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Ernste Bilanz des deutschen Katholizismus

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Einen reich dokumentarisch belegten Bericht „Der deutsche Katholizismus im sozialen Chaos. Eine nüchterne Bestandsaufnahme“ legte O. B. Roegele auf dem Kongreß katholischer Publizisten in Royaumont am 8. Oktober 1948 vor. Dieser erscheint nun im „H o c h 1 a n d“ (München, Februar 1949) in der „V i e intellectuelle“ — Paris und der „Review of Politics“ — Notre Dame, Indiana, USA. Die dreifache internationale Publizierung unterstreicht die Wichtigkeit dieser erschütternden Bilanzziehung. — Das Versagen in dieser Stunde hat historische Ursachen. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts bildeten die katholischen Fürsten die eigentlichen Stützen des deutschen Katholizismus. Bei der im 19. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung und Entstehung der deutschen Großstädte kam der Katholizismus innerlich nicht mit. „Riesenpfarreien mit einem minimalen Seelsorgeeffekt für den einzelnen entstanden; der Pfarrer wurde zum lauf- und (noch mehr) Begräbnisbeamten.“ Am Land hielt sich ein innerlich entleertes, gewohnheitsmäßiges „erscheinungsbildliches“ Christentum. Im letzten Krieg brachten die Fliegerbomben, die die Dome und Heime zerstörten, „nur weithin zur Darstellung, wa die Verfol- gung … schon zuvor zuwege gebracht hatte: die Christen erwiesen sich in Deutschland als eine erschrek- kend kleine, verängstigte Mindė r h e i t“. Zudem kann der Kirche „der Vorwurf nicht ganz erspart bleiben, daß ie als Instanz der geistigen Führung der Nation auf weiten Strecken der jüngsten Geschichte kläglich versagt und damit, die Schuld auf sieli geladen hatte“. Gewiß, sie „war vom Blut ihrer Märtyrer verjüngt… im ganzen zu neuem innerem Leben erwacht…“ und in breiten Massen gab es 1945 eine Bereitschaft, auf die Kirche zu hören. „Dieser Bereitschaft der Masse …entsprach aber keineswegs den Möglichkeiten der Kirche, der Masse ihre Botschaft nahezubringen.“ „Inwieweit hier der Mangel an Zeitnähe..„ der Mangel, an Kenntnis der einfachsten Tatbestände des Alltags, schon gar der Mangel an jeder vorausschauenden Planung schuld waren, mag hier uner- örtert bleiben.“— Nun steht die Kirche in neuer Situation. Ein ganzes Volk ist aus den Fugen geraten. Da sind zuerst die territorialen Veränderungen, die neuen Länder- und Zonengrenzen. Der Bischof von Osnabrück zum Beispiel muß sich nach den Bestimmungen von fünf verschiedenen Landesregierungen und drei Zonenbefehlshabern richten. „Die in hohem Maß zur Institution eingefrorene, behördlich gewordene Kirche war durch diese Umwälzung weithin geradezu gelähmt.“

Ungeheuer groß sind die materiellen Schäden, In der Diözese Aachen sind 85 Prozent der kircheneigenen Gebäude zerstört, in der Diözese Münster wurden von 573 Kirchen 71 völlig, 110 weitgehend, 192 teilweise zerstört. Das Bistum Trier berichtet, daß nur 124 von 834 Pfarreien ohne Schaden an Gebäuden und Grundbesitz blieben. Von 104 Kölner Kirchen blieb eine einzige unbeschädigt. Zur äußeren gesellt sich die innere Schwächung der deutschen Kirche. Katastrophal ist der Priestermangel. Dieser ist, nächst den bekannten Ursachen der Jahre 1933 bis 1945, nicht zuletzt auf „die geringe Anziehungskraft der derzeitigen Fprmen der Priesterausbildung selbst für Willige und Berufene“ zurückzuführen. Der Süden und Westen Deutschlands ist noch verhältnismäßig gut bestellt, diese geschlossenen Siedlungsgebiete des deutschen Katholizismus üben eine starke Anziehungskraft auf vertriebene Ostpriester aus.

„Es muß auch ausgesprochen werden, daß die Ordinariate sich im allgemeinen entschieden weigern, Priester für andere Diözesen freizugeben, da nirgends Überfluß herrscht. Für die Optik der Kirchenbehörden wird das groteske Mißverhältnis eben nicht deutlich, das etwa darin hegt (um nur Beispiele zu nennen, die beliebig auch auf andere Gebiete angewandt werden könnten), daß im geschlossen katholischen Hohenzollern manche Gemeinde mit 300 Einwohnern einen durchaus rüstigen Pfarrer ihr Eigen nennt…, während sich in den Großstädten der gleichen Diözese, noch mehr aber in der Diaspora, Priester zugrunde richten müssen, um nur eine minimale Versorgung ihrer Gläubigen zu leisten. Auch von den Orden haben sich nur wenige entschließen können, Priester in die russische Zone zu senden.“

Verschärft wird die Gesamtsituation der deutschen Kirche durch das Problem der Vertriebenen. Von den etwa 11 Millionen Vertriebenen, die in Restdeutschland eintrafen, sind fast genau die Hälfte Katholiken. Das heißt heute: „Jeder fünfte Katholik in Deutschland ist ein Vertriebener. Und nun noch ein Weiteres: Drei Viertel aller heimatvertriebenen Katholiken wurden ln Gebiete geworfen, die als Diaspora bezeichnet werden müsse n.“ In der Diaspora herrschen schwierigste Verhältnisse. Der Westen: „Eine holsteinische Pfarre ist in diesen Jahren von 300 auf 11.000 Seelen gewachsen.“ Der Osten: „In Sachsen hat eine halbe Million Flüchtlinge nur 63 voll einsatzfähige Priester mitgebracht. Um eine minimale Seelsorge aufrechtzuerhalten, fehlen mindestens 300 Priester.“ Im Kommissariatsbezirk Magdeburg, der zur Erzdiözese Paderborn gehört, gibt es für 70 0.0 000 Katholiken (davon 550.000 Vertriebene) nur 285 Geistliche.

Junge Priester brechen vielfach nach einem Jahr Einsatz gesundheitlich zusammen Tuberkulose„, Der Generalvikar des thüringischen Anteils der Diözese Fulda meldet am 7. Mai 1948 einen Zuwachs von 260.000 ostvertriebenen Katholiken. Er hat jetzt für rund 4 3 0,0 0 0 Katholiken 97 aktive Seelsorger zur Verfügung.

Schlimmer noch fast als die äußere wirkt sich die innere Diaspora aus, die Verlassenheit und Isolierung der zugewanderten Katholiken in den katholischen Landgebieten. „Der ländliche Katholizismus hat nur unvollkommen die Probe bestanden, die ihm durch die Vertriebenen auferlegt wurde.“ Da9 Fassadenhafte im religiösen Bild des Dorfes wird jetzt erst als solches offenbar. Ein eigentlich christliches Lebensgefühl fehlt.“ In einer Abhandlung von Professor F. X. Arnold heißt es:

„So wenig Bedürfnis nach Erneuerung ist da, ein grausamer Traditionilismus herrscht. Wie es immer war, so bleibt es! Und doch ist auch fürs Land die letzte Stunde zur kirchlich-religiösen Erneuerung. Wir müssen den festgetretenen Boden auflockern und umbrechen. An diesen Verhältnissen ist viel auch der Seelsorger auf dem Land schuld. Er ist geradezu oft der Exponent des Traditionalis- mus und eines unerschütterten, geruhsamen Daseins, der ängstliche Hüter dessen, was war, der nichts Neues anfangen will und auf- kommen läßt. Eine Schicht im Seelsorgeklerus auf dem Land ist wirklich scheu vor der Arbeit, bequem.“

Das Versagen des katholischen Landes hat weithin in Deutschland viel Staub aufgewirbelt.

„Und die kirchlichen Oberen haben in der Tat zu wenig getan, um den Klerus wirksam an seine Pflicht zum Vorbild zu erinnern. Es hätte noch bedeutend mehr Lärm gegeben, wenn nicht die im öffentlichen Leben stehenden Christen manchen Lärm erstickt, manchen bitteren Gang selbst getan, manchen Exzeß hlntangestellt hätten. Die Uriaster des Dorfes, Geiz, Herzenshärte und Dorfstolz .„ Abneigung gegen alles Neue, die Unfähigkeit, sich in fremdes Leid zu versetzen, triumphierten weithin über die Flammen christlicher Liebe, die hie und da emporschlugen. Viele Pfarrer haben aus Einsichtslosigkeit, Menschenfurcht oder Herzensträgheit nicht genügend dagegen getan. Vielleicht rächt es sich heute auch, daß seit geraumer Zeit Priesterberufe aus den bäuerlichen Schichten so auffallei l bevorzugt wurden.“ Unter den heinltver- triebenen Priestern entstand dergestalt oft große Verbitterung. Von Ort zu Ort gejagt, erlebte dieser Klerus „wie er von seinen eigenen kirchlichen Vorgesetzten verraten wurde,..“ „So hat es sich an vielen Orten ergeben, daß die Begegnung zwischen der eingesessenen Landbevölkerung und den Vertriebenen eine Kette von Kundgebungen des Hasses, der Abwehr und der Gewalt wurde.“ Erschwerend für den innerkatholischen Ausgleich kommt noch dazu, daß der religiöse Bildungsstand und Frömmigkeitsstil de flüchtigen katholischen Volkes aus Ost und Südost in vieler Hinsicht „ungefähr den Verhältnissen vor hundert Jahren“ entsprechen. Der Klerus in den ostdeutschen Gebieten habe noch weniger als der des Westens die Erziehung zur Dia-’ sporareife, zu einem bewußt lebendigen, aktiven, wachsamen und vormarschbereiten Christentum geleistet. Das irdische Heimatgefühl bestimmte bei diesen Menschen so sehr die religiöse Welt, daß diese sich ohne die Bindungen der ersteren nicht halten kann. Resümierend faßt der Autor zusammen: „Der Katholizismus in Deutschland hat sein traditionelles soziales Gefüge verloren, seinen überkommenen äußeren und inneren Habitus.“ Er leidet unter den Krisenerscheinungen der Zeit… Er leidet an der Unsicherheit und Angst vor der Zukunft, am stärksten aber an der Schwachheit seiner Glieder, an der Einfallslosigkeit vieler seiner Führungsinstanzen und an dem Illusionsnebel, der vor der Wirklichkeit hängt. Das Bürgertum, aus dessen Reihe sich die Gläubigen zumeist rekrutieren, ist prole- tarisiert, innerlich erschlafft, desorientiert und ohne Kenntnis - seiner Aufgaben. Es bringt keine politische Vitalität, keine tragfähige Idee, wenig Köpfe hervor. Die A r- beiter stehen in erdrückender Mehrheit außerhalb der Kirche.“ „Das Landvolk offenbart einen erschreckenden Mangel sn religiöser Substanz und praktischem Christentum. Im Verein mit den auf dem Lande , untergebrachten. Vertriebenen stellt das Landvolk das schwerste Seelsorgeproblem der Gegenwart da r.“ „In seinen amtlichen Funktionen hat der deutsche Katholizismus, das muß mit Beschämung ausgesprochen werden, gegenüber der Prüfung weithin pathologisch reagiert: anstatt in der außerordentlichen Not der territorialen Diaspora durch Austausch von Priestern und durch alle andere Art von Hilfe . einen ,innerkirchlichen Lastenausgleich’ zu versuchen, hat man sich in den Diözesen hermetisch abge- schlosssen. Über dem bornierten Festhalten an einer Guerillataktik gegenüber dem Unglauben ist es zu keiner Strategie der Seelsorge gekommen. Auch hier gibt es Ausnahmen, aber nur wenige scheinen da beschwörende Wort des Propstes von Magdeburg begriffen zu haben: J etzt brauche ich Priester — in’fünf Jahren habe ich keine Katholiken m e h r.“

Wie soll diese furchtbare Situation gemeistert werden? „Die überdimensionalen Aufgaben… sind auf keine andere Welse zu lösen als durch die Aktivierung der Laien innerhalb und außerhalb des hierarchischen Apostolats.“ „Die Laienbewegung in Deutschland hat es nicht leicht, sich gegen die traditionellen Formen und Ordnungen durchzusetzen, die sie bisher nicht kannten.“ „Sie ist bisher viel zu schmal in ihrem soziologischen Ansatz, viel zu sehr ständisch begrenzt auf die bürgerlich-akademische Schicht.“ „Der deutsche Katholizismus muß, um der Situation gerecht zu werden, einen wahrhaft missionarischen Geist erst entwickeln.“ „Erhaltungsseelsorge ist Selbstmord der Kirch e.“ „Der deutsche Katholizismus muß an der allgemeinen und an seiner eigenen Ent-Täu- schung (Desillusionierung) unentwegt Weiterarbeiten. Er muß wissen und, dieses Wissen verbreiten, daß, selbst im Falle eines großen politischen Erdrutsches, die Situation der territorialen Diaspora kaum, die der geistigen überhaupt nicht verändert würde.“

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