von ihnen fällt kein Wort.

Zwischen den beiden letzten Prozessen fand der Prozeß des Marschalls Tuchatschewski und von noch sechs mitangeklagten Armeekommandanten statt. In diesem Prozeß, der streng geheim unter vollständigem Ausschluß der Oeffentlichkeit stattfand, präsidierte der Vorsitzende des Militärsenates, „Armeejurist“

Ullrich. Beisitzer waren eine Reihe von Armeeführern, darunter auch die Marschälle Blücher und Budenny, der Reiterführer. Die Marschälle Woroschilow und Jegoroff waren nicht unter den Richtern. Weder jemand von diesen Angeklagten noch eine Reihe anderer später hingerichteter hoher Armeeführer, wie der Kommandierende der weißruthenischen Militärregiön, Armeegeneral Uborewitsch, sind bisher auch nur erwähnt worden. In diesem Prozeß und gleich nachher wurden auch Tuchatschewski und die Höchstkommandierenden der Militärregionen Moskau, Ukraine, Weißruthenien und Leningrad hingerichtet. Später folgten noch die Kommandanten in Asien: Blücher und Stern. Rehabilitiert wurde bisher nur Marschall Blücher. Es ist übrigens bemerkenswert, daß beinahe alle in den Prozeß verwickelten und später hingerichteten Armeeführer ehemalige kaiserliche Offiziere waren. Marschall Tuchatschewski selbst war ein Aristokrat, Zögling der vornehmsten Offiziersschule des „Pagenkorps Seiner Majestät“ und Gardeoffizier. Nur der Armeekommandant Jakir war ein ehemaliger jüdischer Student aus Bessarabien.

Der Prozeß gegen den Marschall und die sechs Generäle fand an einem unbekannten Ort statt. Noch vor dem Prozeß erschoß sich der Chef der politischen Verwaltung der Armee, der Armeekommissar Gamarnik. Er wurde ebenfalls als Verschwörer und Verräter diffamiert, seine Familie deportiert. Noch vor der amtlichen Kundmachung der Verurteilung und Hinrichtung der Angeklagten begann die Sowjetpresse eine Kampagne gegen diese. Ihnen wurde Spionage zugunsten Deutschlands, Verbindung mit anderen Staaten, eine beabsichtigte Gegenrevolution und eine konsequente Sabotage der Armee vorgeworfen. Das war Propaganda. Denn merkwürdigerweise stand in der amtlichen Kundmachung über den Prozeß keine einzige Andeutung davon. Die Angeklagten waren nur der Verschwörung zum gewaltsamen Sturze der herrschenden Regierung, also der Gegenrevolution, angeklagt. Der Spionageparagraph war in der amtlichen Kundmachung überhaupt nicht erwähnt.

Bisher ist, wie gesagt, kein einziger der in den großen vier Prozessen Verurteilten rehabilitiert worden. Ueber Moskau lag damals im Juni 1937 eine furchtbare Atmosphäre. Man wußte von den vielen Verhaftungen hoher Offiziere. Die Frauen der hingerichteten Generäle veröffentlichten lange Erklärungen, in denen sie ihre erschossenen Ehemänner beschimpften, sich von ihnen lossagten und ihre Loyalität der Regierung und der Partei gegenüber beschworen. Damit erkauften sie sich ein einigermaßen erträgliches Schicksal in der Provinz. Nur die Frau des Marschalls Tuchatschewski tat das nicht. Aus sehr guter jüdischer Patrizierfamilie, distinguiert, hoch gebildet und kultiviert, erfreute sie sich übrigens eines hohen Ansehens bei den ausländischen Diplomaten und ihren Familien. Frau Tuchatschewski hielt zu ihrem Mann. Sie erklärte das ausdrücklich, trotz aller Quälereien. Ihre Kinder wurden ihr weggenommen und in ein entferntes Erziehungsheim eingeliefert. Schließlich wurde Frau Tuchatschewski selbst in einem Irrenhaus interniert. Man hört auch jetzt nichts weder von der Frau noch von dem Schicksal der Kinder.

Einen Tag nach der Verkündung der Hinrichtung der Generäle kam der Außenminister Lettlands nach Moskau. Im Palast Spiri-donowko 17 fand ein großer Empfang statt. Diplomatie und Auslandspresse waren auch geladen. Eine furchtbare Atmosphäre lastete auf den festlichen Sälen und Salons. Die Russen, mit krankhaft gespannten Gesichtern, konnten sich kaum ein verzerrtes höfliches Lächeln abquälen. Tatsächlich, für die Mehrzahl der anwesenden Sowjetdiplomaten und Offiziere war es der letzte, auf jeden Fall einer der letzten Empfänge, die sie mitmachten. Viele von ihnen wurden in den folgenden Monaten dem Henker überantwortet. Die anderen gingen in die Gefängnisse und Lager. .

Da kam Marschall Woroschilow, der Kriegsminister ... Daß er nicht unter den Blut-' richtern war, verstand man. Verfassungsgemäß ist es unvereinbar mit dem Posten eines Mitgliedes der Regierung, auch Richter zu sein. Woroschilow hatte noch das ruhigste Gesicht. Unbekümmert sah Marschall Budenny drein, der Reiter, der vor knapp 48 Stunden seine Kameraden von vielen Schlachten zum Tode verurteilt hatte. Jetzt erschien die riesige Gestalt des Chefs des roten Generalstabes in der Tür. Eine überlebensgroße Erscheinung. Auch er war nicht unter den Richtern. Die meisten Anwesenden wußten auch warum. Er war der Schwager Tuchatschewskis, mit einer seiner Schwestern verheiratet. Sonst fehlte Frau Jego-row auf keinem der diplomatischen Empfänge.

Ebenso .wie ihr Bruder liebte sie mondänes Leben. Jetzt kam Marschall Jegorow allein.

Auch Marschall Jegorow war wie Tuchatschewski ehemals kaiserlich-russischer Offizier. Er war jedoch sehr bescheidener sozialer Abstammung und diente nach Absolvierung der Militärschule in Kasan bei der Linieninfanterie. Die Karriere in der alten Armee beendete er als Hauptmann im Generalstab. Auch er bekannte sich zur Revolution. Auch er führte Armeen im Bürgerkrieg.

Marschall Jegorow durchquerte mit langen Schritten den großen Salon, begrüßte alle Anwesenden, stumm, gesammelt, bis er am andern Ende des Saales den Botschafter Frankreichs,

DAS NEUE BUCH

Aus dem Schwaben v erlag, Stuttgart: Jean Danielou

Vom Geheimnis der Geschichte

404 Seiten, Ganzleinen, S 98.60 Krisenzeiten, wie jene, die die Welt heute durchmacht, führen zur Frage nach dem Sinn der Geschicke und dadurch nach dem Sinn der Geschichte. In diesem Buch werden nun Probleme, Geheimnisse und Entscheidungen, in denen der christliche Gedanke den zeitgenössischen Wirklichkeiten konfrontiert wird, aufgeworfen, diskutiert, und wollen dazu beitragen, daß -der Mensch mitwirke an der Vereinigung und Vermengung der beiden Geschichtsströme, nämlich dem göttlichen Wirken — der „magnalia Dei“ und der Antworten der Menschen. .. ,

Franz Kaiser

Hier ist Heiliges Land

Eine Reise zum Schauplatz der Bibel 456 Seiten, 82 Bilder, 3 Karten, Ganzleinen, S 51 —

Hinter der Darstellung von Landschaften und Ausgrabungsorten wie den heutigen religiösen, wirtschaftlichen und politischen Zuständen erwachsen die Ereignisse der Vergangenheit: Biblische Szenen rücken ins Licht der realen Umwelt, Geschichte und Wesen vieler Religionen treten einander gegenüber, Aufgang und Untergang der Großen und das Schicksal ihrer Weltreiche ziehen noch einmal über die Bühne. Der klare Blick und die tiefen Gedanken des Verfassers zwingen den Leser, das Gestern und Heute, die sich hier begegnen, als Einheit zu beereifen, als vielgestaltigen Kampfplatz des Ringens zwischen Tod und Erlösung.

Max Lackmann

Ein Hilferuf aus der Kirche für die Kirche

138 Seiten, broschiert, S 20.40 Der Verfasser, evangelisch-lutherischer Theologe und Amtsträger der evangelischen Kirche, legt allen Amtsträgern und Gliedern seiner Kirche zehn Thesen vor, die prägnant aussagen, in welchen dogmatischen Grundüberzeugungen eine Revision der lutherischen Glaubenslehre vom Worte Gottes notwendig scheint. Dem Durchdenken dieser christologischen P j-blematik in Auseinandersetzung mit der Hl. Schrift, den dogmatischen Entscheidungen der alten Kirche und den Lösungsversuchen der Kirchengeschichte sind die anschließenden Ausführungen, die auch für den Nichttheologen verständlich sind, gewidmet.

Zu beziehen durch den Buchhandel! Auslieferung:

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung