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Der in Paris lehrende Historiker Jean-Paul Bled ist der anerkannteste Experte für österreichische Geschichte im französischsprachigen Raum. Im FUR-CHE-Gespräch geht er auf die Situation Europas vor und nach dem Ersten Weltkrieg, aber auch auf die mögliche Rolle der Donaumonarchie als Vorbild für die spätere Europäische Union ein.

DIE FURCHE: Sie gelten als ausgewiesener Kenner der österreichischen Geschichte, nicht nur aus französischer, sondern auch aus europäischer Warte. Zahlreiche Ihrer Monographien behandeln Wien und die Habsburgermonarchie. Was hat Sie als Franzose bewogen, sich besonders für die Mitte Europas zu interessieren?

Jean-Paul Bled: Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Aber die Lieben, die sich langsam entwickeln, sind oft die stärksten. Im Gymnasium habe ich fast nie von Österreich gehört. In der Zeit meiner Studentenjahre war es nicht viel besser. Der Zufall hat mich nach Österreich ausgerichtet. Als Thema meiner Magisterarbeit habe ich Albert Schäffle, einen großdeutschen Politiker aus Württemberg, bearbeitet. Nach Königgrätz hat er einen Lehrstuhl an der Universität Wien erhalten und ist übrigens Minister in der Regierung des Grafen Hohenwart gewesen. Als Forschungsthema meiner "Thèse de Doctorat d'Etat" habe ich die Grundlagen des österreichischen Konservativismus studiert. Von dieser Zeit an bin ich jedes Jahr drei oder vier Mal nach Wien gereist. Ich war auch in verschiedenen Ländern der alten Monarchie. Dies alles hatte zur Folge, dass ich nach und nach mit Verhältnissen vertraut wurde, die von der französischen Tradition weit entfernt sind. Ich habe einen multinationalen und multikulturellen Raum entdeckt. Diese Pluralität hat faszinierend auf mich gewirkt.

DIE FURCHE: Im deutschsprachigen Raum wurde in den vergangenen Jahren die These von der Allein-bzw. Hauptschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg eingehend unter Historikern diskutiert. Wie sieht das die französische Geschichtswissenschaft heute? Und: Geht es heute nicht weniger um (individuelle) "Schuld" denn um (kollektive) "Verantwortung"?

Bled: Es ist eine Tatsache, dass Österreich-Ungarn und dann Deutschland den Krieg erklärt haben. Es stimmt auch, dass die Verantwortlichen des deutschen Heeres damit gerechnet hatten, dass die russische Wehrkraft ab 1917 nicht mehr zu stoppen wäre. Diese Argumente erschöpfen aber nicht das Thema. Man muss auch das Bündnissystem in Betracht ziehen. Seine Konsequenzen waren fatal. Zweimal hatte die französische Diplomatie Russland den Arm gehalten. Die Lebensinteressen von Frankreich standen im Balkanraum nicht auf dem Spiel. In den Balkankriegen hatte sich Deutschland genau so in Bezug auf Österreich-Ungarn benommen. Was nützt aber ein Bündnis, wenn einer der Verbündeten wegen seines Partners nicht intervenieren kann? Im Juli 1914 fürchtete sich Deutschland davor, Österreich-Ungarn als Verbündeten zu verlieren. Deshalb versuchte Berlin nicht, Wien zu bremsen. Genauso verhielt es sich mit Frankreich, das das Argument seiner Lebensinteressen Russland gegenüber nicht verwendete.

DIE FURCHE: Haben sich - im Vergleich zu früheren Arbeiten zum Ersten Weltkrieg, in denen es mehr um Offensiven und Schlachten ging - die Schwerpunkte der historischen Forschung verlagert? Welche Aspekte werden heute national wie international mehr betont, welche weniger?

Bled: Die Literatur über den Ersten Weltkrieg hat sich zunächst auf die militärischen Operationen konzentriert. In Zusammenhang mit diesen Operationen wurden auch diplomatische Aspekte des Krieges diskutiert. Diese Themen werden zwar heute nicht vernachlässigt, doch sind neue Forschungsgebiete hinzugekommen. Damit wurden die Perspektiven erweitert. Man hat sich immer mehr für diverse Aspekte der "inneren Front" interessiert. Die Historiker befassten sich intensiv mit den inneren Machtverhältnissen, zum Beispiel mit dem Weg zur Militärdiktatur in Deutschland. Das Leben der zivilen Bevölkerung während des Kriegs ist ebenfalls zu einem der Hauptforschungsthemen geworden. Das Los der Soldaten an den verschiedenen Fronten wurde in vielen Büchern und Artikeln analysiert. Die kürzliche Entscheidung von Emmanuel Macron, die Leiche von Maurice Genevoix in das Panthéon zu transferieren, ist eine offizielle Anerkennung der Poilus [Anm.: französische umgangssprachliche Bezeichnung für einen französischen Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges]. Genevoix war nämlich ein junger Frontoffizier, der später viel über das Leben seiner Kameraden in den Schützengräben geschrieben hat.

DIE FURCHE: Die Pariser Vororte-Verträge von 1919 ff. unterschieden sich in ihrer Härte diametral von jenen des 19. Jahrhunderts, aber auch von der Vorgangsweise nach dem Zweiten Weltkrieg. Welche Konsequenzen hatte das für die weitere Entwicklung weltweit, in Europa, aber auch -um diesen Raum nicht zu vergessen -im Nahen Osten? Bled: Der Kontrast zwischen dem Wiener Kongress und den Pariser Verträgen ist evident. Könnte es anders sein? Die Diplomaten, die wie Castlereagh, Metternich oder Talleyrand die Hauptrollen beim Wiener Kongress spielten, waren noch Männer des "Ancien Régime". Sie wollten eine auf dem Prinzip des Gleichgewichts basierende Ordnung bauen. Ein Jahrhundert später ist der Erste Weltkrieg ein "demokratischer Krieg", wie es Jacques Bainville formuliert hat. Dazwischen waren die Völker zu Faktoren des historischen Geschehens geworden. Nach vier Jahren Leiden, Wut und nationaler Leidenschaften konnte nicht mehr von Gleichgewicht die Rede sein.

DIE FURCHE: Wo lagen die Ursachen für das gerade in der Figur Georges Clemenceaus verkörperte offensive bis aggressive Verhalten gegenüber der jungen Republik? Gab es abseits der Staatsspitzen auch andere Kontakte zwischen Frankreich und Österreich rund um Saint-Germain?

Bled: Man darf nicht vergessen, dass die alte Monarchie schon vor dem Ende des Krieges zusammengebrochen ist. Übrigens sind auch die Nachfolgestaaten vor dem Beginn der Friedenskonferenz entstanden. Selbstverständlich war nie von einer Restauration der Habsburgermonarchie die Rede. Interessant ist aber, dass ein Ziel der französischen Diplomatie ab den 1920er Jahren die Bildung einer Donaukonföderation war, was beweist, dass sie um das Vakuum im Herzen Europas und dessen Gefahren wusste. Was Clemenceau betrifft, wäre es zu einfach, ihn als einen Österreichhasser zu schildern. Bis zur Bosnienkrise (1908) hat er auf ein Bündnis zwischen Frankreich und Österreich-Ungarn gehofft. Nach dem Krieg war das Hauptmotto seiner Politik die Sicherheit von Frankreich. Anders ausgedrückt bedeutete das: Deutschland schwächer zu machen, damit es nie wieder eine Gefahr für Frankreich werden könne. Aus dieser Perspektive war es ihm unmöglich, den Anschluss von Österreich an das Deutsche Reich zu befürworten. Man konnte nicht mit einer Hand Territorien von Deutschland nehmen und ihm mit der anderen Hand Territorien wie Österreich geben. Diese Position wurde von allen französischen Verantwortlichen geteilt.

DIE FURCHE: "Was wäre, wenn"-Fragen sind in der Geschichtswissenschaft verpönt. Dennoch: Wie hätte die Entwicklung des 1914 in vieler Hinsicht potenten Kontinents ohne seine "Selbstzerstörung" im Ersten Weltkrieg aussehen können, und war die Donaumonarchie im Guten wie im Schlechten eine Art Vorbild für die Europäische Union nach dem Zweiten Weltkrieg?

Bled: Die Habsburgermonarchie hätte wahrscheinlich den Krieg überlebt, wenn der Friede schon 1917 geschlossen worden wäre. Nach diesem Termin war sie zum Tode verdammt. Mir scheint zweifelhaft, dass die Habsburgermonarchie als Modell der europäischen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg gedient hat. Die Ideologie der drei "Väter von Europa" wurzelte in der universalen Tradition des Katholizismus. Weder Konrad Adenauer noch Robert Schuman hatten direkte Beziehungen zu Österreich-Ungarn. Hingegen war Alcide De Gasperi ein geborener Österreicher. Er war lange ein Anhänger der Monarchie. Während des Krieges ist er zwar zu einem Befürworter der Sezession geworden, aber es ist doch höchst wahrscheinlich, dass ihn Altösterreich mit seinen föderalen Strukturen beeinflusst hat.

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