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Europäischer Wirtsdiaftsgeist

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Die seit Frühjahrsbeginn fühlbare Friedenstendenz in der internationalen Politik sollte durch die gleichlaufenden Ausgleichsbestrebungen auf dem Gebiete der Weltwirtschaft fördernde, ja ausschlaggebende Impulse empfangen. Es wirkt daher symbolhaft, daß Wien, das schon öfter und von verschiedenen Seiten her als Standort einer Weltfriedenskonferenz ausersehen war, in der zweiten Maihälfte Schauplatz des XIV. Kongresses der Internationalen Handelskammer sein wird.

Der Hauptsache nach war es das Aufkommen der Nationalstaatsidee in den letzten hundert Jahren, das in Weltwirschaft und Weltpolitik zu schwersten Spannungen und kriegerischen Explosionen geführt hat. Den technischen Fortschritt gegen den wirtschaftlichen Nationalismus zu mobilisieren, ist nun die tragende Parole des Wiener Kongresses der Internationalen Handelskammer. Maßnahmen auf dem Gebiete der Erzeugung, Verteilung, Werbung, des Verkehrswesens,der Handelsusancen und der Rechtspolitik sollen uns das weltwirtschaftspolitische Nahziel von heute, Europawerdung und Konvertierbarkeit der Währungen, ehetunlichst erreichen lassen. Welche Bedeutung diesen Bestrebungen für Oesterreich und für Europa zukommt, geht aus nachstehenden zwei nüchternen Feststellungen hervor: 1937 betrug der Wert der österreichischen Ausfuhr 17% des Volkseinkommens, der der Einfuhr 21%; 1952 waren die analogen Ziffern 23 und 30%. Die europäische Wirtschaftsverflechtung ist mit dem Aufkommen des Neomerkantilismus mit seinen Hochschutzzöllen und Außenhandelsverkehrsbeschränkungen dauernd zurückgegangen mit dem Ergebnis, daß vom Jahre 1860 bis 1951 der Anteil Europas (ohne Rußland) an der industriellen Weltproduktion von 75 auf 25% abgesunken ist.

Bei den Versuchen zur Wiederherstellung eines echten Weltmarktes wird man sich hüten müssen, in jenes interventionistische

Chaos hineinzuschlittern, jenes Charakteristikum der meisten nationalen Wirtschaftssysteme, die vom Kapitalismus ebenso weit entfernt sind wie von einer zentralen Planwirtschaft. Die Internationale Handelskammer, deren österreichische Repräsentanz bisher traditionsgemäß in den Händen des derzeitigen Bundeskanzlers gelegen war, ist vor allem berufen, hier der Mentor der europäischen Integrationsbestrebungen zu sein. Auf ihren letzten Tagungen kämpfte sie für eine Erhöhung der Produktion und der Produktivität als des einzigen Mittels, den zivilen Lebensstandard vor den üblen Folgen der Aufrüstung zu bewahren. In einer Zeit, die sich -um die Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung schwer bemühen muß, verweist sie auf die Notwendigkeit, den westeuropäischen Arbeitskräften im eigenen Lande und auch international größte Freizügigkeit einzuräumen. Großen Wert legte die Internationale Handelskammer seit jeher auf eine Forcierung der Kapitalbildung: Jedes Land soll bemüht sein, die Bildung von Ersparnissen durch Erziehungsmaßnahmen wie auch durch eine entsprechende Steuerpolitik anzuregen. Für den Kapitalexport sollen bessere Voraussetzungen als bisher geschaffen werden, um die gesamtwirtschaftliche Entwicklung nicht stocken zu lassen. Besonderen Nachdruck legt man auf den multilateralen Handel. An Stelle des allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) soll ein Apparat zur dauernden Beratung zwischen den Regierungen in internationalen Handelsangelegenheiten geschaffen werden. Voraussetzung sei die Abschaffung der nationalen Bewirtschaftungssysteme.

Wie in Oesterreich, so bildet in den meisten europäischen Staaten die Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung ohne den Schatten der Inflation das wirtschaftliche und auch politische Problem des Tages. Leitmotiv hierzu: Expansion der Wirtschaft, somit auch Ueberwindung des wirtschaftspolitischen Partikularismus in Westeuropa. Hier beginnen sich allerdings die Geister zu scheiden. Die einen vertreten einen totalen Zusammenschluß regionaler Wirtschaftsgebiete, wie er uns in der Benelux vollendet entgegentritt oder derzeit im skandinavischen Raum angestrebt wird. Die anderen wieder befürworten einen Zusammenschluß sämtlicher Staaten auf einem wirtschaftlichen Teilgebiet; Beispiele hierfür: Europäische Zahlungs-Union oder Montanunion- als Tatsachen (für die Vergangenheit sei hier an den in den „Römischen Protokollen“ seinerzeit niedergelegten teilwirtschaftlichen Zusammenschluß zwischen Oesterreich, Italien und Ungarn erinnert); oder Agrarunion, europäischer Güterwagenpool, Zollunion und Investitionsbank als Pläne. In beiden Arten lauern Gefahren für die hier als unverrückbar festzuhaltende Grundtendenz, nämlich für die Liberalisierung des Außenhandels. Die regionalen Zusammenschlüsse enthalten, offene und gedeckte Präferenzen zum Nachteil eines gesamteuropäischen Zusammenschlusses, während die teil-wirtschaft-lichen Unionen mit Planwirtschaft und Behördenapparat ebenfalls dem Prinzip einer freien Weltwirtschaft widersprechen. Das ideale Ziel ist die Schaffung eines gesamteuropäischen Marktes, auf dem sich Menschen, Güter und Geld frei bewegen können; die Milderung der erdrückenden Steuerlast, die ja nur den vom Finanzminister bezahlten unproduktiven Kpnsum anregt; die Abschaffung fragwürdiger handelspolitischer Praktiken oder die Gewährung von offenen oder versteckten Subventionen; das Hineinwachsen der einzelnen Nationalwirtschaften in größere und freiere Wirtschaftsräume — nicht zuletzt gerade um der Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung halber.

Eine von der Internationalen Handelskammer vertretene Tendenz wendet sich eindeutig gegen die Schaffung neuer national-wirtschaftlicher Schwerpunkte in Europa mit ihren neuen Konfliktstoffen; sie wendet sich gegen die Ausdehnung staatlicher Planungseinflüsse und gegen die Schaffung von internationalen Zentralbehörden mit superstaatlichen Machtbefugnissen. Es ist gewiß unbestritten, daß Europa heute seinen weltwirtschaftlichen Existenzkampf nicht in nationalwirtschaftlichen Wirtschaftsräumen bestehen kann. Dies bedingt aber keineswegs, daß die europäischen Staaten ihre Souveränitätsrechte in einem erheblichen Ausmaß an ein übernationales Gebilde abgeben. Realpolitisch handelt es sich darum, der weltwirtschaftlichen Kooperation freier Volkswirtschaften freie Bahn zu schaffen.

Hier aber ist es gerade die planwirtschaftliche Ideologie, die jede Gemeinschaftspolitik erschwert. Für die Eingliederung nationalwirtschaftlicher Bedürfnisse in die regional-oder weltwirtschaftlichen Zielsetzungen bildet die jeweilige staatliche Planwirtschaft ein ün-übersteigliches Hindernis. Wenn jedes einzelne Land plant, global und zentral bewertet und sohin international eine einheitliche Rechenskala fehlt, wie sollen dann zum Beispiel Investitionen weltwirtschaftlich oder in Großräumen auf einander abgestimmt werden? Gemäß der Prinzipienerklärung der Sozialistischen Internationale von 1951 soll die Planwirtschaft der sozialen Sicherheit und der „Demokratisierung“ der Wirtschaft dienen: Der planwirtschaftliche Gedanke wurzelt in außerwirtschaftlichen, rein politischen Zielsetzungen. Wie schon heute die Gewerkschaftspolitik den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte verhindert und damit eine europäische Wirtschaftsverflechtung erschwert, so erschwert auch die Planwirtschaft die Bildung europäischer Wirtschaftsgemeinschaften; Haupthindernisse: Devisenbewirtschaftung, Ein- und Ausfuhrverbote, Preisbindungen. Die freie Marktwirtschaft überläßt die Entscheidung, wieviel ein- oder ausgeführt werden soll, dem Preismechanismus. Nationale Planwirtschaften können im Grundsätzlichen“ für weltwirtschaftliche Beziehungen .kein festes Fundament abgeben; großräumige Märkte, internationale Arbeitsteilung und Hebung des Lebensstandards werden dadurch verhindert.

Wie die USA die europäische Verteidigungsgemeinschaft forcieren, so wünschen sie auch die Umbildung der europäischen Organisation der Marshall-Hilfe, jetzt MSA, in ein Lenkungsorgan zur Schaffung eines gesamteuropäischen Marktes. Hier erhebt sich nun die Kardinalfrage, ob und inwieweit diese Koordinierung der Handels- Wirtschafts-, Finanz- und Kreditpolitik in die Wirtschaftsführung der Mitgliedstaaten eingreifen soll. Nach dem oben Gesagten und auch nach gewissen Erfahrungen, die man schon mit der Montan-Union gemacht hat, wird man sich die MSA wohl als ein nachdrückliches Be-ratungsorgän, aber nicht als eine übernatürliche Behörde vorstellen können. Sicherlich werden sich hier Uebergangsschwierig-keiten ergeben.

Weitere Schwierigkeiten dieser Art werden der notwendigen, oft tiefgreifenden Umstellung der nationalen Produktionen zwecks Anpassung an das optimale gesamteuropäische Wirtschaftsbild entspringen. Die Integration kann Wirtschaftszweige beeinträchtigen, die nur unter dem Schutz von Zöllen und Einfuhrverboten existieren können; die Umstellung kann hier Investitionsverluste und übergangsweise Arbeitslosigkeit bedeuten. Trotzdem wird, auf weite Sicht betrachtet, der Rückgang von bestimmten Industrien dann zu verschmerzen sein, wenn er durch den Aufschwung der Exportindustrie und auch mancher Investitionsgüterindustrien überkompensiert wird. In begrenzter Auswirkung werden hier staatliche Interventionen nicht ganz zu vermeiden sein. Endziel für uns bleibt die Eingliederung Oesterreichs in den gesamteuropäischen Markt; sonst ist eine Expansion der Wirtschaft, eine Vollbeschäftigung ohne Inflation nicht denkbar.

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