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Es glost in Belgien

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Die politischen, vor allem aber sozialen und ökonomischen Probleme Belgiens sind zwar momentan in den Hintergrund getreten vor der Brandkatastrophe vom 22. Mai, die im ganzen Land Trauer und Bestürzung erregte, haben aber dadurch nichts von ihrer Schärfe und Dringlichkeit eingebüßt. Nachdem die von der Regierung Vanden Boeynants geforderten Sondervollmachten — die jetzt ja auch in Frankreich aktuell geworden sind — einmal vom Parlament bewilligt worden waren, ist kürzlich bereits die zweite Serie von Sondermaßnahmen in Kraft getreten, die dazu verhelfen sollen, den Staatshaushalt zu sanieren und das Budget ins Gleichgewicht zu bringen. Im öffentlichen Leben traten diese Maßnahmen bisher wenig in Erscheinung, da sie mehr Bestimmungen und Einschränkungen finanzieller Operationen enthielten als direkte Besteuerungen oder Preiserhöhungen. Außerdem wurden eine erhöhte Rationalisierung der ministeriellen Administration in Angriff genommen und im gleichen Zug bereits bewilligte Kredite zum Teil stark gekürzt, so vor allem für die wissenschaftliche Forschung und den höheren Unterricht, wogegen bisher nur die akademischen Kreise energisch protestierten.

Hinter den Kulissen geht das Seilziehen zwischen den Finanz- und Wirtschaftsexperten der Regierung und den interessierten Kreisen des Bankgewerbes und der Privatindustrie zweifellos weiter. Die bisherigen wenig spektakulären Maßnahmen haben dazu geführt, die Bevölkerung wieder teilweise mit der Regierung auszusöhnen, deren Sondervollmachten sehr unpopulär und vom Volk instinktiv als gefährlich empfunden wurden. Ob diese hintergründigen Maßnahmen aber tatsächlich einen regulierenden Einfluß auf das Budget ausüben können, oder ob doch noch gewisse, vor allem sozial ins Gewicht fallende Einschränkungen dekretiert werden müssen, wird sich in absehbarer Zeit erweisen.

Noch auf einem anderen Gebiete hat es Vanden Boeynants verstanden, sich im Volk Sympathien zu erwerben: Sein überraschender Besuch bei der streikenden, das Fabrikareal besetzt haltenden Belegschaft der Firma „Germaiin-Anglo“ im wallonischen Landesteil. Die 300 Arbeiter und Angestellten hatten ihre bevorstehende Entlassung zur Kenntnis nehmen müssen, bedingt durch den Rückgang der Produktions- und Absatzmöglichkeiten der Firma. Zum Zeichen des Protestes gegen die Aufgabe der Produktion hielt die gut organisierte Arbeiterschaft die Fabrik besetzt, unterstüzt von Solidaritätskundgebungen der ganzen Bevölkerung. Das Erscheinen des Premierministers vermochte die aufgebrachten, über die ständig zunehmende Zahl der Entlassungen und die anwachsende Arbeitslosigkeit erbitterten Arbeiter zu beschwichtigen. Er wies sie darauf hin, daß ein Programm der Regierung zur Umstrukturierung des Unternehmens und zu einer eventuellen Neuplazierung der Belegschaft bereits in Angriff genommen wurde.

Es ist dies nur ein lokales Ereignis, aber in seiner Art sehr repräsentativ für die Stimmung der Arbeiterkreise in der Wall&nie. Die Firma „Germain-Anglo“ ist nur eines jener zahlreichen Unternehmen der Metallverarbeitungsbranche, die gleich den Unternehmen der traditionellen Stahl- und Textilindustrien in den letzten Jahren eine rückläufige Entwicklung durchgemacht hatten und mangels genügender Anpassungsfähigkeit das Rad nicht zurückzudrehen vermochten.

Es ist vor allem das Hennegau (Hainaut) mit der traditionellen „Industrdefurche“ von Charleroi, Möns (wo vor kurzem das neue NATO-Zentrum einquartiert wurde, ebenfalls mit dem Hintergedanken, der Region neue Flügel zu verleihen!) und La Louviere, das unter diesem Rückgang leidet. Einige Zahlen mögen dies erhärten: Innerhalb von zehn Jahren hat die Wallonie 110.000 Arbeitsplätze verloren, weitere 40.000 Verluste sind zu erwarten für die nächsten fünf Jahre; die Bevölkerung der Wallonie hat in 15 Jahren um drei Prozent zu-, die Arbeitsplätze aber haben um zehn Prozent abgenommen, so daß man die heute fehlenden Arbeitsmöglichkeiten auf 75.000 schätzen muß.

Dieser alarmierende Rückgang ist um so frappierender, als Belgien mit der Eröffnung des Gemeinsamen Marktes vor zehn Jahren einen allgemeinen Aufschwung seiner Wirtschaft und Industrie erwartet hatte, vertrauend auf seine geographische Vorzugsstellung, seine gesunde Währung und seine arbeitsfähige und -willige Bevölkerung. Heute erweist sich aber, daß sich Belgien auf dem industriellen Sektor von den sechs Mitgliedstaaten am schlechtesten entwickelt hat. Dies betrifft, wie erwähnt, besonders die traditionelle Industrieproduktion des wallonischen Landesteiles, während sich Flandern in zunehmendem Maße neu organisieren und neu investieren konnte und besonders der Gegend von Antwerpen einen erstaunlichen Aufschwung zu geben vermochte.

Worauf beruht nun aber dieser Rückgang in der Wallonie, und wer kann dafür verantwortlich gemacht werden? Der vor wenigen Tagen verstorbene langjährige flämische Minister Spinoy hatte Ende April seinen sozialistischen Parlamentskollegen aus der Wallonie vorgeworfen, sie seien „des incapables“, unfähige Leute, und es fehle der Wallonie an richtigen Männern . . . Dies ist reichlich grob ausgedrückt, enthält aber doch einige Wahrheit. Während langen Jahren fehlte es an weitblickendem Unternehmergeist, an Koordination der öffentlichen und privaten Mittel und Investitionen und — was sich heute am stärksten bemerkbar macht — am Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur. Die jüngeren Kader der wallonischen Ökonomie haben dies auch eingesehen und versuchen langsam, mit einer rationellen Planung und einer Neuorganisierung neue Investitionen zu erreichen, die allein eine wirtschaftliche Expansion einleiten und damit das Unheil steuern könnten. Tagungen der wallonischen Flügel der drei bedeutenden Parteien Belgiens folgten sich in Tournai und Charleroi, und erstmals wurden konkrete Pläne zur Rekonversion und zu einer neuen Expansion unterbreitet, die die ökonomische Realität anerkennen und nicht nur aus sentimentalen oder romantischen Forderungen nach dem Erhalt und Ausbau der altehrwürdigen einheimischen Industrie bestehen.

Diese wallonische Solidarität, die sich auch im Parlament bemerkbar macht, wird jedoch keine großen Ziele erreichen können, wenn sie sich allein dem Ausbau des wallonischen Gebietes widmen will, ohne Rücksicht und ohne Beziehungen zu den anderen Landesteilen Belgiens und schließlich zu ganz Europa. Diese Gefahr der Abkapselung scheint für die Wallonie weiterhin zu bestehen, und die weiterhin lauttönenden Rufe nach Föderalismus und strikter Tennung der drei Gemeinschaften Belgiens scheinen sich des Ernstes der Lage nicht bewußt zu sein.

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