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Europa — aber wie?

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Ein neues Thema der politischen Literatur beginnt sich in den Vordergrund zu rücken: die deutsch-französische Annäherung, die durch den Deutschlandbesuch de Gaulles im September 1962 unerwartete Impulse erfahren hat. Dem französischen literarischen Versuch einer Versöhnung von Rene Lauret tritt jetzt Dalmas Schrift zur Seite, die in ihrem ersten Teil an Hand überlegt ausgewählter Zitate aus de Gaulles Memoiren („Die Furche“ 6/1955 und 34/1956) die Politik des französischen Präsidenten darlegt, im zweiten Teil den „Lawineneffekt“ der Deutschlandfahrt schildert. De Gaulles Weg ins Jahr 1962 war kein gerader, wofür Adenauer am 5. September 1962 die Erklärung gab: „In der Außenpolitik entscheidet das Interesse allein über das, was ein Land tut; nicht die Liebe, nicht der Haß...“ (S. 95 f.). Das Interesse Frankreichs sah General de Gaulle im systematischen Fortschreiten von der Wiedergewinnung innerer Stärke nach dein Zusammenbruch von 1940 durch Reform der parlamentarisch-demokratischen Praxis und Liquidierung der algerischen Frage bis zur Erlangung der Sicherheit gegen eine vierte Invasion seit 1870 bis 1871, 1914 bis 1918 und 1940 bis 1945. Erst als gleichberechtigter Partner sollte Frankreich dem deutschen Nachbarn die Hand reichen; dabei dachte de Gaulle nie daran, das neue Deutschland nach Kriegsende zu erniedrigen oder gar zu schwächen: „Im Gegenteil, wir wollen, daß es gedeiht“ (S. 52). Das ist die weise Befolgung von Voltaires Grundsatz: „Der Sieger zieht nie Vorteil aus der Verarmung des Unterlegenen“ und von Metternichs Vernunftfrieden, der 1815 Frankreich zugebilligt worden war.

Nach der französis.ch-deutschen Verbrüderung wünscht der Staatschef Frankreichs — wie aus den wiedergegebenen Reden hervorgeht — wieder in Etappen Schritt für Schritt zunächst ein festgefügtes Westeuropa, dann aber ein geeintes Ganzeuropa, das alte Abendland bis zum Ural (I), ein Europa als „politische Einheit“, „Politik, Wirtschaft, Kultur und Verteidigung“ umschließend, nicht hege-monial, sondern föderalistisch aufgebaut. Im Zentralismus erblickt de Gaulle das Verhängnis für das Deutschland der Hohen-zollern und Hitlers, deshalb müßte ein neues Europa „den föderalistischen Zusammenschluß seiner Nation“ bringen, nie aber einen „Totalitarismus“.

Daß sich alte Feinde nach dem Verstummen der Waffen verbünden, ist nichts neues in der Geschichte; Rußland war zum Beispiel mit Österreich, Frankreich, der Türkei, Japan und Deutschland ebensooft im Krieg wie verbündet. Gemeinsame Gefahr eint im gegebenen Fall, so jetzt die Erbfeinde im Westen Europas. Die Deutschlandfahrt de Gaulles brachte keine neuen Papierparagraphen, sie mobilisierte jedoch die Massen für die Idee eines Zusammengehens, und man stellte diese Idee vor die wirksamen Kulissen gemeinsamer römischer Vergangenheit und — was schon da war — Karls des Großen. Nach der Lektüre von Dalmas ausgezeichneten Erwägungen bleibt beim Leser eine gewisse Besorgnis, ob nicht die Epigonen de Gaulles und Adenauers die große Idee in neuem parteipolitischen Gezanke und außenpolitischem Dilettantismus werden ersticken lassen, ob das grandiose Spektakel vom September 1962 nicht als Feuerwerk oder gar als Strohfeuer endet. Die alltägliche Beeinflussung der Massen durch die banalen Egalisierungen von bedeutenden politischen Akten mit Sport und sensationellem Kleinkram in Rundfunk und Fernsehen nimmt den Menschen nach und nach die Unterscheidungsfähigkeit, so ist auch de Gaulles und Adenauers Treffen auf deutschem Boden nur als einer der unzähligen Staatsbesuche vorbeigerauscht. Dalmas Verdienst ist es, gezeigt zu haben, daß t» um mehr ging, daß die beiden Staatsmänner einen mächtigen Meilenstein errichtet haben auf der Straße, die sich vom geeinten Deutschland-Frankreich über Ganzeuropa zur einvernehmlichen Politik mit England und den USA öffnet. Der Weg bleibt lang und •teil, im Augenblick erscheint de Gaulle als der größere Gewinner für seine persönlichen Pläne, die für Frankreich gelten.

Da» Ringen um Europas Neugestaltung nimmt seinen Fortgang, und wahrlich, es fehlt an Ideen dazu keineswegs. Der Schweizer de Reynold greift tief in die Geschichte und untersucht die Beiträge Jerusalems, Griechenlands und Roms zur Begründung Europas, das aber im Wesen vom Christentum geschaffen worden ist: „Europa ist die Tochter des Christentums ... ich möchte sagen, daß Europa sich nur auf jenem Fundament behaupten kann, das es begründet hat.“

Der Deutsche Hans Christ bezieht eine andere Ausgangsstellung zum Thema „Europa, aber wie?“ Er versucht, die Begriffe Staat, Nation, Volk zu definieren, wobei er (ich zur Nation in dem Sinn bekennt, als er sagt, es sei „die Respektierung der Tatsache wichtig, daß die Nationen von dem Willen beseelt sind, auch in Zukunft am Leben zu bleiben“. Allerdings fordert er eine Wandlung des Nationalismus zu „Gemeinschaften auf personaler und pluralistischer Grundlage, befähigt zum Eintritt in supranationale Zusammenschlüsse“. Unwillkürlich stößt Christ dabei auf das alte Österreich-Ungarn, dessen monarchische Verfassung er zwar ablehnt, dessen Vorzüge als „Völkermutter“ und als „Wirtschaftsraum“ er aber nicht leugnen kann. Als Lösung findet der Leser, „daß Europa nicht auf hegemonialer Grundlage, sondern nur auf der Grundlage der5 Partnerschaft gleichberechtigter und als gleichwertig anerkannter Nationen (zu denen auch Österreich gehört, S. 54) begründet werden kann... eine Synthese zwischen Großraum und Klcinraum und zwischen persönlicher Freiheit und Bindung an die Gemeinschaft“.

Als Vierter meldet sich der Österreicher Daim zu Wort; ihn kennen wir schon aus seinem Buch „Totaler Untergang?“ (nämlich durch die modernen Waffen), gegen den er eine integrale Menschheitskultur und eine „Menschheit als Ganzes“ empfiehlt. In der „Strategie des Friedens“ rückt nun Daim Österreich als „Sonderfall“ (S. 82 bis 112) und als Sitz der UNO (S. 141 bis 152) in den Vordergrund, einen kritischen Abriß der Geschichte von den Nibelungen bis zum Staatsvertrag bietend. Was hier über zahlreiche aktuelle Fragen, wie über die geographische Lage, die Alldeutschen, die Koalition, das „Nazi“-Problem, die „schleichende Unterwanderung der österreichischen Machtsubstanz“, deutsche und sowjetische Einflüsse, Stärken und Schwächen der Parteien, das Bundesheer und anderes mehr, gesagt wird, ist nicht in allem der Zustimmung, doch des Interesses sicher. Die Untersuchungen münden in das globale Programm einer Liberalisierung dei Kommunismus, einer Sozialisierung des Amerikanismus, einer totalen Abrüstung, einer gesteigerten Betätigung der Kirchen für den Frieden und der Herbeiführung einer „universellen Brüderlichkeit“.

Wenn soviel von und über Europa gesprochen und geschrieben wird, sollte auch auf die Realitäten und nicht bloß auf die Reorganisationsrezepte geachtet werden. Unter die Realitäten gehört einmal die Tatsache, daß der europäische Kontinent heute geteilt ist, daß fast die Hälfte der Europäer der östlichen Welt angehört, daß der westliche Teil weder geistig noch politisch geschlossen ist, daß es also das alte Europa derzeit gar nicht gibt. Dann sollte doch die Frage beantwortet werden, wieso man bis 1914 in ganz Europa, mit Ausnahme von Rußland, kreuz und quer, ohne Integration, ohne Paß und mit voller Geldwechselfreiheit reisen konnte? Zum dritten sollte man sich an Metternichs Rat erinnern, Europa brauche nicht „Einheitlichkeit“, sondern „Einigkeit“.

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