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Es gibt keine „wirtschaftliche Neutralität“

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Wie wichtig den Europäern das Integrationsprohlem ist, konnte man erfreulicherweise an dem internationalen Presseecho ablesen, das die Einladung der EWG an die drei neutralen Staaten zu einem ersten Wiederauftreten in Brüssel hatte. Was sich am 10. November 1970 in Brüssel abspielte, war zwar nur ein formeller Akt, bei dem die Vertreter der drei Neutralen eine Art Grundsatzerklärung abgaben, aber allein, daß damit nun die offizielle Einleitung neuer Gespräche zwischen Brüssel, Wien, Bern und Stockholm deklariert wurde, erscheint nach der mehrjährigen Pause immerhin so bedeutungsvoll, daß eben dieses starke internationale Presse-Echo gerechtfertigt war.

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Wie wichtig den Europäern das Integrationsprohlem ist, konnte man erfreulicherweise an dem internationalen Presseecho ablesen, das die Einladung der EWG an die drei neutralen Staaten zu einem ersten Wiederauftreten in Brüssel hatte. Was sich am 10. November 1970 in Brüssel abspielte, war zwar nur ein formeller Akt, bei dem die Vertreter der drei Neutralen eine Art Grundsatzerklärung abgaben, aber allein, daß damit nun die offizielle Einleitung neuer Gespräche zwischen Brüssel, Wien, Bern und Stockholm deklariert wurde, erscheint nach der mehrjährigen Pause immerhin so bedeutungsvoll, daß eben dieses starke internationale Presse-Echo gerechtfertigt war.

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Die Szenerie war im übrigen eine Wiederholung dessen, was neun Jahre früher in Brüssel über die Bühne ging, als damals Österreich und die Schweiz im Juli und Schweden im Oktober 1961 ihre ersten Erklärungen zur Einleitung von Integrationsverhandlungen in Brüssel deponierten. Auch damals begann man mit einer Grundsatzerklärung, die unter ganz gleichen Voraussetzungen von Brüssel akzeptiert wurde, nämlich, daß zuerst die Verhandlungen mit Großbritannien abgeführt werden müßten, bevor man mit den Neutralen in weitere Sachgespräche eintreten könnte. Wir alle kennen dag Schicksal dieser ersten Bemühungen, deren Verlauf dann allerdings etwas anders war, als man ursprünglich angenommen hat. Als nämlich durch das berühmte de Gaulle'sche Veto am 14. Jänner 1963 die Verhandlungen mit Großbritannien abrupt abgebrochen werden mußten, erklärten die Schweiz und Schweden bei Aufrechterhaltung ihrer grundsätzlichen Standpunkte in der Integrationsfrage, bis auf weiteres kein Interesse an Gesprächen mit Brüssel zu haben, weil diesen beiden Staaten eine Integra-tionslösung ohne Großbritannien als nicht zielführend erschien, während Österreich, dessen Integrationsnotwendigkeit unbestrittenermaßen aus wirtschaftlichen Gründen weit größer ist als die seiner beiden neutralen Freunde, an der Weiterführung von Verhandlungen nach wie vor sehr interessiert war. Diese

österreichische Haltung — selbstverständlich von der Bundesregierung in einem Beschluß festgehalten und vom Nationalrat in Form der Kenntnisnahme der periodischen Integrationsberichte einstimmig bestätigt — führte zunächst zu vorbereitenden Gesprächen und sodann zu offiziellen Verhandlungen über einen „Wirtschaftlichen Vertrag besonderer Art“. Die österreichische Entscheidung, einen dem Assoziierungsparagraphen 238 des Romvertrages entsprechenden Vertrag anzustreben, hatte eine wirtschaftliche, aber auch eine politische Begründung.

Die wirtschaftliche Begründung lag und liegt einfach in der engen Verflechtung der österreichischen Wirtschaft, insbesondere der Export Wirtschaft mit der Wirtschaft der EWG-Staaten.

Heute geht der Vorschlag der EWG bekanntlich dahin, mit Österreich zunächst eine präferentielle gegenseitige Zollsenkung von 30 Prozent auf dem Industriesektor und zusätzliche Handelskontingente auf dem Agrarsektor als Zwischenlösung zu vereinbaren, was aber, schon um die ganze Sache GATT-konform zu machen, nur wirksam werden kann, wenn gleichzeitig auch die Grundsätze eines endgültigen Integrationsvertrages festgelegt werden. Die GATT-Konformität aber erfordert eine Zollunion oder eine Freihandelszone als endgültige Lösung! Auf den österreichischen Fall bezogen heißt dies nun tatsächlich nicht mehr und nicht weniger, als daß man bezüglich der Endlösung auf das Konzept der seinerzeitigen Verhandlungen zurückgreifen muß, immer unter der schon erwähnten Voraussetzung, daß die ablehnende Haltung gegenüber einem Freihandelszonensystem seitens der EWG aufrecht bleibt. Da man in den seinerzeitigen Verhandlungen aber schon eine Lösung nach dem System einer Zollunion gefunden hat, wird man darauf zurückgreifen müssen.

Nun hat das Inkrafttreten des gegenwärtig angepeilten Interimsabkommens aber noch die Voraussetzung, daß man mit den beitrittswilligen Ländern Großbritannien, Dänemark, Norwegen und Irland eine Lösung gefunden hat und daß außerdem gleichzeitig schon bekannt sein soll, wie die Integrationslösung mit allen drei neutralen Staaten aussehen wird. Letzteres bedeutet, daß auch die Gespräche mit der Schweiz und Schweden wenigstens jenen Punkt erreicht haben müssen, der die Grundsätze der Integrationslösung mit diesen beiden Staaten klarstellt. Nun darf nicht übersehen werden, daß die schweizerischen und schwedischen Integrationsvorstellungen andere sind als die österreichischen. Die Schweiz kann schon mit Rücksicht auf ihr Niedrigzollsystem nur eine Freihandelszonenlösung anstreben, weil sie ja sonst gezwungen wäre, ihre Zölle auf das Niveau der EWG-Zölle zu erhöhen, was von der Schweiz aus wohlverstandenem Interesse nie erwartet werden darf. Die schwedischen Vorstellungen aber sind bis zur Stunde überhaupt nicht bekannt. Das am 10. November in Brüssel abgegebene schwedische Statement ließ keinen Zweifel darüber, daß die schwedische Regierung gegenwärtig nicht im mindesten daran denke, konkrete Lösungsvorschläge zu machen. Es ist also sehr zweifelhaft, ob die Österreich angebotene Zwischenlösung überhaupt je realisiert werden kann und es ist noch zweifelhafter, was geschehen wird, wenn einerseits die schweizerischen Vorstellungen von einer Freihandelszone von Brüssel nach wie vor abgelehnt werden sollten und anderseits die schwedischen Integra-tiansvorstellungen nicht konkretisiert werden. Von einem gemeinsamen Vorgehen der drei Neutralen kann also in merito im Augenblick überhaupt nicht gesprochen werden.

Unter der Voraussetzung, daß die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien und den anderen beitrittswilligen Staaten zu einem positiven Abschluß gelangen — und das muß ein Wunsch aller Europäer sein! —, wird sich auf dem wirtschaftspolitischen Tableau Europas geradezu zwangsweise die Notwendigkeit ergeben, nun auch mit den Neutralen zu Lösungen zu kommen, denn geschähe das nicht, wären die drei neutralen Staaten von einem Gemeinsamen Markt von 256 Millionen Europäern ausgeschlossen; eine Situation, die als unerträglich bezeichnet werden müßte. Auf diese Uner-träglichkeit aber spekuliert man offensichtlich in Bern, wenn man die Freihandelszonenlösung als die für die Schweiz einzig mögliche anstrebt.

Man geht dabei von der Annahme aus, daß sich die Abwehrstellung der EWG gegenüber jeder Freihandelszonenkonstruktion nach dem Beitritt Großbritanniens und der anderen nicht mehr aufrecht erhalten lassen würde. Die Ablehnung einer Freihandelszone durch die EWG ist aber keine politische Emotion, sondern bisher sachlich begründet. Man fürchtet, daß durch eine Freihandelszonenkonstruktion, die etwa alle EFTA-Staaten umfaßt — es war dies das seinerzeitige Programm für eine Große Europäische Freihandelszone —, der straffe Charakter der EWG-

Wirtschaftsunion keinen Bestand haben könnte. Ob diese Überlegung an Bedeutung verliert, wenn die EWG nicht mehr nur sechs, sondern zehn Staaten umfassen wird, ist aber eine Frage, die heute noch nicht beantwortet werden kann. Zusammengefaßt sieht die gegenwärtige Situation also folgendermaßen aus:

1. Der EWG-Ministerrat beschloß in der Dezembersitzung 1969 in Den Haag, die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien und Gespräche mit den Neutralen aufzunehmen und außerdem mit Österreich in Verhandlungen über ein Interimsabkommen einzutreten. 2. Das Interimsabkommen soll als Vorstufe für einen endgültigen Integrationsvertrag aufgefaßt werden, weil ein zweiseitiges präferentielles Zollabkommen ansonsten mit Rucksicht .auf die GATT-Vorschriften nicht möglich wäre.

3. Dieser Interimsvertrag kann aber erst in Kraft treten, wenn sich die Integrationslösung für alle drei neutralen Staaten abgeklärt hat.

4. Dies hängt aber wieder weitgehend davon ab, daß die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien und den anderen beitrittswilligen Staaten soweit gediehen sind, daß mit einem endgültigen Ergebnis gerechnet werden kann.

5. Während das Ergebnis der Beitrittsverhandlungen nur die Vollmitgliedschaft bei der EWG sein kann, ist der Inhalt einer Integrationslösung mit den drei Neutralen im Lichte der EWG-Auffassungen noch offen.

6. Eine Lösung in Form einer Freihandelszone, wie sie die Schweiz anstrebt und wie sie auch für Österreich ausreichend wäre, wird bis zur Stunde von der EWG abgelehnt, jedoch kann das letzte Wort darüber wohl erst erwartet werden, wenn die Beitrittsverhandlungen zu einem positiven Ende geführt haben.

7. Für Österreich kommt, -wenn es ein echter Integrationsvertrag sein soll, entweder eine Freihandelszone mit der EWG oder ein Vertrag in Frage, der dem Inhalt dessen entspricht, was seinerzeit mit der EWG verhandelt wurde.

8. Andere Lösungen, wie etwa gegenseitige Zollsenkungen und Erleichterungen auf dem Agrarexport können für Österreich nur als Zwischenlösung oder erste Stufe angesehen werden, weil — ganz unabhängig von der Notwendigkeit der Einhaltung der GATT-Verpflichtun-gen — Österreich ansonsten nicht an der wirtschaftlichen Dynamik des Gemeinsamen Marktes teilhaben könnte.

Bleibt zuletzt noch die Frage der politischen Tragfähigkeit einer echten Integrationslösung für Österreich zu besprechen. Gemeint ist die ablehnende Haltung der Sowjetunion in dieser Frage. Hiezu kann nicht oft und eindeutig genug wiederholt werden, daß die österreichische Immerwährende Neutralität nach den Grundsätzen des international anerkannten Völkerrechts zu beurteilen ist. Dieses Völkerrecht aber kennt den Begriff der wirtschaftlichen Neutralität nicht und wir haben nicht die geringste Ursache, einen solchen Begriff im den

Codex des internationalen Völkerrechts einzuführen! Als immerwährend neutraler Staat können wir keine unkündbaren Verträge schließen, was also vis-a-vis Brüssel nicht mehr bedeutet, als daß die im Romvertrag enthaltene Unkündbarkeits-klausel in einen Vertrag mit Österreich eben nicht aufgenommen werden darf, was die EWG-Kommission bei den seinerzeitigen Verhandlungen auch restlos anerkannte. Ein neutraler Staat kann außerdem nicht auf Souveränitätsrechte verzichten, was in unserem Fall die Beibehaltung auch der Handelsvertragsautonomie „treaty making power“ bedeutet. Da es innerhalb der westlichen Industriestaaten aber mit Ausnahme der Zölle so gut wie keine Handelsbeschränkungen mehr gibt, ist dieses Völkerrechtspostulat nur für die Frage des österreichischen Osthandels relevant, für den sich Österreich bei den seinerzeitigen Verhandlungen die entsprechenden Freiheiten ausbedungen hat. Man kam gerade in diesem Punkt seinerzeit auch schon zu Formulierungen, wie sie in den angestrebten Vertrag aufgenommen werden sollten. Die dritte hier relevante Neutralitätsverpflichtung besteht in der Vorsorge für den Kriegs- oder Krisenfall. Das aber ist sowieso eine autonome Angelegenheit Österreichs, die etwa in gleicher Weise wie in der Schweiz zu lösen wäre. Die sowjetische Behauptung, daß jeder „Beitritt“ Österreichs zur EWG neutralitätswidrig wäre, entbehrt daher der sachlichen Grundlage. Daß man in Moskau in diesem Zusammenhang immer nur von einem „Beitritt“ Österreichs zur EWG und nie von einer Assoziierung spricht, sei hier nur als bezeichnendes Detaü am Rande vermerkt. Wenn also, wie wir feststellen können, die Immerwährende Neutralität sowieso in allen Belangen gewahrt wird, ist es nur unsere Aufgabe, immer wieder darauf hinzuweisen, daß jede Einmischung Dritter in die österreichische Wirtschaftspolitik schon an sich, als eine Verletzung der österreichischen Neutralität von außen bezeichnet werden müßte. Die Antwort auf die gestellte Frage, was die neue Integrationsinitiative verspricht, kann also nur so lauten: Alle Chancen, die uns nun geboten werden, können nur unter Beharren auf dem österreichischen Ziel eines echten Integrationsvertrages genützt werden. Ob dieses Ziel schon jetzt und auf dem von der EWG aufgezeigten Weg erreichbar ist, werden die Fortschritte klären, die wir bei den Verhandlungen machen können. Wichtig ist, das Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren, denn ein vielleicht auf dem gegenwärtig möglichen Verhandlungsweg noch nicht erreichbarer echter Integrationsvertrag darf nicht um das Linsengericht einiger Zollermäßigungen verkauft werden!

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