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Europas Bevölkerung

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Der Europarat wird in der Zeit vom 30. August Ibis 6. September in Straßburg eine Bevölkerungskonferenz veranstalten, bei der insbesondere „die Ursachen und Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung im wirtschaftlichen und sozialen Sektor“ erörtert werden sollen. Diese Konferenz stellt insofern einen Markstein dar, als dabei erstmals im europäischen Rahmen aktuelle ‘bevölkerungswissenschaftliche Fragen auf Grund wissenschaftlich nachweisbarer Fakten zur Diskussion gestellt werden. Zugleich soll die Konferenz den Anstoß zu einer Überprüfung des Standes der demographischen Forschung und Lehre in den europäischen Ländern geben, eine Aufgäbe, die gerade für Österreich von besonderer Dringlichkeit wäre, weil die Bevölkerungswissenschaft in unserem Land eine stiefmütterliche Behandlung erfahren hat.

Aufschwung der Statistik

Der Mißbrauch, dessen sich die Nationalsozialisten während der Besetzung Österreichs schuldig machten, die rücksichtslose Art, mit der sie die Bevölkerungswissenschaft in den Dienst der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik stellten, hat einen nur sehr schwer wiedergutzumachenden Schaden angerichtet und sie in den Ruf einer Pseudowissenschaft gebracht. Der Abbau dieser Vorbehalte und psychologischen Widerstände vollzieht sich in einem traditionell konservativ denkenden Land wie Österreich zwangsläufig nur langsam. Es ist daher um so bemerkenswerter, daß sich in der jüngsten Zeit die Anzeichen für einen Wandel und einer positiveren Einstellung zur Bevölkerungswissenschaft mehren, eine Entwicklung, die sich freilich gewissermaßen auf Umwegen vollzieht. Zwei weltweite Tendenzen wirken sich auch in Österreich aus, nämlich erstens die Aufwertung der Sozialwissenschaften, die einen sichtbaren Ausdruck in der Gründung der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz gefunden hat, und zweitens die Bemühungen um eine „Verwissenschaftlichung der Verwaltung“, eine Entwicklung, die unser ganzes, traditionsgebundenes Ver- waltungssystem in absehbarer Zeit revolutionieren wird. Das Bestreben, Enstscheidungen auf wirtschafts- und sozialpolitischem Gebiet auf „objektive“ Fakten zu basieren und die politische Auseinandersetzung über die großen Probleme, denen wir gegenüberstehen, zu versachlichen, hat einen Aufschwung der Statistik im allgemeinen ausgelöst, von dem zwar in erster Linie die Wirtschaftsund ßozialstatistSk profitieren, aber auch Impulse auf die Bevölkerungsstatistik ausstrahlen. Bevölkerungsstatistik kann aber ohne Bevölkerungswissenschaft ebensowenig sinnvoll geführt werden wie Wirtschaftsstatistik Ohne Wirtschaftwissenschaft.

Noch ein Ereignis muß hier erwähnt werden, das „direkt“ den weltweiten Zug zur stärkeren Pflege der Bevölkerungswissenschaft bewirkt hat, nämlich die sogenannte „Bevölkerungsexplosion“ in den Entwicklungsländern. Die durch den Einsatz der modernen Mittel der Krankheitabekämpfung ausgelöste drastische Senkung der Sterblichkeit, die heute — wenn auch in differenziertem Ausmaß — Asien, Afrika und Lateinamerilka erfaßt hat (in diesen Gebieten lebten 1965 knapp drei Viertel der Weltfoevölfce- rung), hat ein starkes, in der Geschichte der Menschheit einmaliges Ansteigen der Weltbevölkerung nach sich gezogen, da die Geburtenzahlen — zumindest vorläufig — im allgemeinen hoch geblieben sind. Die Vereinten Nationen haben dieser Entwicklung ihr besonderes Augenmerk zugewendet, und bei der 1965 in Belgrad abgehaltenen Weltbevölkerungskonferenz standen die Probleme der Entwicklungsländer eindeutig im Vordergrund.

Austausch in Europa

Die europäische Bevölkerungskonferenz soll Politiker, Sozial- und Bevölkerungswissenschaftler zu einem umfassenden Gedankenaustausch über die Bevölkerungsentwicklung, ihre Urachen und Auswirkungen zusammenführen. Der Politiker soll mit dem Stand, den Ergebnissen, aber auch den ungelösten Problemen der Bevölkerungswissenschaft bekanntgemacht werden und seinerseits dazu beitragen, die Schwerpunkte für die künftige bevölkerungswissenschaftliche Arbeit zu bilden, denn die Bevölkerungswissenschaft kann und soll sich nicht den aktuellen Gesellschaftspolitischen Problemen verschließen, sondern sich aktiv an ihrer wissenschaftlichen Erforschung beteiligen.

Das Konferenzprogramm umfaßt fünf Schwerpunkte, nämlich:

• Entwicklung der Geburtenhäufigkeit;

• Entwicklung der Sterblichkeit;

• Wanderungen;

• Entwicklung der Bevölkerungsstrukturen;

• Bevölkerungswissenschaftlicher Unterricht und Forschung in Europa.

Aus der Fülle der hierbei zur Diskussion gestellten Probleme seien einige Beispiele herausgegriffen, um an ihnen die Bedeutung dieser Konferenz für unser Land zu demonstrieren.

Rückgang der Sterblichkeit

Das auslösende, entscheidende Element in der „ersten demographischen Revolution“, die heute in

Europa praktisch abgeschlossen ist, war der Rückgang der Sterblichkeit, der vor allem ein Rückgang der Säuglings-, Kinder- und Jugend- l’ichensterblichkeit war. Die ‘beispielsweise einem Knaben bei der Geburt in Aussicht zu stellende Lebenserwartung konnte von 30 auf 70 Jahre erhöht werden. Wenn sich die Lebensdauer in den letzten zwei Jahrhunderten demgemäß mehr als verdoppelt hat, so ist dies den Erfolgen in der Bekämpfung der von außen einwirkenden exogenen Gefahren (Infektionskrankheiten!) zu danken. Die im Bereich der exogenen Gefahren erzielbare Senkung der Sterblichkeit nähert sich aber unweigerlich einer Grenze, über die hinaus keine ins Gewicht fallende Verbesserung der Lebensdauer mehr zu erwarten ist (diese Aussage gilt auch für Österreich mit dem Vorbehalt, daß hier — wie Vergleiche mit anderen europäischen Ländern zeigen — noch gewisse Erfolge auf diesem Sektor möglich sind).

Damit aber wird die zweite Komponente, die auf endogene Ursachen zurückzuführende Sterblichkeit, für die weitere Entwicklung bestimmend. Diese endogene Sterblichkeit war bisher wenig zu beeinflussen und ist nur verhältnismäßig wenig — wenn überhaupt — gesenkt worden. Es ist naheliegend, daß die Verschiebung in der Relation dieser beiden Gruppen (exogene und endogene Ursachen) weitreichende Auswirkungen auf die medizinische Wissenschaft und die Arbeit der staatlichen Gesundheitsverwaltung haben muß. Ansätze zu einer Anpassung an diese neuen Gegebenheiten sind — und dies nicht nur in Österreich — noch kaum sichtbar. Eine solche Anpassung ist aber nicht nur unumgänglich notwendig — je später sie durchgeführt Wird, desto schwieriger wird sie sein —, sondern man wird sich auch zweckmäßigerweise mit den Aspekten befassen, die ein „Durchbruch“ bei der Bekämpfung der endogenen Krankheiten eröffnet.

Eine Untersuchung des bevölkerungswissenschaftlichen Instituts in Paris hält eine solche Entwicklung für durchaus plausibel und verspricht sich große Erfolge durch die Anwendung von Mitteln, die

• den bei der Geburt schon beginnenden Prozeß der Abnützung und des Alterns erheblich verzögern;

• vererbte Krankheiten wirksam bekämpfen;

• durch Beeinflussung der Ver- erbungsmerkmale die Weitergabe von Erbkrankheiten verhindern;

• bewirken, daß eine wachsende Zahl von Menschen, die an schweren Leiden erkranken, völlig aus- gehei’lt werden kann.

Wenn sich diese optimistische „Prognose“ bewahrheiten sollte, wäre eine weitere Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung von 70 auf 100 Jahre nicht so abwegig! Was dies aber für unsere ganze Gesellschaftsordnung bedeuten würde, übersteigt wohl unser Vorstellungsvermögen. Eine von dem genannten Institut durchgeführte „Modellrechnung“ hat zum Beispiel ergeben, daß die von 1000 im Alter der Arbeitsfähigkeit stehenden Menschen zu tragende Belastung durch junge und alte Menschen (die sogenannte demographische Belastungsquote) um mehr als 50 Prozent an- steigen würde. Eine Verlängerung der menschlichen Lebensdauer in diesem Ausmaß würde auf das Altersgefüge unserer Bevölkerung noch weit größere Auswirkungen haben als der Geburtenrückgang in der Vergangenheit!

Die Familie heute

Eine weitere, auch in Österreich höchst aktuelle Frage ist die Funktion der Familie in der Industriegesellschaft von heute. Der säkulare Prozeß der Wandlung der Familie von einer Produktions- zu einer Konsumgerneinschaft hat eine Fülle von Problemen aufgeworfen, mit denen man sich in zunehmendem Maß sowohl auf politischer als auch Wissenschaftlicher Ebene befaßt, eine Entwicklung, die in Österreich in der jüngst erfolgten Bestellung eines Staatssekretärs dm Bundeskanzleramt, in dessen Kompetenzen die Pamilienpolitik fällt, einen Niederschlag gefunden hat. Damit im Zusammenhang steht die Diskussion um die Stellung der Frau in der modernen Industriegesellschaft. Die Verknappung der Arbeitskräfte führt dazu, daß einerseits die Frau als Mitarbeiterin gesucht und umworben wird, anderseits um die Erhaltung des Familienlebens besorgte Stellen auf die Schwierigkeiten hdnweisen, die sich für die Frau aus der Bewältigung ihrer Pflichten in Haushalt, Familie und Beruf ergeben. Es müssen deshalb die psychologischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren, die für oder gegen eine verstärkte Einbeziehung verheirateter Frauen und Mütter in den Arbeitsprozeß sprechen, analysiert werden.

Bei der Konferenz wird man sich schließlich auch mit den Auswirkungen des technischen Fortschrittes befassen. Wir stehen heute vor einer neuen industriellen Revolution, die unser gesamtes Wirtschafts- und Sozialgefüge einschneidend verändern wird. Nach Schubneil ) kann bereits heute etwa ein Drittel der im Erwerbsprozeß stehenden Menschen mit der technischen Entwicklung nicht mehr Schritt halten. „Dieses Problem ist zwar an und für sich nicht neu, neu aber ist sein Ausmaß. Es ist zu erwarten, daß eines Tages alle Arbeitskräfte, die älter als 45 Jahre sind, der Technologie ihrer Zeit fremd gegenüberstehen, sich ihr nicht mehr gewachsen fühlen.“

Diese wenigen Beispiele dürften genügen, um die Aktualität der kommenden Konferenz für unser Land zu illustrieren. Es wäre zu wünschen, die sich für die Bevölkerungswissenschaft ergebenden Impulse zu nützen und in Österreich auch auf diesem Gebiet die Voraussetzungen zu schaffen, die ein Aufschließen an die in dieser Beziehung weit fortgeschritte- ren Länder wie zum Beispiel Frankreich, Schweden, die Tschechoslowakei und Ungarn zu ermöglichen.

‘) Europäische Bevölkerungskonferenz 1966 in Straßburg, Informationsdienst der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, August 1965.

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