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Europa 25 Jahre nach Jalta

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Das Jahr 1970, das fünfundzwanzigste seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wird das Jahr der Erinnerungen, Gedenktage und „Jubiläen“ sein. Erster bedeutender Anlaß war der Jahrestag des 11. Februar 1945; des Tages, an dem die Welt erfuhr, was die „Großen Drei“, Stalin, Roosevelt und Churchill, nach einer achttägigen Konferenz im ehemaligen Zarenpalais Livadija bei Jalta über die Zukunft zu sagen hatten. Für uns Europäer hinterläßt diese Konferenz, vorläufig auf unabsehbare Zeiten, die Hauptursachen unseres widerspruchsvollen und gefährlichen Daseins:

• Den „Eisernen Vorhang“, der über der Mitte des Kontinents hängt.

• Die Zerstückelung Deutschlands und seiner Hauptstadt Berlin.

• Die umstrittene Grenze zwischen den Deutschen und dem europäischen Osten.

1946, ein Jahr nach Jalta, alarmiert Churchill die Weltöffentlichkeit mit einem drastischen Bild der neuen Lage: Die Nazis sind weg, aber in der Mitte Europas, zwischen der Ostsee und der Adria, hängt jetzt ein „Eiserner Vorhang“. Westlich davon besteht die „freie Welt des Westens“, ostwärts davon oder, wie man jetzt sagt, „hinter dem Eisernen Vorhang“, ist etwas Unvorstellbares und Unvorhergesehenes entstanden: Die „Sowjetsphäre“, in der die Hauptstädte Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia liegen. Dort ist die „wahre Demokratie“ ausgerottet; zahlenmäßig schwache kommunistische Parteien ergreifen die Macht im Staate; überall herrscht Polizeiterror; und das Ganze wird von der Sowjetmacht höchst „eigenmächtig“ gemacht.

Die Art, in der Churchill das Ganze schildert, erweckt den Eindruck, als sei er nicht nur entsetzt, sondern überrascht. Und diese Überraschung samt dem Entsetzen teilt die ganze „freie Welt des Westens“. Da, 15 Jahre später, nach der Begegnung Chruschtschows mit Kennedy in Wien (1961), bringt das Moskauer Außenministerium eine dokumentarische Erinnerung an das „seltsame Bündnis“ der Großen Drei des Zweiten Weltkrieges: den Abdruck eines russischen Textes der Protokolle und Dokumente der Kriegskonferenzen von Teheran (1943), Jalta und Potsdam (1945). Die Texte werden im Westen von Wissenschaftern und Tatzeugen anhand der Aufzeichnungen der Konferenzteilnehmer, insbe-sonders jener Churchills, analysiert und kommentiert. Trotz aller behaupteten oder tatsächlichen Textmanipulationen kann eine Tatsache nicht mehr widerlegt werden: Der Eiserne Vorhang ist keine Patentkonstruktion der Sowjets, sondern eine ost-westliche Koproduktion unter maßgebender Mitarbeit Churchills. In seinem sechsbändigen Werk „Der Zweite Weltkrieg“ macht der Expremierminister kein Hehl daraus, wie groß sein Beitrag zur Entstehung des zweigeteilten Europa gewesen ist.

Folgendes beginnt am 9. Oktober 1943: Bei seinem ersten Besuch in Moskau scheint Churchill die „Gelegenheit günstig“ zu sein, um die „Angelegenheit im Balkan“ entschlossen anzugehen. „Lassen Sie uns nicht in kleinlicher Weise gegeneinander arbeiten“, schlägt der Experte in Antikommunismus dem Generalissimus Stalin vor. Und während die Übersetzer das Gespräch hin und her gehen lassen, schreibt Churchill auf ein halbes Blatt Papier, und nur für Stalin bestimmt, die Prozentsätze auf, nach denen in Zukunft der politische Einfluß der UdSSR in den Ländern Osteuropas bemessen sein soll: In Rumänien zu 90 Prozent, in Bulgarien zu 75 Prozent, in Jugoslawien und Ungarn zu 50 Prozent. Stalin erfaßt seine Chance; er hakt die Rechnung ab und schiebt den Zettel zurück. Für einen Moment regt sich das Gewissen des Engländers. Ihn brennt das Papier in seiner Hand. Zwar hat man „das Ganze lang und sorgfältig überlegt“, indessen geht es um das

Schicksal von Millionen Menschen, die in Zukunft zur kommunistischen Welt gehören werden. Churchill will den Zettel verbrennen. „Nein“, erwidert Stalin, „behalten sie ihn“. Die Verantwortung soll bleiben, wohin sie gehört.

In Jalta fährt man dann fort, wo man in Moskau aufgehört hat. Das Beschlußprotokoll schreibt vor, wie jetzt auch in Polen und in Jugosla-vien das kommunistische Regime aufgerichtet werden soll. Von „anderen Balkanfragen“ haben in Jalta die „Großen Drei“ nur mehr in einer „allgemeinen Übersicht' geredet. 1945 ist Churchills Angebot von 1943 gegenstandslos; die davon betroffenen Länder existieren bereits in der Sowjetatmosphäre. Und: 1945 wußte man im Westen bereits, was dahinter ist. Aber man wollte den Bären nicht vergrämen.

Nach der „Curzonlinie“, mit der 1920 der Engländer Curzon den kommunistischen Osten blockieren wollte, und nach der „Eisernen Kette“, die nach westlichen Vorstellungen später quer vor Osteuropa gespannt werden sollte, dient jetzt ein „Eiserner Vorhang“ als Art politischer Cholerakordon zum Schutz vor Unannehmlichkeiten aus dem Osten. Wenn man sagt, die Wortprägung „Eiserner Vorhang“ hätte Churchill von der Goebbelspropaganda kopiert, dann ist die Konstruktion des Vorhanges wohl unbestreitbar echt britisch.

Der Preis der Niederlage wird sich erhöhen

Churchill und Roosevelt kamen nach Jalta, nachdem letzterer schon 1943 in Casablanca den Deutschen ein unconditional surrender, eine „bedingungslose Kapitulation“ abverlangt hatte. Man hatte einen „Krieg bis aufs Messer“ eskaliert, und jetzt drohte man den Verlierern,

jeder Widerstand würde den Preis der Niederlage erhöhen. Es war noch einiges in den Kaufpreis unterzubringen.

25 Jahre nachher ist es unfaßbar, wie die katastrophale Formel unconditional surrender herauskommen konnte. Roosevelt selbst löst den Zweifel: Weder er noch Churchill hatten in Casablanca Zeit, Erklärungen für die Presse zu durchdenken. Aus einem gewissen Zusammenhang hatte der Präsident noch eine Erinnerung an den US-General Grant im Kopf, der im amerikanischen Bürgerkrieg 1861/65 bei Kapitulationsverhandlungen nur ein unerbittliches unconditional surrender, die bedingungslose Kapitulation kannte — da kamen schon die Fragen der Presseleute betreffs des Endes des jetzigen Krieges in Europa. Das Ungeheuerliche, das folgte, kann nur in Roose-velts eigenen Worten beschrieben werden: „ ... und plötzlich schoß mir durch den Kopf, daß man Grant ,old-unconditional surrender' genannt hat und das nächste, was mir bewußt wurde, war, daß ich es (nämlich: bedingungslose Kapitulation) ausgesprochen hatte.'

Die Memoiren der Staatsmänner haben oft nur einen bescheidenen geschichtswissenschaftlichen Wert. Die Vernunft des Staatsmannes Churchill ist nicht selten einem Gag des Journalisten Churchill zum Opfer gefallen. Auch Roosevelt fiel in Casablanca vor der Front der Journalisten, denen er die erwarteten News nicht schuldig bleiben wollte. Die Tatzeugen mögen sich in dem, was vor, in und nach Casablanca geschah, „geirrt“ haben; das unconditional surrender von Casablanca blieb weltgeschichtlich vollwertig.

Auf Grund des Ultimatums von Casablanca wurde in Jalta das Schema für die Existenz der Deutschen nach dem Kriege gefunden:

• Erstens eine salvatorische Klausel: Es ist nicht die Absicht der Großen Drei, das deutsche Volk zu „vernichten“.

• Zweitens eine Aussicht auf einen „Platz in der Gemeinschaft der Nationen“, allerdings nach der Formel: dies incertus an — incertus quando. Nach Jalta haben die Deutschen nicht nur einen noch höheren Preis der Niederlage zu bezahlen gehabt, sondern den Höchstpreis:

• Der „Eiserne Vorhang“ hängt dort in der Mitte Europas, wo vor 1000 Jahren die Ostgrenze des Ersten Reiches der Deutschen verlief.

• Der Staat der Deutschen hat zu bestehen aufgehört.

• In einer zweigeteilten Welt stehen

sich die Deutschen in einer gefährlichen Konfrontation gegenüber.

In Abwesenheit verurteilt

Die Polen waren nicht in Jalta. Aber die polnische Frage hing wie das Damoklesschwert über dem „seltsamen Bündnis“ der Großen Drei. Am 6. Februar erinnerte Roosevelt daran, daß „die polnische Frage der Welt im Verlauf von fünf Jahrhunderten Kopfschmerzen gemacht“ habe; also müsse man sich bemühen, fuhr Churchill fort, der Menschheit die Kopfschmerzen zu ersparen; das müsse man unbedingt, schloß Stalin.

Stalin durfte wortkarg sein. Bereits 1943, in Teheran, hatte Churchill betreffs Polens an sein Spiel mit den drei Zündhölzern erinnert: Drei Zündhölzer liegen parallel zueinander auf dem Tisch. Die beiden äußeren markieren die West- und die Ostgrenze Polens vom Jahre 1939. Nun hebt Churchill das Hölzchen, das die Ostgrenze markiert, auf, führt es über die beiden anderen nach links und legt es dort als Markierung einer neuen Westgrenze nieder. Das gefiel Stalin, vermerkt Churchill an anderer Stelle. Reell ausgedrückt, geschah in Jalta: Im Osten weichen die Polen von ihrer Ostgrenze 1939 auf die 1920 von dem Engländer Curzon skizzierte Grenze zurück. Im Westen rücken sie

dafür auf Kosten der Deutschen auf eine Linie vor, die von Stettin entlang der Oder und Neisse zur Grenze der CSSR verläuft. Wieder weiß Churchill ein Vergleichsbild: Es ist, wie wenn Soldaten seitwärts wegtreten; da muß es sich einer geschehen lassen, daß man ihm auf die Zehen tritt.

De Gaulle beschreibt einmal die Tragik an der Grenze Frankreichs und Deutschlands: Woher auch der Wind weht, der über diese Wunde streicht, er bringt nur neue Schmerzen. Diese Wunde Europas ist jetzt geheilt. Das in Jalta, in Abwesenheit der Polen und Deutschen, entstandene Problem der „Oder-Neisse-Linie“ ist das große Risiko Europas. Seine Lösung wäre wahrscheinlich der Schlüssel zu einem Tor, hinter dem noch ein Weg in eine europäische Zukunft führt. Es gibt nur wenige Völker in Europa, denen das Los nationaler Zerrissenheit und staatlicher Ohnmacht so oft und so schwer auferlegt worden ist wie den Polen und wohl auch den Deutschen. Wer das polnisch-deutsche Problem von heute nicht nur ideologisch, sondern historisch sieht, wird sich wenigstens von der Vorstellung befreien können, es müsse geschehen wie in einer klassischen Tragödie, in der die Hauptpersonen unaufhaltsam einem Abgrund zutreiben.

25 Jahre nach Jalta geschehen drei Vorbereitungen, die auf lange vertagte Entscheidungen reflektieren:

• Die USA und die UdSSR werden in Wien die Gespräche fortsetzen, die der Eindämmung einer Eskalation der atomaren Rüstung dienen.

• Die Deutschen in West und Ost suchen für das Gespräch unter sich eine neue Situation.

• Die Polen und die Deutschen im Westen wollen direkte Gesprächspartner sein; nicht nur Gesprächsobjekte wie in Jalta.

Solch schwierige und komplizierte Vorgänge führen schon in der Phase der Planung und der Vorbereitung aus der Zone des Verharrens heraus, in der überall in Europa ein fataler Attentismus entstanden ist. Die Österreicher sollten sich angesichts dieser Veränderungen bewußt sein, daß jeder dieser Vorgänge mit der Lage, der Struktur und der Statur ihres Landes in enger Berührung steht. Das „Jubiläumsjahr 1970“ sollte daher in Österreich eher ein Akt der kritischen Selbstprüfung sein, ohne die eine Selbstinterpretation und Selbstbehauptung des österreichischen nicht möglich ist. So relevant Österreich dabei im Osten sein wird, so interessant bleibt es im Westen. Diese Ausgeglichenheit, nicht die Benützung der Schaukel, sollte Österreich geläufig sein, wenn jetzt die Großen hinter die Türen der Konferenzsäle gehen.

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