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Europagespräch im Brennpunkt

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An dieser Stelle habe ich schon mehrmals die Möglichkeit gehabt, ein paar Worte zu den Wiener Festwochen zu schreiben. Wenn ich diese Gelegenheit neuerlich ergreife, dann möchte ich für 1963 einmal eine Veranstaltung hervorheben, die vom üblichen Charakter internationaler Festwochenveranstaltungen etwas abweicht und dennoch gerade für Wien und seine Stadtverwaltung typisch ist: das Europagespräch der Stadt Wien.

Warum typisch? Als 1958 der bekannte spanische Philosoph Salvador de Madariaga — er leibt zur Zeit im Exil in Oxford — am ersten Europagespräch teilnahm, hat er uns an eine Rede erinnert, die er 1935 in Paris hielt. Für uns heute klingt der Text von damals geradezu bitter. Der Redner — spanischer Aristokrat der Gesellschaft nach, Liberaler dem Geist nach, Diplomat dem Beruf und Schriftsteller der Neigung nach — hielt sein Pariser Publikum eine Stunde lang damit hin, die Bedingungen einer, möglichen europäischen Hauptstadt zu definieren, und versetzte ihm dann plötzlich die kalte Dusche, zu behaupten, die einzige Stadt des Kontinents, die diese Bedingungen erfülle, sei Wien. Begründung: Eine westeuropäische Metropole werde bestenfalls Zentrum einer westeuropäischen Gemeinschaft sein können, sie und die Menschen in ihr würden ohne Verständnis bleiben für das ,,andere Europa“, für den Osten, den Madariaga unbedingt zu einem geeinten Kontinent dazugedacht wissen wollte. 1963 empfindet man diese Forderung um so dringlicher, in je weitere Ferne ihre Erfüllbarkeit gerückt erscheint. Die Europagespräche, die auf Initiative des Wiener Bürgermeisters jeweils am Ende der Wiener Festwochen abgehalten werden, sind die Erklärung der Bereitschaft der österreichischen Bundeshauptstadt zur Übernahme jener schwierigen Rolle, die ihr im Konzept Madariaga1: zugedacht war. Wir haben uns mehrfach bemüht, den Osten im Rahmen der Europagespräche zu Wort kommen zu lassen. Mit Ausnahme des Falles Jugoslawiens sind diese Versuche mißglückt, — was nicht bedeutet, daß wir sie nicht wieder aufnehmen wollen.

Wie in den vorausgehenden Jahren wurde fluch 1963 eine aktuelle europäische, ja weltweite Problematik zum Gegenstand frei zugänglicher Gespräche gemacht: „Die europäisch* Großstadt - Lichttmd Iftlichf“! Bne Serie von Referaten und Diskussionen oll der Bevölkerung unserer Stadt vorn 11. bis 15. Juni Gelegenheit geben, au erster Hand Informationen über politische, soziale, kulturelle, architektonische und gesundheitliche Fragen des Groß-stadtlebens von heute zu erhalten. Unter den Rednern befinden sich daher „Kapazitäten“, die das Niveau dieser Fragestellung auf den Stand von heute gebracht haben, ebenso wie junge Menschen, die im Begriff sind, es auf den Stand von morgen bringen: Avantgardisten.

Richard Neutra steht mit dem Eröffnungsreferat an der Spitze der Veranstaltung, ihn, den berühmt gewordenen Auslandösterreicher, hier zu würdigen, erscheint überflüssig. Erinnert sei nur an die geradezu musikalisch empfindsame, feinnervige Art, mit der dieser große Gestalter — bezeichnend, daß er eine Cellistin zur Frau gewählt hat — gewohnt ist, eine Wohnung, ein Einfamilienhaus, eine Schulklasse zu formen. Es mag über seine vom Biologischen her ins Philosophische vorstoßenden theoretischen Grundüberlegungen Kontroversen geben. Die Feinheit seiner praktischen Arbeit ist über jede Diskussion erhaben: Oft monatelang mit einer Familie lebend, der er ein Heim schaffen soll, hört er aus dem täglichen Umgang so lange den Rhythmus dieses Lebens heraus, bis er imstande ist, ihm mit künstlerischer Feinfühligkeit den adäquaten Raum zu schaffen. Bedauernswert, daß vor kurzein die Dokumentation von 30 Jahren dieses Schaffens einem Brand zum Opfer fiel — ähnlich wie bei einem anderen großen Österreich-Amerikaner: Wilhelm Thöny.

Wir haben uns bemüht, neben Neutras Eröffnungsreferat — „Europa und Urbanität“, am

11. Juni, 16 Uhr — Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die hierzulande außerhalb der Fachwelt noch wenig bekannt sind, etwa die junge schweizerische Gruppe des Architekten Felix Schwarz und Soziologen Lucius B u r c k-h a r d t, die um ganz neue, elastischere Formen der künftigen Stadtplanung bemüht ist. Architekt Schwarz besitzt eine moderne Steinplastik, von der er nach ihrer Aufstellung im Garten seines Hauses — vor dem Fenster seines Ateliers — in sein Tagebuch schrieb: ,,Verständnislos blickt sie auf mein Tun!“ Der in den USA bekannt gewordene österreichische Architekt Victor G r u e n — er schuf dort den ,,Naschmarkt amerikanischen Stils“, nämlich autolose Einkaufszentren am Rande der amerikanischen Riesenstädte — wird ebenso zu Wort kommen (12. Juni, 10 Uhr), wie J. B. Bakema, einer der führenden Architekten beim berühmten Wiederaufbau der von deutschen Bomben völlig zerstörten Stadt Rotterdam (14. Juni, 20 Uhr).

„Europäische Großstadt — Licht und Irrlicht“

— das bedeutet einen Fragenkreis, in dem natürlich auch die kultursoziologische Problematik nicht fehlen darf. Theodor W. Adorno — der berühmte Soziologe und Musiktheoretiker — wird mit seiner These von der „Laienkunst als organisierte Banausie“ einem der „zornigen jungen Männer“ Londons — Arnold Wesker

— gegenüberstehen, der versucht hat, gerade von der breiten Masse her der Kunst ein neues gesellschaftliches Fundament zu geben (12. Juni, 16 Uhr). Das Europagespräch bringt eine Reihe solcher Referate und Koreferate, Thesen und

Antithesen, die in • angeschlossenen Forumdiskussionen gewichtiger Experten in ihrer ganzen Spannweite besprochen werden sollen. Arnold Gehlen und Ernest Zahn stellen eines der interessantesten dieser Rednerpaare dar. Arnold Gehlen — korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und mehrere Jahre Universitätslehrer in Wien — ist als Philosoph, Psychologe und Soziologe zu bedeutend, um hier einer ausführlichen Würdigung zu bedürfen. Dem großen Leserpublikum ist vielleicht sein kleines Bändchen „Die Seele im technischen Zeitalter“ bekannter als sein Hauptwerk „Der Mensch“, das ohne Zweifel zu den fundamentalen Schrif-

tätig, in den USA erstmals auf Universitäten tätig — mittlerweile hat er eine Berufung auf den Lehrstuhl für Soziologie der Universität Amsterdam angenommen —, hat durch seine Untersuchungen über die gesellschaftlichen Auswirkungen einer prosperierenden Gesellschaft von sich reden gemacht (vergleiche sein Buch „Soziologie der Prosperität“). Wenn Gehlen vom Philosophischen und Zahn vom Soziologischen her den Menschen in unserer großstädtischen westlichen Wohlstandsgesellschaft zum Thema wählten, verspricht das ein kontrastreiches Porträt zu werden (14. Juni, 10 Uhr).

Am Beispiel der „Dienstleistungsberufe in der Großstadt“ wird der führende französische Soziologe und Ökonom Jean FourastiÄ eine ähnliche Problematik anklingen lassen. Am 12. Juni. 20 Uhr, spricht er zu diesem Thema unter dem Titel seines nun auch längst schon im deutschen Leserkreis bekannten Buches „Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts“. Es gehört — zusammen mit einigen amerikanischen Untersuchungen — zu den ersten wirklich subtilen statistischen Werken über die beruflichen und gesellschaftlichen Veränderungen, denen wir seit dem Ausbruch der industriellen Revolution unterworfen sind.

Von den Soziologen unter den Diskussionsteilnehmern muß auch noch der Professor für politische Soziologie in Berlin — Otto Stammer — erwähnt werden. Als letztes dieser Rednerpaare sei das des Frankfurter Oberbürgermeisters Werner Bockelmann und des Verfassers des Buches „Die Zukunft hat schon begonnen“, Robert Jungk, genannt. Der letztere — ebenso wie Arthur Koestier zu den Beratern bei der Gestaltung des Europagespräches zählend — darf als einer, der Wien zu seiner Wahlheimat gemacht hat, hier als hinreichend bekannt vorausgesetzt werden. Werner Bockelmann, den sein Lebensweg von Rußland über Schweden nach Deutschland führte, gilt als einer der führenden Kommunalpolitiker der DBR, dessen einstimmige Wahl durch die Parteien in Frankfurt verstanden wird, wenn man sich mit dieser profilierten Persönlichkeit näher befaßt: Vor Arbeitsbeginn täglich im Frankfurter Schwimmbad „Mitte“ und nach Arbeitsschluß über der Lektüre philosophischer Werke zu finden, ist dieser persönliche Freund Albert Schweitzers eine der originellsten Erscheinungen der europäischen Kommunalpolitik überhaupt. Am 13. Juni, 20 Uhr/ wird er mit Robert Jungk zum Thema „Renaissance des Bürgersinns“ sprechen. Robert Jungk möchte die Aktivität dieses Bürgersinns vorher durch eine Rundfrage an die Wiener Bevölkerung: „Wie wünsche ich mir meine Stadt“ auf dit Probe ■ stellen (Daten hierzu werden in Presse, Funk und Fernsehen bekanntgegeben), deren Resultate er in seinem Europagesprächsreferat der Öffentlichkeit mitteilen wird. Wiens Bürgermeister Jonas und der ehemalige französisch Ministerpräsident — jetziger Bürgermeister von Straßburg — Pierre P f 1 i m 1 inx werden sich an der Diskussion des Doppelreferates beteiligen.

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