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Europa der praktischen Lösungen

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„Unsere Zeit ist eine der prak tischen Lösungen“. Mit diesen Wor ten begrüßte General de Gaulle dei deutschen Bundeskanzler Erhardbe dessen letztem Besuch in Paris. Unc der deutsche Außenminister Schröder gab das Echo: „Wir suchen nach praktischen Lösungen“.

Das „Europa der praktischei Lösungen“ ist das Ergebnis der großen Krise, in welche die EWG an 30. Juni des Vorjahres stürzte unc die am 30. Jänner 1966 ihre Kompromißlösung fand; das Schlagwort so! den Charakter des Kompromisses und die Weiterentwicklung dei europäischen Zusammenarbeit beschreiben. Was bedeutet aber diesei Begriff, der als Sieg des politischer Realismus und der Vernunft präsentiert wird, für Europa im allgemeinen und für die EWG im besonderen? Bedeutet er Fortschritt auf dem Weg der europäischen Einigung odei aber die stille Resignation?

An der Wurzel der Krise der EWG lag die Auseinandersetzung zwischen Frankreich und seinen fünf Partnern über Wesen und Ziele der Wirtschaftsgemeinschaft beziehungsweise der europäischen Zusammenarbeit überhaupt. Frankreich wendet sich, ungeachtet der ursprünglichen Konzeption und der konkreten Bestimmungen des EWG-Vertrages, gegen die Abgabe von Souveränitätsrechten an übernationale Organe, die einen eigenen, am gemeinsamen europäischen Nutzen orientierten politischen Willen hätten; es wendet sich gegen Mehrheitsbeschlüsse in solchen Organen über Fragen, die wichtige nationale Interessen einzelner Mitgliedstaaten berühren. Frankreich will die europäische Einigung zurückbinden auf eine Zusammenarbeit souveräner Staaten beziehungsweise deren Regierungen im Rahmen von Organen, die grundsätzlich nur einstimmige Beschlüsse in wesentlichen Fragen kennen. Nicht das höhere Interesse einer europäischen Gemeinschaft — wie es die Architekten des Rom-Vertrages wollten — sondern das nationale Eigeninteresse soll die einzige und letzte Räson sein, an der sich die Zusammenarbeit orientiert.

Die fünf EWG-Partner Frankreichs leisteten diesem Verlangen gegenüber Widerstand; besonders die Kleinstaaten unter ihnen sehen in den supranationalen Konstruktionen und Verfahren eine Garantie gegen die Übermacht der Großen der Gemeinschaft. Frankreich konnte daher eine formelle Revision des EWG-Vertrages, seine Entblößung von supranationalen Elementen und Bestimmungen nicht durchsetzen. Ist die Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer echten, integrierten Gemein schaft im Sinne ihrer Gründer un des Rom-Vertrages damit aber aud gesichert? Oder kann man wenigstens sagen, daß der in Luxemburg gefundene Kompromiß weder Siegel noch Besiegte kennt?

Optisch mag zumindest die letzter« Behauptung stimmen. Der Blick ir die Zukunft muß jedoch mit Sorgt erfüllen.

Richtig, es ist vorderhand gelungen, den Vertrag von Rom forma: unversehrt zu erhalten. Das wichtigste supranationale Instrument aber das der Rom-Vertrag vorsieht unc welches am 1. Jänner 1966 vertragsgemäß verwirklicht werden sollte — nämlich Mehrheitsbeschlüsse im Ra der EWG — ist de facto für alle jene Fälle suspendiert worden, die wichtige Interessen eines Mitgliedstaates berühren. Sollten sich die Partnei Frankreichs über die entsprechende französische Erklärung vom 30. Jänner in Luxemburg hinwegsetzen — was sie nach den Worten des geltenden EWG-Vertrages durchaus könnten —, dann würde die GemeinischafI in eine neuerliche Existenzkrise stürzen. Die Bestimmung des Rom- Vertrages über Mehrheitsbeschlüsse ist daher heute praktisch-politisch leer.

Und die EWG-Kommission, die gedacht ist als Hüterin des Vertrages, Motor eines fortschreitenden Einigungsprozesses und Treuhänder eines neuen Gemeinschaftswillens? Sie bleibt in ihren vertraglichen Rechten grundsätzlich uneingeschränkt. Doch kann man nicht übersehen, daß Frankreich alles unternimmt, um ihre tatsächliche Einfluß- und Wirkungsmöglichkeit auf pragmatische Weise zu beschneiden und sie in Richtung auf eine Art Sekretariat des Ministerrates zurückzudrängen; es scheint, daß Frankreich in diesem Bemühen Verbündete findet. Man beobachtet bereits bei den laufenden Agrarverhandlungen in der EWG die Tendenz, Vorbereitungsarbeitein, Verhandlungen auf unterer Ebene und Kompromißbemühungen aus dem Rahmen der Kommission in Komitees von Regierungsvertretern, die an die Weisungen ihrer Hauptstädte gebunden sind, zu verlegen. Die sehr aktuelle Frage der personellen Neubesetzung der Kommission wird wohl auch als Hebel in dieser Richtung verwendet werden.

Man mag einwenden, daß die europäischen Einigungsbemühungen heute einfach eine zeitlich befristete Durststrecke zu überdauern hätten; Änderungen in der Führung Frankreichs würden es in absehbarer Zukunft doch wieder erlauben, den unterbrochenen Weg zur Integration fortzusetzen.

Es gibt Überlegungen, die diesen Optimismus fraglich machen. Die im Grundsätzlichen kompromißlose Haltung, die Frankreich innerhalb der EWG nun schon jahrelang in dem Beharren auf seinen nationalen Vorstellungen und bei der Durchsetzung seiner nationalen Interessen zeigt, hat das Vertrauen seiner Partner in eine für alle verbindliche europäische Loyalität ausgehöhlt, wenn nicht schon zerstört. So muß auch die Bereitschaft erschüttert werden, für ein gemeinsames höheres Interesse nationale Belange zurückzustellen, ja zu opfern. Selbst eine Regierung, die weiterhin von bestem europäischem Willen getragen würde, könnte es sich gegenüber ihrer öffentlichen Meinung nicht erlauben, dauernd weitere Opfer an nationalem Interesse auf dem euro päischen Altar darzubringen, wenn ein anderer großer Partner seine nationalen Vorstellungen konsequent und ohne Rücksicht verfolgt. Es ist zu fürchten, daß den Bemühungen um die europäische Integration die notwendige tragfähige Basis des gegenseitigen Vertrauens und der Gemeinsamkeit des Zieles verlorengegangen ist.

Ein zähes Feilschen zwischen nationalen Interessen, ohne die Bereitschaft zu Vorleistungen und Opfern für das gemeinsame Ziel, wie wir sie bisher in der EWG trotz aller Schwierigkeiten kannten, wird wohl den künftigen Stil bestimmen. Es wird schwer sein und es würde jedenfalls sehr lange dauern, den Weg zurückzufinden.

Ein anderes läßt einen die Vorstellung von der befristeten Durststrecke, die es halt zu überdauern gilt, mit Skepsis beurteilen. Das nationalistische Element ist keine Erfindung und Besonderheit des Gaullismus, sondern vielmehr eine Konstante der französischen Außenpolitik. Denn nur das Zusammentreffen akuter äußerer Bedrohung, materieller Armut und des Druckes von Seiten der großen Schutzmacht führten in den fünfziger Jahren zu der Bereitschaft Frankreichs, weitgehende Bindungen in Richtung einer europäischen Integration einzugehen. Diese Annahme schmälert nicht das Verdienst der großen Europäer Frankreichs, der Robert Schumann und Jean Monnet, sondern sie unterstreicht es.

Es wäre auch voreilig, das Ergebnis der jüngsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich als pro-europäische Manifestation zu qualifizie ren. Lecanuet, der als einziger eine grundsätzliche und glaubhafte Alternative zu de Gaulles Europa-Politik anbot, erhielt schließlich alles in allem nur 15 Prozent der Stimmen. In die für Mitterand abgegebenen Stimmen läßt sich wohl kaum eine echte außenpolitische beziehungsweise europäische Opposition zu de Gaulle hineininterpretieren. Es wäre daher verfehlt, anzunehmen, daß mit dem Anbrechen der nachgaul- listischen Periode Frankreich sozusagen automatisch auf Integrationskurs umschalten würde.

Das Europa der praktischen Lösungen ist in Methode und Ziel bescheiden. Fragen, bei denen man um die konträren Auffassungen weiß, wird man beiseite lassen — allerdings handelt es sich dabei um so grundsätzliche Fragen, wie Form und Ziel der europäischen Zusammenarbeit und die Stellung und Rolle des freien Europa in der Welt und insbesondere gegenüber den Vereinigten Staaten.

Man wird also auf pragmatischem Weg versuchen, bei der Verwirklichung der Zoll- und auch der Wirtschaftsunion der EWG weiterzukommen. Nun ist aber Pragmatismus an sich keine Lösung, sondern nur eine Methode, um zu Lösungen zu gelangen — eine sehr brauchbare und auch bewährte Methode in der internationalen Zusammenarbeit. Diese Methode ist zielführend, wenn zumindest grundsätzlich Einigung über das angestrebte Ziel besteht. Sie ist nicht sehr ergiebig, wenn diese Einigung fehlt oder wenn gar von vornherein konträre Auffassungen über das Wesen des angestrebten Zieles bestehen. So erkennen wir die engen Grenzen, die einem Erfolg des „Europa der praktischen Lösungen“, gemessen am ursprünglichen Ziel der EWG und der europäischen Einigungsbewegung, gesetzt sind.

Die neue pragmatische Methode wird sich bereits an den beiden vordringlichen Problemen, die die EWG derzeit zu lösen hat, bewähren müssen — der gemeinsamen Agrarpolitik und der EWG-Haltung in der Kennedy-Runde. Vor allem die Bundesrepublik Deutschland macht

Konzessionen in agrarpolitischen Fragen von entsprechenden Zugeständnissen Frankreichs für di« weltweiten Zollverhandlungen dei Kennedy-Runde abhängig. Abei schon stoßen wir wieder an Grundsatzfragen — denn die Zoll- und Wirtschaftsverhandlungen der Kennedy-Runde berühren unmittelbar das Verhältnis Europas zu den USA, sollte doch die Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen EWG und den USA zum wirtschaftlichen Pfeiler des Gebäudes der atlantischen Partnerschaft werden.

Wir haben in der Vergangenheit gesehen, daß die interne Entwicklung der EWG oft eine Funktion politischer, vor allem außen- und verteidigungspolitischer Konzepte ist. Bestes Beispiel war das Scheitern der EWG-Beitrittsverhandlungen Großbritanniens im Winter 1963. Die Gegensätze zwischen Frankreich und seinen europäischen Partnern sind auf den Gebieten der Außen- und Verteidigungspolitik heute schärfer und akuter denn je. Die Auseinandersetzung über die Frage der Supranationalität ist vorläufig suspendiert, aber nicht gelöst. Die Probleme der Integration und Nuklearpolitik im Rahmen der NATO treten in ein Stadium akuter Krise, ja die Zukunft der nordatlantischen Verteidigungsorganisation selbst steht auf dem Spiel. Die Zusammenarbeit innerhalb der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird von diesen Entwicklungen betroffen werden.

Als Lichtblick in der europäischen Zusammenarbeit werden die verbesserten Chancen für den britischen EWG-Beitritt betrachtet. Tatsächlich zeigt sich in der öffentlichen Meinung Englands ein Umschwung zugunsten Europas, und auch General de Gaulle findet freundliche, wenn auch unverbindliche Worte für den Nachbarn jenseits des Ärmelkanals. Allerdings meldet die aus den Parlamentswahlen siegreich hervorgegangene Labour-Party kräftige Vorbehalte, besonders gegenüber der EWG-Agrarpolitik an, und Premierminister Wilson hat mit seiner neuen Verteidigungspolitik noch vor den Wahlen eine deutliche Option für die USA vorgenommen.

Die Aussichten für einen britischen Beitritt zur EWG sind daher — vor allem was den Zeitpunkt betrifft — mit großer Vorsicht zu beurteilen.

Jedenfalls läßt die Entwicklung in Europa die volle Teilnahme Großbritanniens an der europäischen Zusammenarbeit heute wünschenswerter denn je erscheinen. Die Präsenz Englands würde eine bessere Verteilung der Macht im europäischen Kräftespiel gewährleisten, und seine großen demokratischen Traditionen würden einen Orientierungspunkt für den weiteren Weg der europäischen Völker bilden.

Für Österreich hat die künftige Entwicklung in Europa größte Bedeutung. Das Ziel, zu einer wirtschaftlichen Vereinbarung mit der EWG zu gelangen, bleibt Sicher aufrecht: nicht, weil eine solche Vereinbarung ein Allheilmittel für die Nöte aller in diesem Lande wäre — die wirtschaftliche Verbindung mit dem EWG-Markt dürfte anfänglich sehr schmerzhafte Wirkungen haben; nein, Österreich will auf diesem Wege veraltete Strukturen auf- irechen und seine Wirtschaft nodem, fortschrittlich und damit cräftiger gestalten.

Die Unsicherheit der Zukunft Europas und der europäischen Zu- tammenarbeit mahnt jedoch zu besonderer Vorsicht und Wachsamkeit, wo es bei der Vereinbarung nit der EWG um die Wahrung der mmerwährenden Neutralität Öster- eichs und damit um die Wahrung einer Handlungs- und Entschei- lungsfreiheit geht. Denn gerade in '■er heutigen Situation Europas darf Österreich die Kontrolle und Ent- cheidungsfähigkeit über sein eigenes Schicksal unter keinen Umständen verlieren.

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