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Europa fährt über den Brenner

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Am 17. November wird das erste Teilstück der Brenner-Autobahn, die Strecke Innsbruck—Schönberg, eröffnet. Dieses Autobahnstück hat vor allem durch den Bau der Europabrücke grofje Bedeutung.

BREMSEN, AUSKUPPELN, Handbremse anziehen, Gang heraus — warten; Kupplung, erster Gang,, Handbremse lockern, anfahren; bremsen, auskuppeln, Handbremse, Gang heraus — warten; Kupplung, erster Gang Ein Perfektionskurs in der Fahrschule? Keineswegs. Das ist die „Fahrschule“ tausender Autofahrer auf der Brennerstraße zwischen Stefansbrücke und der Abzweigung der Stubaier Straße. Die 65 Kurven auf dieser Strecke werden somit „spielend genommen“. Dazu brennt die Sonne unbarmherzig auf das Autodach. Deshalb fahren viele, besonders „Eingeborene“, trotz Verbot über den alten, schmalen und steilen Schönbergweg, von dem Ludwig Steub in „Drei Sommer in Tirol“ berichtet, daß bei der Bergfahrt acht oder zehn Rosse die schweren Frachtwagen gezogen haben, und „wenn sie abwärts fuhren, so war das ein grausliches Ansehen, wie trotz der zwei oder drei Radschuhe der Wagen dämonisch dahinrollte, kaum aufzuhalten durch die stärksten Rosse, die, die Gefahr im Rücken ahnend, mit leuchtenden Augen und schäumenden Rachen zu zögern strebten, soviel sie vermochten, während der geängstigte Fuhrmann sie mit Drohungen und Flüchen unaufhörlich besprach“.

Schon zur Zeit Maria Theresias wurde erwogen, dieses Steilstück des Brennerweges auszuschalten, aber erst hundert Jahre später ist es tatsächlich dazu gekommen. Zwei italienische Baufirmen legten auf der Sill-Seite (der alte Weg führte im Stubaltal aufwärts) eine vollkommen neue Trasse mit den berühmt-berüchtigten 65 Kurven an.

AN EINEM STRAHLEND SCHÖNEN Frühlingstag, am 25. April 1959, hoben Minister Dr. Fritz Bock und der inzwischen verstorbene Landeshauptmann Dr. Hans Tschiggfrey die ersten zwei Schaufeln Erde beim Patscher Widerlager der Europabrücke aus dem Boden.

Für das Teilstück Innsbruck — Schönberg wurden fünf Trassen studiert.

Die ersten drei Varianten wären ausgesprochene Durchzugsstraßen in Nord-Süd-Richtung geworden, weil sie den Westverkehr nicht hätten aufnehmen können. Die westliche Trasse hätte keinen besonderen Vorteil gebracht, wäre aber infolge der größeren Länge bedeutend teurer zu bauen gewesen. Die zur Ausführung gekommene Variante über die Europabrücke nach Schönberg nimmt sowohl den Ost- als auch den Westverkehr auf und beansprucht im Gegensatz zu allen anderer. Varianten am wenigsten Kulturgrund.

, Die Strecke vom Berg Isel nach Schönberg war in sieben Baulose unterteilt. Das erste Baulos mit Anschlußstelle nach Mutters und Nat- ters reicht bis zum Nordausgang des Ahrntales. In diesem Baulos lag der Sonnenburger Hügel, mit dessen Abtragung im Frühjahr 1960 begonnen wurde. Damit mußte historischer Boden dem Verkehr geopfert werden. Der Hügel trug die Ruine der Sonnenburg, die — erstmals 1305 urkundlich erwähnt — Sitz des Gerichtes Sonnenburg war. Ans urgeschichtlicher Zeit wurden auf dem Sonnenburger Hügel Graburnen mit Metallgegenständen sowie Knochen von Schafen, Ziegen und Schweinen gefunden.

Im Bereich des Bauloses eins liegt das’Baulos zwei, die noch namenlose Sillbrücke II (vielleicht wäre doch die Bezeichnung Sonnenburgbrücke die passendste), eine Slahl- betonbogenbrücke von rund 200 Metern Länge, die lediglich im Schatten der Europabrücke an Imposant- heit verloren hat. Das Tragwerk dieser Brücke besteht aus zwei nebeneinanderliegenden dreizelligen Hohlbögen, mit einer Stützweite von 97 Metern. Das Einfahren und Auf stellen des Bogenlehrgerüstes im April und Mai des Jahres 1960 sowie das Absenken und Verschieben nach Fertigbetonierung des ersten Bogens waren Arbeiten, die von vielen mit größtem Interesse verfolgt wurden.

Im Baulos drei, Ahrnberg, waren die größten Massenbewegungen (2,5 Millionen Kubikmeter) zu bewältigen. Das Nordende des Ahrntales wurde durch die Autobahn zugeschüttet. Der Talausgang mußte durch einen imposanten Gewölbe- durchlaß ersetzt werden, der das Wasser des Ahrntales aufnimmt, beleuchtet und begehbar ist. Beim Durchstich des Ahrntales mußten

800.0 Kubikmeter Material abgetragen werden. Als Baulos vier war ursprünglich die Ahrnberger Brücke vorgesehen, die infolge einer Tras- senverschiebung durch eine Dammschüttung ersetzt werden konnte. Beim Südende des Ahrntales beginnt das Baulos fünf, das bis zum Patscher Widerlager reicht.

DIE EUROPABRÜCKE wird schlicht als Baulos sechs bezeichnet. Über diesen Namen war man im Wipptal nicht begeistert. Schließlich liegt doch die Gemeinde Patsch, in deren Bereich sich das östliche Widerlager befindet, nicht in Asien.

Schon im ersten Baujahr (1969) wurde der 47 Meter hohe Pfeiler V (auf der Schönberger Seite) vollendet, und am 19. November war mit dem zweithöchsten Pfeiler, der dann die längste Bauzeit haben sollte, begonnen worden. Ebenfalls im ersteh Jahr wurde das Fundament des Pfeilers II (des höchsten Pfeilers) in Angriff genommen. Dieser Pfeiler erreichte im November 1960 die vorgesehene Höhe von 181 Metern. (Zum Vergleich: Der Turm des Stephansdomes mißt 137 Meter,) Das rechteckige Fundament reicht 35 Meter in die Tiefe und ist auf festem Phyllit gelagert. Die Schaftwände messen am Fuß 55 und an der Spitze 35 cm. Pfeiler IV, der neben der Brennerstraße steht und von acht runden hohlen Betonpiloten (die zum Teil bis zu 20 Meier in die Tiefe reichen) getragen wird, wurde ebenfalls 1960 vollendet. Das Fundament des Pfeilers I besteht aus zwei elliptischen Hohlkörpern, die 30 Meter in die Tiefe geführt werden mußten.

Nach äußerst schwierigen Fünda- mentierungsarbeiteh wurde am 10. Juni des vorigen Jahres mit dem Betonieren des Schaftes des Pfeilers III begonnen, und am 12. September war auch dieser letzte Pfeiler vollendet. Unter- und oberirdisch zusammengerechnet ist dieser Pfeiler, dessen Fundament 47 Meter tief im Talboden ruht, um drei Meter höher als der für das

Auge am höchsten scheinende Pfeiler II. Für diesen Pfeiler wurden rund 18.000 Kubikmeter Beton benötigt; er wiegt zirka 45.000 Tonnen, wovon 300 auf die Bewehrung entfallen. Alle fünf Pfeiler sind als dreizeilige Stahlbetonschäfte gebaut und können von innen aus bestiegen werden.

Anfangs war eine Fahrbahnsteigung von fünf Prozent geplant, die durch Hebung des Patscher Widerlagers auf 4,05 Prozent gesenkt wurde. Die Gesamtlänge des Brük- kenwerkes beträgt nun 815 Meter, die Stützweite 784,5 Meter (davon entfallen 120 Meter auf die Vorlandbrücke) und die Länge der Hauptbrücke 657 Meter. Die größte Einzelstützweite, zwischen den Pfeilern II und III, mißt 198 Meter.

Im Frühjahr des vorigen Jahres begann die Firma Waagner-Biro mit der Montage des Stahltragwerkes auf der Schönberger Seite, das schon im Juni den Pfeiler V erreichte. Dann begannen die VÖESt., die um 80 Meter weniger zu bauen hatten, die Arbeit auf der Patscher Seite.

Der 30. August 1962 war ein Trauertag beim Bau der Europabrücke. Bei der Montage des

15. Brückenfeldes zwischen den Pfeilern IV und V stürzten ein Monteur, ein Schlosser und ein Werkzeugmacher 70 Meter tief ab. Drei oder vier Wochen vor dieser Katastrophe hat mich der Monteur, der schon 15 Jahre bei Waagnex’- Birö war, über die Baustelle geführt. Meine Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Arbeiter zerstreute er mit dem lakonischen Satz: „Es kann ja nix gschegn!“ Liebenswürdig, bescheiden und mit unsäglicher Geduld erklärte er mir die

Montagearbeiten. Aus seinen Worten klang Freude und Stolz.

FÜR DEN VORBAU des Stahltragwerkes war das letzte Jahr das entscheidendste. Je 97 Meter mußten Waagner-Birö und die VÖESt. zwischen den Pfeilern II und III in 190 Meter Höhe vorbauen, bis sie sich in der ersten Maihälfte bis auf eine Distanz von drei Metern genähert hatten. In der letzten Maiwoche (für den Zusammenbau war eine ganz bestimmte Temperatur erforderlich) wurde auch diese Lücke geschlossen, und am 30. Mai wurde das letzte Stück der Fahrbahn eingesetzt. Die Fahrbahn ist 22,2 Meter breit; davon entfallen 2,4 Meter auf die Gehsteige, 10,6 Meter auf die Berg- und 8,3 Meter auf die Talspur. Die Bergspur ist breiter, weil sie zusätzlich eine Kriechspur für schwere Fahrzeuge aufweist. Das Tragwerk selbst ist allerdings nur zehn Meter breit, in der Brückenmitte 7,7, beim Patscher Widerlager 5,6 und beim Schönberger Widerlager 4,7 Meter hoch. Das Gewicht der gesamten Stahlkonstruktion beträgt ungefähr 5300 Tonnen; ein Meter Europabrücke wiegt daher 7,7 Tonnen.

Von der Brücke bis zur Ortschaft Schönberg, die in einer Kehre um- fahren wird, reicht das Bäulos sieben.

Für den Laien ist das Ausmaß der beim Bau der Autobahn geleisteten Arbeit unvorstellbar. Die Erdbewegung belief sich auf 4,6 Millionen Kubikmeter (man stelle sich eine Säule von 100 Metern Durchmesser vor; diese würde eine Höhe von 586 Metern erreichen). 120 x100 Kubikmeter Beton, davon 66.000 bei, der Europabrücke, wurden verbaut.

Nun also ist das große, aufsehenerregende Werk glücklich vollendet. Planer und Ingenieure, Bauleiter und Arbeiter, Monteure und Spezialisten können den Ruhm in Anspruch nehmen, die erste Autobahn in gebirgigem Gelände, deren größte Steigung nur sechs Prozent beträgt, gebaut zu haben.

Einst zogen acht oder zehn „PS“ die schweren Fuhren über den steilen Weg von Unterberg nach Schönberg. Mit 40 oder mehr PS wird man nun spielend in zehn Minuten dieses Ziel erreichen. In dieser Tatsache zeichnet sich bereits der erste Schatten ab: Die Autobahn nach Schönberg läßt das baldige Ende der Stubaitalbahn, die im nächsten Jahr den sechzigjährigen Bestand feiert, befürchten.

Seit Jahrhunderten haben sich fast alle Generationen diesseits und jenseits des Brenners die größte Mühe gegeben, den Weg über den Brenner frei- und offenzuhalten. — Man weiß wenig Verläßliches über die alten Brennerwege, doch deuten rätische Namen, die die Zeit der Römer und Bajuwaren überdauert haben, darauf hin, daß unsere Bergtäler schon in vorgeschichtlicher Zeit teilweise erschlossen waren. Sümpfe und Seen ließen es ratsam erscheinen, die Talsohle zu meiden. Der Weg dürfte von der Sattelalm nach Vinaders und von dort über die heute noch so benannte „Römerstraße“ nach Nößlach geführt haben.

Seit der Krönung Ottos des Großen (962) bis zum Interregnum (1254) sollen mehr als sechzigmal Kaiserzüge über den Brenner geführt haben. Der Handelsverkehr zwischen Italien und Deutschland hat im 15. Jahrhundert einen starken Aufschwung genommen. Gewürze und Zucker, Öl und Wein, Baumwolle, Samt und Seide, Gläser und Weihrauch waren die hauptsächlichsten Güter, die, von Venedig kommend, über den Brenner transportiert wurden. Diesem Handelsverkehr war neben dem Bergsegen der damalige Reichtum Tirols zu danken. Erzherzog Sigmund der Münzreiche (1439 bis 1490) hat wahrscheinlich aus diesem Grund der Brennerstraße ein besonderes Augenmerk geschenkt und viele Wege neu anlegen lassen.

IN TIROL UND BESONDERS im Wipptal hofft man, daß der Autobahnbau in den kommenden Jahren bis zur Umfahrung von Steinach ohne Unterbrechung fortgesetzt wird. Die Einführung einer Straßenmaut wäre für das Wipptal von größtem Nachteil; die Autobahn würde dadurch erst recht zur ausgesprochenen Durchzugsstraße. Der Verkehr über den Brenner war aber für das Wipptal seit jeher lebenswichtig. Der Brenner war stets Übergang von Nord nach Süd wie von Süd nach Nord. Eine Scheidewand am Brenner widerspricht den geographischen und historischen Gegebenheiten. Lautet doch die Inschrift des Grenzsteines am Brenner: „Die Gewässer trenn’ ich, die Völker verbind’ ich.“

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