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ErleLnisse im Belvedere

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Die nachfolgenden Aufzeichnungen des einstigen Chefredakteurs der „Reichspost" und gegenwärtigen Herausgebers der „Furche" knüpfen an ein bedeutsames Kapitel der Vorgeschichte des ersten Weltkrieges an. Das Belvedere, der Wiener Wohnsitz des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand, wurde die Arbeitsstätte für große reichsreformerische Pläne, die mit hoher Konsequenz auf den inneren Neubau der Monarchie, die Autonomie und Befriedung der nationalen Minoritäten, außenpolitisch auf die Pflege der Freundschaft mit dem Deutschen Reiche und auf eine Verständigung, womöglich ein Bündnis mit Rußland zur Erhaltung des Weltfriedens gerichtet waren. Unter der Leitung eines genialen Offiziers, des Generalstabsmajors Alexander Brosch, wurde die im Unteren Belvedere untergebrachte Militärkanzlei des Thronfolgers der Sammelpunkt wertvoller Menschen aus allen Nationen des Gesamtreiches. In diese „Werkstatt des Thronfolgers“ führen die Erinnerungen des Autors, ein kleiner Ausschnitt aus einem großen lebensvollen Zeitgemälde, das über tragische Abstürze hinweg die schicksalhafte untrennbare Zusammengehörigkeit des Gestern und Heute kennzeichnet.

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Die nachfolgenden Aufzeichnungen des einstigen Chefredakteurs der „Reichspost" und gegenwärtigen Herausgebers der „Furche" knüpfen an ein bedeutsames Kapitel der Vorgeschichte des ersten Weltkrieges an. Das Belvedere, der Wiener Wohnsitz des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand, wurde die Arbeitsstätte für große reichsreformerische Pläne, die mit hoher Konsequenz auf den inneren Neubau der Monarchie, die Autonomie und Befriedung der nationalen Minoritäten, außenpolitisch auf die Pflege der Freundschaft mit dem Deutschen Reiche und auf eine Verständigung, womöglich ein Bündnis mit Rußland zur Erhaltung des Weltfriedens gerichtet waren. Unter der Leitung eines genialen Offiziers, des Generalstabsmajors Alexander Brosch, wurde die im Unteren Belvedere untergebrachte Militärkanzlei des Thronfolgers der Sammelpunkt wertvoller Menschen aus allen Nationen des Gesamtreiches. In diese „Werkstatt des Thronfolgers“ führen die Erinnerungen des Autors, ein kleiner Ausschnitt aus einem großen lebensvollen Zeitgemälde, das über tragische Abstürze hinweg die schicksalhafte untrennbare Zusammengehörigkeit des Gestern und Heute kennzeichnet.

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An einem Frühsommertag 1905 trat ein baumlanger kaiserlicher Gardist in unser Redaktionszimmer. Er habe Befehl vom Herrn Flügeladjutanten Sr. kaiserlichen Hoheit des Erzherzog-Thronfolgers, von den und den Nummern der „Reichspost" mit den und den Leitartikeln je drei Stück einzuholen. — Was war das? Einen solchen Gast hatten wir in unserem Häuserl noch nicht gehabt.

Einige Tage nach diesem Besuch wurde ich in das Belvedere gerufen, die Wiener Residenz des Thronfolgers. In einem bescheidenen Amtszimmer der am Rennweg gelegenen Baulichkeiten des Schloßkomplexes empfing mich der Flügeladjutant des Erzherzogs, der Generalstabsmajor Alexander Brosch von A a r e n a u, ein kleiner beweglicher Mann mit offenen, sympathischen Zügen und scharfblickenden blauen Augen. In militärischer Kürze setzte er mich ins Bild: sein hoher Herr verfolge mit Aufmerksamkeit und großem Interesse das Blatt, das ich leite, ihm gefalle der Mut, mit dem es, ohne sich durch Gegenangriffe einschüchtern zu lassen, die herrschenden politischen Cliquen in Ungarn und daheim angehe, während, die übrige Wiener Tagespresse sich gleichgültig zeige oder gar die Widersacher der Monarchie unterstütze; in dem entbrannten Kampf stehe viel, vielleicht alles auf dem Spiel. Der Erzherzog-Thronfolger setze Vertrauen auf mich, er wolle mich ermuntern, diese Haltung zu bewahren und gegen schlechte Beispiele und Uber-,

redungsversuche höherer Stellen stark zu bleiben.

Als ich aus dem Belvedere hinaustrat, überdachte ich, was dem von der großen Welt unbeachteten Journalisten soeben geschehen war. Es war doch der künftige Kaiser, in dessen Auftrag ich berufen worden war, es waren die Lebens- und Schicksalsfragen des Reiches, die das eben geführte Gespräch betroffen hatte und in denen ich junger Mensch eine Aufgabe zu erfüllen aufgerufen worden war.

Der Bürger des kleinen Österreich, das als Fragment und als einstiges Herzstück des alten Staates übriggeblieben ist, mag vielleicht nicht leicht die Empfindungen in meiner damaligen Lage verstehen. Es liegt ein tiefes Tal zwischen dem Damals und Heute. Für mich wußte ich nur den einen Vorteil, daß ich an meinen Erkenntnissen und Überzeugungen nichts zu ändern brauchte.

Die Beziehungen zu Brosch gestalteten sich enge. Ich wurde mehrmals in der Woche gerufen, konnte anfragen, wenn ich es für notwendig hielt, bekam Informationen, Aufgaben für die Orientierung der Auslandspresse, schrieb Artikel für die „Kölnische Volkszeitung“, ähnliche angesehene Tageszeitungen und englische Revuen. Die intimen Hintergründe der Machtkämpfe, der ministeriellen und höfischen Zwischenspiele, entzogen dem Blick der Öffentlichkeit, offenbarten sich mir. Je länger die Krise dauerte, desto häufiger zeigten sich kompromißlerische oiuiuuuugeu, uie rur eure v eisiancngung mit dem aufgebäumten Chauvinismus der magyarischen Gentry plädierten. Was läge schon an ungarischen Fahnen und magyarisch-nationalen Emblemen bei den ungarischen Truppen und an der Magya- risierung des Offizierskorps der ungarischen Truppen der gemeinsamen Armee! In aller Stille fand im Winter 1906 unter dem Vorsitz des Erzherzogs Friedrich, des rangältesten militärischen Würdenträgers neben dem Thronfolger, ein Generalsrat statt, in dem diese Kompromißstimmung sich deutlich aussprach. Konkrete Maßnahmen wurden ins Auge gefaßt. Einige Tage später übergab mir Major Brosch eine umfangreiche Denkschrift, mit der sich der Thronfolger mit Bezug auf die Preßburger Konferenz an den Kaiser wandte. Ich sollte strengstes Stillschweigen über das Schriftstück gegen jedermann bewahren, seinen Inhalt als richtunggebende vertrauliche Information ansehen und den Akt sofort am nächsten Tag zurückstellen.

Heimgekehrt las ich die Denkschrift hinter versperrter Tür. über Nacht barg ich den Akt unter meinem Kopfpolster, da ich es nicht wagte, ihn aus meiner nächsten Nähe zu lassen.'- Das Schriftstück war von einer derartigen erbarmungslosen Schärfe des Urteils über die gegenwärtig in Ungarn herrschenden Kräfte, über die Folgen eines Zurückweichens vor ihnen und über die Notwendigkeit der zu ergreifenden Maßnahmen zum Schutze des Gesamtstaates, daß mich die Lektüre erschrecken machte. Ich hatte den Eindruck: würde das Geheimnis über diesem Geheimakt gelüftet, so würde sich in Ungarn eine Katastrophe ereignen.

Brosch hatte mir — wahrscheinlich im Auftrag seines Chefs — einen Vertrauensbeweis gegeben, den ich als größte Auszeichnung empfand, überhaupt wurde mein Verhältnis zu Brosch, diesem prachtvollen Menschen, der mit seinem soldatischen Beruf eine ganz ungewöhnliche diplomatische Begabung verband, sehr herzlich. Ich wäre für ihn durchs Feuer gegangen.

Seine Berufung an die Seite des Thronfolgers hatte ihre eigene Geschichte: Franz Ferdinand hatte sich an Erzherzog Eugen gewandt mit der Bitte, ihm einen geeigneten Offizier als Flügeladjutanten zu empfehlen. Erzherzog Eugen schlug ihm den Generalmajor von Gelb vor, der sich aber, wie sich Franz Ferdinand bald überzeugen zu müssen glaubte, bei den militärischen und politischen Behörden nicht durchzusetzen vermochte. Auf Wunsch des Thronfolgers nannte ihm der Chef des Generalstabes, Graf Beck, zwanzig höchstqualifizierte Offiziere des Generalstabes zur Auswahl, aus der vier Offiziere für eine engere Wahl hervorgingen. Unter ihnen war der Hauptmann des Generalstabes Alexander von Brosch, der dem Thronfolger im Jahre 1904 bei einer Truppenübung im Inntal. durch eine besondere Leistung aufgefallen war. Er lud ihn zu sich, da es ihm gefiel, daß dieser Generalstabsoffizier sich schon zweimal zur freiwilligen Truppendienstleistung gemeldet hatte. Der Eindruck, den Franz Ferdinand von dem jungen Offizier empfing, war so bestimmt, daß er sofort Brosch in seinen Dienst als Flügeladjutant einberufen ließ.

Ein merkwürdiger Vorfall wurde dann Veranlassung 2um baldigen Entstehen der Militärkanzlei des Thronfolgers, zu der Erhebung seines Flügeladjutanten Brosch zu deren Vorstand. Brosch hatte bei seinem Amtsantritt als Flügeladjutant im Jahre 1905 ein Zimmer im Unteren Belvedere erhalten, als Schreibkraft war ihm ein Burggendarm zugeteilt worden. Um Marken zu beschaffen, lief eines Tages der Schreiber über die Gasse, übersah dabei einen sich nähernden General und wurde von diesem zur Rede gestellt, warum er nicht die Ehrenbezeigung geleistet habe. Der Schreiber entschuldigte sich, der General begnügte sich nicht damit, erstattete Anzeige und verlangte die Bestrafung des Mannes bei dem Obersthofmarschall Fürsten Montenuovo, dem die Burggendarmerie unterstand. Der Obersthofmarschall schrieb in der Tat an Brosch, der Schreiber werde abberufen und erhalte wegen des Vorfalls eine Strafe, worauf Brosch erwiderte, der Schreiber sei in seinem, des Flügeladjutanten Sr. kaiserlichen Hoheit, Dienst, er habe sich wegen seines Versehens entschuldigt und er gedenke nicht, ihn abberufen und bestrafen zu lassen. Montenuovo schrieb ein zweites Mal, sein Begehren wiederholend, worauf sich Brosch an den Erzherzog wandte, der die Auffassung seines Flügeln adjutanten teilte und eine strafweise Abgabe und Bestrafung des Burggendarmen ablehnte. Darauf ging Fürst Montenuovo beleidigt an die höchste Instanz, den Kaiser, um von ihm eine Entscheidung in seinem Sinn zu erreichen. Entsprach der Kaiser dem Antrag des aufgebrachten obersten Hofbeamten und Würdenträgers, so entstand eine höchst peinliche Situation zwischen Kaiser und Thronfolger. Ein Ausweg mußte gesucht werden. Da schlug Brosch vor, eine „Militärkanzlei" des Thronfolgers zu schaffen, in der jener Burggendarm zum Dienst zugeteilt sei, damit sei ersichtlich, daß der bedrohte Mann der Befehlsgewalt des Vorstandes der Militärkänzlei Unterstehe. Sowohl im Kfiegsministerium wie im Generalstab freute man sich, dem Fürsten ein Schnippchen zu schlagen, bewilligte sofort die Errichtung der Militärkanzlei und bestellte als deren Chef in aller Eile den Flügeladjutanten Brosch. Damit war die Sache erledigt, der Burggendarm gerettet, und fortan bestand die Militärkanzlei des Thronfolgers, die sich schließlich zu einer lököpfigen Körperschaft entwickelte.

Brosch besaß eine wunderbare Art, mit Klugheit und Geduld zu gewinnen. Auch den Thronfolger, diese eigenständige Natur, die nicht leicht zu behandeln war. Der Thronfolger pflegte, als Brosch zu ihm kam, nur österreichische Zeitungen zu lesen, die seinem Geschmack zusagten. Das waren nur wenige. Aber er sollte doch auch die Presse der anderen Seite kennenlernen, um sich über die Parteistimmen ein umfassendes Urteil bilden zu können. Aber diese süßliche, dann wieder boshafte und versteckt feindselige liberale Presse der verschiedenen Nuancen war ihm widerlich, er wollte nichts von ihr wissen. Brosch ging das Hindernis wortlos an. Zum Morgenrapport vor Franz Ferdinand erschien er eines Tages mit sechs, acht Zeitungen unter dem Arm; als er sich nach seinem Referat mit einer Verbeugung verabschiedete, ließ er die Zeitungen auf einem Tische liegen.

„Lieber Brosch, Sie haben Ihre Zeitungen vergessen!" rief ihm der Thronfolger nach und hielt ihm die Blätter entgegen. Mit einem „Danke gehorsamst!" nahm Brosch die Zeitungen und verschwand. Am nächsten Tag wiederholte sich dieselbe Szene.

Als nach dem dritten Rapport der Flügeladjutant wieder die Zeitungen am gleichen Platz vergessen hatte, erkannte der Thronfolger lachend den Zweck der Übung und gab sich besiegt.

Wenn Brosch bei Franz Ferdinand in Wichtigen Dingen auf Widerspruch stieß, so verfolgte er diese Taktik des Nachgebens bei zähem Festhalten seines Zieles, bis er es erreicht hatte.

Die Verbindung des Belvederes mit der „Reichspost“ konnte nicht lange verborgen bleiben, zumal sie am allerwenigsten der Thronfolger verheimlichte. In der liberalen Presse, die nie ihr Mißvergnügen über die Gesinnung des Thronfolgers verhehlte, seit er 1901 das Protektorat des Katholischen Schulvereins übernommen hatte, empfand man aber . doch die Auszeichnung der „Reichsposl" als eine Verletzung der gebührenden Rangordnung in der Wiener Presse und reagierte mit versteckten und immer schärfer werdenden Spitzen.

Auch an anderen Stellen, in der liberalen Hochbürokratie und Finanzwelt, erregte die Vertrauensstellung, die der Erzherzog-Thronfolger dem Chefredakteur der „Reichspost" und, weithin erkennbar, dessen Blatte eingeräumt hatte, mißfällige Kritik. Man fand die Wahl eines „klerikalen" Blattes unziemlich, einer Zeitung, die doch nur geringe Verbreitung und ein bescheidenes Kleid hatte und überdies im Gerüche stand, lästigen demokratischen Anschauungen zu huldigen. Diese Stimmung verwan delte Sich, als die „Reichsposl" von Jahr zu Jahr an Leistung, Verbreitung und politischem Gewicht zunehmen konnte, manchenorts in Freundlichkeit, an anderen Stellen in Zorn. Da§ war am wenigsten denen zu verdenken, deren Haltung in den großen Fragen der Reichspolitik der Kritik der „Reichspost“ begegnete. Als der Thronfolger in einer mündlichen Auseinandersetzung mit Aehrenthal, Frühjahr 1907, auf einen Artikel der „Reichspost" anspielte, grollte der Minister des Äußern: „Da sind mir die Rotweißgrünen" —- er meinte die ungarischen Unabhängigkeitsparteiler und ihr Gefolge — „noch lieber als diese Schwarzgelben!" Weniger harmlos war ein Intermezzo, das an einen „Leiter" der „Reichspost" anschloß, der mit schärfster sachlicher Akzentuierung den Kriegsminister General Schönaich wegen seiner auf Kosten der Armee und der gesamtstaatlichen Interessen gebefreudigen Verhandlungsdiplomatie apostrophierte.

Der Schuß war ins Zentrum gegangen. Zwei Tage nach Erscheinen des Artikels rief mich Brosch auf und bat mich, sofort unauffällig auf den Platz hinter der Votivkirche am Anfang der Frankgasse zu kommen, er müsse mich eiligst sprechen. Er kam in Zivil, nannte mir eine Adresse in Währing, an der ich mich eine halbe Stunde später unauffällig einfinden sollte, und trennte sich von mir, um einen anderen Weg zum gleichen Ziel einzuschlagen. In der Wohnung seines Schwagers eröffnete er mir, er sei wegen des Artikels der „Reichspost“, der ausgezeichnet sei und seine volle Billigung habe, in militärgerichtliche Untersuchung gezogen, er werde von Kriegsminister Schönaich der direkten Autorschaft beschuldigt und es gehe um seinen Kopf. Nun möge ich wahrheitsgemäß bezeugen, daß er den Artikel nicht geschrieben, mich aber auf weitere Erklärungen nicht einlassen.

Den Artikel hatte in der Tat nicht Brosch, sondern ich geschrieben. Doch die mir abverlangte schriftliche Zeugenschaft stillte die Erregung des Kriegsministers nicht. Schönaich beschuldigte in einer Eingabe an die kaiserliche Kabinettskanzlei Major Brosch, doch der Verfasser der gegen den Minister erhobenen .schweren Vorwürfe zu sein, so daß im Auftrag- des Monarchen Major Brosch von General Bolfras, dem Generalflügeladjutanten des Kaisers, in die Hofburg gerufen und von Bolfras im Auftrag des Monarchen zu der ehrenwörtlichen Erklärung verhalten wurde, daß er den Leitaufsatz der „Reichspost“ nicht verfaßt habe. Trotz dieser in aller Form abgegebenen Bezeugung wurde Brosch vor das Militärgericht gezogen. Die Beziehungen des Thronfolgers zur „Reichspost" waren notorisch, wenn der Vorstand seiner Militärkanzlei in Zusammenhang mit diesen Beziehungen militärgerichtlich zur Verantwortung gezogen wurde, so ging das auch den Thronfolger an. Damit hatte der Konflikt seinen Scheitelpunkt erreicht. Hier stellte sich Franz Ferdinand persönlich vor seinen Getreuen und erklärte unzweideutig, er werde, wenn jetzt nach der ehrenwörtlichen Bekundung die Verfolgung seines Flügeladjutanten noch fortgesetzt werde, seine Stelle als „Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht" niederlegen. Da erfolgte auf kaiserlichen Befehl die Einstellung des Militärprozesses gegen Alexander von Brosch.

Nur die isolierte Stellung Franz Ferdinands am Wiener Hof vermag die Erklärung für diese Groteske zu geben, daß gegen den Mann, der dem Thron zunächst stand, dieser Affront erfolgen konnte. Es geschah sogar, daß ein unverkennbar aus dem Kriegsministerium offiziös inspirierter Artikel im Jahre 1910 im „Wiener Journal“ erschien, der offen gegen die Militärkanzlei des Thronfolgers und Unverblümt auch gegen diesen selbst polemisch wurde.

Diese und ähnliche Affären hatten die ungewollte Nebenwirkung, daß sie die Aufmerksamkeit weitester Kreise auf die „Reichspost" lenkten. Das Blatt gewann, rasch an Geltung und Auflage und wuchs über die Formen und Grenzen eines christlichsozialen Parteiblattes hinaus. Schon vor der Verbindung mit dem Belvedere hatte es Fühlung mit führenden Persönlichkeiten der kroatischen Reinen Rechtspartei des Dr. Frank und mit den Slowaken Ungarns gewonnen, als die „Reichspost" sich an die Seite der Kroaten und der von den Budapester Machthabern hart behandelten Slowaken und Rumänen, so auch des Pfarrers Hlinka von Rosenberg, stellte. Nun gewann die Zeitung auch Verbindung mit den Führern der nichtmagyarischen Nationalitäten, die in den jüngsten Neuwahlen im Jänner 1905 in das ungarische Parlament gelangt waren, die ersten freigewählten, unabhängigen rumänischen und slowakischen Volksvertreter, welche die Tribüne des ungarischen Parlamentarismus betreten konnten. Ihre Hoffnung war Franz Ferdinand, der künftige Kaiser, der ein neues Habsbürgerreich errichten würde, ein Reich der vereinigten autonomen Völker, eih Reich der Gerechtigkeit ünd der Freiheit für alle, das keine Hegemonie einer mächttrunkehen magyarischen Gentry mehr kannte, keine Regierung der Unterdrücker und der Rebellen gegen Kaiser und Reich. Diesem Verkünder einer kommenden neuen Zeit der Freiheit und des Friedens gehörte ihre begeisterte Anhänglichkeit.

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