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Es war ein böser Alptraum

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Als die „Furche“ gegründet wurde, stand das deutsch-österreichische Verhältnis auf seinem Tiefpunkt. Die Erfahrungen des Hitler-Regimes und die katastrophale Niederlage erzeugten bei Vielen Österreichern den Wunsch, für immer von den Deutschen getrennt zu bleiben. Nicht das Gemeinsame in der Geschichte, sondern das Trennende wurde gesucht. Das Anderssein erschien wie eine Entdeckung, nachdem die anfangs rauschhafte, dann immer monotoner werdende Heilsformel „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ den Ohren ein Graus geworden war. Daß Hitler aus Österreich stammte, deutete man als eine Strafe Gottes, daß Hitler-Truppen im März 1938 jubelnd begrüßt wurden, galt als eine Goebbelsche Propagandaübertreibung, und daß mehr als 99 Prozent mit Ja für den Anschluß stimmten, schrieb man dem nationalsozialistischen Terror zu.

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Als die „Furche“ gegründet wurde, stand das deutsch-österreichische Verhältnis auf seinem Tiefpunkt. Die Erfahrungen des Hitler-Regimes und die katastrophale Niederlage erzeugten bei Vielen Österreichern den Wunsch, für immer von den Deutschen getrennt zu bleiben. Nicht das Gemeinsame in der Geschichte, sondern das Trennende wurde gesucht. Das Anderssein erschien wie eine Entdeckung, nachdem die anfangs rauschhafte, dann immer monotoner werdende Heilsformel „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ den Ohren ein Graus geworden war. Daß Hitler aus Österreich stammte, deutete man als eine Strafe Gottes, daß Hitler-Truppen im März 1938 jubelnd begrüßt wurden, galt als eine Goebbelsche Propagandaübertreibung, und daß mehr als 99 Prozent mit Ja für den Anschluß stimmten, schrieb man dem nationalsozialistischen Terror zu.

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Mit dem Anderssein und der Distanzierung von den Deutschen erhofften sich die Österreicher aber auch eine bessere Behandlung von seiten der Alliierten. Sie wollten nicht als besiegt, sondern als befreit gelten, als Opfer und nicht als Streiter Adolf Hitlers. Dazu kam, daß die Macht im Staate beziehungsweise die von den siegreichen Alliierten zugelassene Macht Männer erhielten, die unter Hitler verfolgt, ja vielfach eingesperrt worden waren. Ja, die Abneigung gegen die Deutschen ging so weit, daß die Salzburger den Ruperti-Winkel erobern wollten, womit sie allerdings den Furor bava-ricus hervorriefen. Die Bayern, ihrer Waffen beraubt, drohten, mit Mistgabeln dem salzburgischen Eroberungswillen standzuhalten und die Eindringlinge auf den Zacken aufzuspießen oder über die Grenze zurückzujagen. Und Österreichs Bundeskanzler, Leopold Figl, zehn Jahre später dank seinem Charme und seiner Menschlichkeit Liebling der deutschen Journalisten, erklärte, daß die Deutschen erst arbeiten müßten, ehe sie Österreichs Freundschaft wiedergewinnen könnten. Heute muten diese Erscheinungen wie ein böser Alptraum an, doch damals waren sie bittere Wirklichkeit. Das lag nicht nur an den Grausamkeiten des NS-Regimes, die allerdings das Altreich nicht weniger trafen als das zur Ostmark degradierte Österreich, das ja nur noch ein Teil des Reiches und nicht mehr selbst ein Reich sein durfte. Es spielte auch die große Enttäuschung mit, daß sich der Traum vom Reich in eine so unvorstellbare Schmach aufgelöst hatte. Österreich, dessen Grenzen einstmals tief nach Osteuropa reichten und das nach dem ersten Weltkrieg wenigstens zum großen Teil das deutsche Gebiet der Monarchie erhalten konnte, mußte nun erleben, daß die Russen ein Drittel seines Gebietes besetzt hielten. Am deutschen Leid konnten sich jedoch die Österreicher bald aufrichten. Waren sie auch besetzt, so blieb doch die staatliche Einheit bewahrt. Auch die Grenzen von 1918/19, damals noch als Unrecht empfunden, erfuhren keine Änderung und wurden nun dankbar gleichsam wie ein Geschenk zur Kenntnis genommen. Deutschland hingegen zerfiel in zwei Staaten mit grundverschiedener Ge-seilschaftsstruktur und verlor darüber hinaus mehr als 100.000 Quadratkilometer Boden, also eineinhalb Österreich, im Osten des Reiches, darunter jenes schöne Schlesien, um das Maria Theresia viel österreichisches Blut vergossen und heiße Tränen geweint hatte. Es war der schwerste Verlust, den die Großmacht Österreich in ihrer Geschichte bis zum Untergang erleiden mußte. Mit dem Staatsvertrag aber lenkte Österreich noch einmal die Blicke der Welt auf sich und leitete die Epoche der Koexistenz zweier ideologisch sich erbittert bekämpfender Systeme ein. Der Staatsvertrag bildete den Höhepunkt des österreichischen Selbstbewußtseins, den Triumph des Andersseins, doch dieses Anderssein wurde nicht mehr als Feindschaft zu Deutschland empfunden.

Inzwischen war nämlich ein innerer

Wandel mit dem Österreicher vor sich gegangen. Er hatte seinen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Deutschland überwunden und zu seiner Eigenstaatlichkeit ein natürliches Verhältnis gewonnen. Es gab nur noch kleine Gruppen, die sich darüber stritten, ob die Österreicher auch eine eigene Nation seien. Die meisten gingen über solche Probleme hinweg, weil sie keine Existenzfrage mehr bedeuteten. Sie fühlten sich als Österreicher, die deutsch sprachen (eine eigene österreichische Sprache wurde bald als Chauvinismus und deshalb dem österreichischen Wesen Fremdes fallen gelassen) und die durch Jahrhunderte mit der deutschen Geschichte aufs Innigste verbunden waren. Die Geschichte aber belastet nicht mehr, ist keine Zwangsjacke, in die Hitler alle Deutschen steckte, ob sie wollten oder nicht. Was heute zählt,, sind einzig die Gegenwart und die Zukunft.

Weil sich aber der Österreicher mit seiner Eigenstaatlichkeit und seinem Neutraiitätsstatut abgefunden hat, ja sich wohl darinnen fühlt, deshalb konnte sein Verhältnis zu Deutschland wieder frei und freundschaftlich, sogar verwandtschaftlioh werden. Österreichs Künstler und Literaten strömen wieder in die Bundesrepublik und deren Bewohner kommen wieder als Gäste in unser Land, ja, bevorzugen es vor allen anderen Ländern, weil sie hier doch das Gefühl haben, in einem deutschen Land zu sein. Die bitterbösen Erfahrungen der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre sind auf beiden Seiten vergessen. Die Ausstrahlung Münchens nach Salzburg und Innsbruck ist wieder größer als die Wiens, doch im Gegensatz zur Zeit vor 1938 sind auch die Ausstrahlunigen der beiden österreichischen Städte nach Bayern hinein stärker als früher. Man schielt in Salzburg und Innsbruck nicht mehr nach Bayern wie vor dem Anschluß, sondern man pflegt gute, ja beste und herzliche Beziehungen. Alles spiegelt eine Atmosphäre der Selbstverständlichkeit. Das Verhältnis an der deutsch-österreichischen Grenze ist so gut und unbelastet wie das an der schweizerisch-österreichischen Grenze. Man fühlt sich verbunden und hat keine Angst, seine Eigenheit und Eigenständigkeit zu verlieren. Eine deutsche Gefahr sehen nur die Kommunisten aus leicht erklärlichen Gründen und sehen noch einige Fünfundvierziger-Zirkel, die trauern, daß keiner mehr auf die Barrikaden steigt, wenn sie die deutsche Gefahr an die Wand malen. Daß es mehr Besucher aus der Bundesrepublik als aus anderen Ländern gibt und sich mehr Betriebe unseres Landes in deutschen als in anderen ausländischen Händen befinden, hängt mit der ökonomischen Entwicklung zusammen, daß die deutschen Bundesrepublikaner dank ihrer Wirtschaftsdynamik zu den reiselustigsten Europäern geworden sind, zum anderen mit der starken Verquickung der österreichischen mit der deutschen Wirtschaft.

Die positive Entwicklung im allge-gemeinen besagt allerdings nicht, daß es keine Schatten in der deutsch-österreichischen Beziehung gibt. Die tiefsten Schatten entstanden eigentlich aus der gesunden Entwicklung der Österreicher zu sich selbst, aber auch aus dem Ermatten des nationalen Gedankens im deutschen Volk. Das Schicksal der Deutschen ist den Österreichern und das Schicksal der Österreicher ist den Deutschen gleichgültig geworden. Das Gefühl für etwas Gemeinsames kam abhanden oder ist nur noch als leise Erinnerung lebendig. Das zeigt sich darin, daß zwar deutsche Illustrierte und Zeitschriften den österreichischen Markt überschwemmen, daß aber kaum eine österreichische Zeitung' in Deutschland Verbreitung findet. Nun könnte man einwenden, daß die österreichischen Zeitungen so schlecht sind, daß sie international nicht mitzuhalten vermögen, doch das gleiche geschieht auch auf dem Gebiet des Verlagswesens, österreichische Bücher, die in Österreich verlegt werden, haben bei deutschen Buchhändlern und Lesern wenig Chancen. österreichische Schriftsteller, die in Deutschland Erfolg haben wollen, müssen deshalb nach Deutschland ziehen oder wenigstens ihre Bücher in der Bundesrepublik verlegen lassen. Leben sie aber in Deutschland, ist ihr Herkunftsland bald vergessen. Dies mag die Massen wenig berühren, vom kulturellen Standpunkt aber ist diese Entwicklung schmerzlich. Daß es nicht' so sein müßte, zeigt die Schweiz. Die deutsch-schweizerischen Schriftsteller besitzen in Deutschland ein größeres Heimatrecht als die österreichischen, ja ihr Schweizertum bringt ihnen noch eine zusätzliche Aufwertung. Die „Zürcher Zeitung“ •hat mehr Auflage in der Bundesrepublik als sämtliche österreichische ■ Tageszeitungen zusammen, was allerdings auch gegen die österreichischen Tageszeitungen spricht. Das Theater in Zürich findet in der deutschen Presse einen wesentlich stärkeren Widerhall als beispielsweise das Burgtheater, wobei die wenig geistvolle und veraltete Führung der ersten österreichischen Bühne seit rund 15 Jahren mit Schuld trägt. Die Unterschätzung Österreichs durch Deutschland ist ohne Zweifel als ein Erbe früherer Zeiten zurückgeblieben. Zum Glück hat sich das österreichische Selbstbewußtsein doch so stark gehoben, daß nicht alles, was von Deutschland kommt, kritiklos Bewunderung erfährt, und selbst die unvermeidlichen Wellen, die auf den verschiedensten Gebieten von Deutschland auf Österreich zukommen, versiegen bald und werden auf österreichische Weise inhaliert.

Die interessanteste Erscheinung auf politischem Gebiet, die den Wandel des österreichisch-deutschen Verhältnisses besonders deutlich zeigt, ist die Ostpolitik der Regierung Brandt-Scheel. In der Zwischenkriegszeit hätte eine solche Politik in Österreich die heftigsten Kontroversen hervorgerufen und ganze Seiten der Zeitungen angefüllt. Heute nimmt sie publizistisch nicht mehr Platz ein als irgendein anderes Ereignis in der Welt. „Mich brennt sein Leid, beseligt seine Seligkeit“ — dieser Ausspruch des nationalen Priesterdichters Ottokar Kernstock findet in Österreich kein Echo mehr, was die deutschen Probleme betrifft. Die deutsche Teilung berührt den Großteil der Menschen in dem Land, das Adolf Hitler hervorgebracht hat, kaum mehr als das geteilte Korea oder Vietnam. Nun könnte man behaupten, die Deutschen selbst erregt es nicht allzusehr, warum sollte es dann die Österreicher erregen. Als Symptom aber ist diese Gleichgültigkeit eine typische Erscheinung der österreichischen Nachkriegsentwicklung. Die deutsche Ostpolitik nämlich zeigt einen tieferen Riß in der bundesdeutschen Bevölkerung auf, als es bei oberflächlicher Betrachtung scheinen mag. In Österreich aber bleibt sie auf die Rubrik Weltpolitik beschränkt und wird von den bürgerlichen Gruppen mit mäßiger Skepsis, von den Sozialisten aber mit mäßiger Sympathie beurteilt. Nicht einmal die Parallelerscheinung der derzeitigen deutschen Ostpolitik mit dem österreichischen Staatsvertrag ist aufgefallen. Damals hofften die

Oststaaten auf mehr Freiheit, und jetzt hoffen sie wieder auf mehr Freiheit. Wie weit ihre Hoffnungen Trug sind, bleibt abzuwarten. Die Sowjets haben sich bis jetzt als Meister im Zerstören von Hoffnungen erwiesen.

In Zukunft werden sich die deutsch-österreichischen Beziehungen noch mehr neutralisieren. Die Generation, der Tränen in den Augen stand, wenn sie das Deutschlandlied sang, die Versailles als eine größere Schmach wertete als Saint Germain, die im Anschluß die Erfüllung ihres Lebenstraumes sah — und es waren wahrhaftig nicht nur die Nationalsozialisten —, stirbt allmählich aus. Junge Menschen, die nationalistisch denken, beschränken sich auf kleinste Gruppen. 99 Prozent der Jugend nehmen die Selbständigkeit des österreichischen Staates als etwas Naturgegebenes, als eine Selbstverständlichkeit hin. Sie haben keine Erinnerung, weder gute noch böse. Sie leiden deshalb auch nicht unter Komplexen, Verdrängungen und Enttäuschungen. Für sie ist Deutschland ein Land wie andere Länder, nur durch die gemeinsame Sprache und Kultur herausgehoben, wobei die Kultur, soweit sie lebendige, soweit sie Gegenwartskultur bedeutet, keine tieferreichende Bindungen mehr herstellt. Österreich vei-österreichert zusehends. Der Begriff der großen deutschen Schicksalsgemeinschaft ist bei den Alten noch eine Erinnerung an große Erlebnisse, bei der Jugend aber kein Erlebnis mehr und deshalb auch nicht vorhanden.

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