7136816-1997_49_20.jpg
Digital In Arbeit

Europas Juden nach Madagaskar?

Werbung
Werbung
Werbung

Ticht weniger als 100.000 % Bücher seien bisher über den -L 1 Zweiten Weltkrieg geschrieben worden, stellt der holländische Historiker Hans Jansen fest, aber noch keines über den Madagaskar-Plan. Dabei war von der tief ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Idee, die „Judenfrage” durch Übersiedlung der Juden nach Madagaskar zu lösen, nicht erst in der Nazizeit, ab Hitlers Machtantritt aber zeitweise sehr viel, die Rede. War dieses Reden ernst gemeint? Gab es eine Zeit, in der Hitler und seine Spießgesellen ernsthaft gedachten, die Juden nicht auszurotten, sondern zu deportieren? Seit einer Woche liegt Jansens Buch „Der Madagaskar-Plan - Die beabsichtigte Deportation der europäischen Juden nach Madagaskar” auch auf Deutsch auf dem Tisch.

Die Frage des Autors lautet: War dieser Plan ernst gemeint, oder sollte er bloß die längst gefaßte Entscheidung für den Massenmord bemänteln? Nach 1945 neigten die meisten Historiker zu letzterem. Immerhin kann Jansen für fast alle Phasen angesehene Historiker zitieren, die den Madagaskar-Plan für einen ernsthaften Plan hielten. Er hat das gesamte verfügbare Archivmaterial durchgeackert und kommt zu dem Schluß, daß das Projekt zwar ernsthaft verfolgt wurde, daß Hitler aber keineswegs beabsichtigte, „den Madagaskar-Plan noch während des Krieges in die Tat umzusetzen. Dies sollte erst nach dem Krieg geschehen, wenn Hitler den Krieg als Sieger beendet haben würde.”

Worum es hier nicht zuletzt auch geht, spricht Simon Wiesenthal bereits in den ersten Sätzen seines Vorworts aus: „Deutsche, französische, englische, polnische und Antisemiten anderer Nationalitäten träumten von einem Europa ohne Juden - aber wie sollte man diese Millionen Juden loswerden? Als mögliche Lösung bot sich eine in französischem Besitz befindliche Insel vor der Ostküste Afrikas an... Zahlreiche private Propagandisten verfaßten Broschürenrnd Artikel, in denen sie die Ansicht vertraten, die Juden seien ein Fremdkörper in Europa und das Beste wäre, sie alle nach Madagaskar zu deportieren... Im vorliegenden Buch werden Sie einige dieser Propagandisten kennenlernen, wie beispielsweise Henry Hamilton Beamish, Egon van Winghene, Arnold Leese, Charles W. Gore, H. de Vries de Heekelingen und Pierre Drieu LaRochelle. Aber auch in Polen, wo dreieinhalb Millionen Juden unter 30 Millionen Polen lebten, gab es Befürworter der Deportation wenigstens eines Teiles der jüdischen Be -völkerung nach Madagaskar; es wurde sogar eine Kommission unter der Leitung des polnischen Offiziers Thaddäus Lepecki nach Madagaskar geschickt, der den jüdischen Agronomen Dyk auf diese Expedition mitnahm.” Damit wird bereits einiges signalisiert.

Es geht Jansen zunächst um die historische Evidenz, der er anhand eines gewaltigen Materials penibel nachspürt. Jansens Arbeit hat aber auch eine nicht zu unterschätzende politische und geistesgeschichtliche Di-mensionr Bekanntlich unterscheidet sich nach Daniel Goldhagens Meinung der deutsche Antisemitismus durch seine eliminatorische, auf Ausrottung gerichtete Zielsetzung grundsätzlich von allen anderen Antisemitismen. Er ist etwas anderes. Wenn aber nachgewiesen werden kann, daß die Nazis zumindest zeitweise ernsthaft auf den Madagaskar-Plan setzten, rückt der deutsche Antisemitismus näher an die anderen europäischen Antisemitismen heran. Der Nazi-Antisemitismus erscheint dann wieder stärker als jene Spielart europäischer Unmenschlichkeit, die zu den grauenhaftesten Konsequenzen führte, sich aber grundsätzlich nicht vom Antisemitismus anderer Länder unterscheidet. Hitlers Absichten wären dann darauf gerichtet gewesen, die Juden unter allen Umständen loszuwerden, aber nicht unbedingt auf ihre Ausrottung.

Genau dieses Bild zeichnet Jansen, oder besser, er läßt es aus dem von ihm auf fast 600 Seiten in gewaltiger Fülle ausgebreiteten Material erstehen. Und er erinnert an Dinge, die gut verdrängt waren. Etwa an die noch für 1937 und 1938 belegbare, mehr oder weniger große Bereitschaft der französischen sowie der polnischen Regierung, in Sachen Madagaskar-Plan mit Hitler zu kooperieren. Daran, daß auch England, Frankreich und andere Großmächte nach allzu bequemen Möglichkeiten suchten, den Juden zu „helfen” - nämlich, ohne sie aufnehmen zu müssen. Polen hatte dabei den weiteren Vorteil im Auge, die Juden in Madagaskar auch gleich als Stützpunkt für die Versorgung mit Rohstoffen benützen zu können. Anfangs noch bereit, für die Aussiedlung der Juden ein finanzielles Opfer zu bringen, wurden die Pläne der polnischen Regierung bis Anfang April 1939 so modifiziert, daß nun die gesamten Kosten allein von den Juden getragen werden sollten. Aber auch in England, und auch noch nach Hitlers Überfall auf Rußland, wurden auf höchster Ebene Pläne für die Ansiedlung der Juden in Afrika gewälzt. So ein Gebiet könnte, meinte man in London, als riesige Kolonie einer kleinen jüdischen Heimstatt in Palästina gesehen werden. Auch Churchill selbst war solchen Ideen nicht abgeneigt.

Zu den besonders gespenstischen Dokumenten zählt der Bericht des südafrikanischen Verteidigungsministers und bekennenden Antisemiten Oswald Pirow über seine zum Teil wörtlich wiedergegebenen Gespräche mit Hitler auf dessen Berghof im Jahre 1938.

Jansen entwickelt und untermauert eine Gegenposition zu Goldhagen und dessen „Super-Intentionalismus”, der These von einem von vorneherein feststehenden Mordplan. Mit einer Fülle von Material stützt er die Ansicht, daß Hitlers Pläne nicht von Beginn an eliminatorisch waren und daß er und seine engsten Mitarbeiter vom Sommer 1938 bis zum Frühjahr 1941 die Absicht hatten, den Madagaskar-Plan nach dem Sieg zu verwirklichen. Bis dahin sollten die Juden aber als Geiseln dienen. Jansen kommt nämlich auch zu dem Ergebnis, daß Hitlers Absichten im Fall einer von ihm durchaus ins Auge gefaßten Niederlage tatsächlich bereits frühzeitig eliminatorisch waren. Europas Juden sollten keinesfalls Gelegenheit haben, über ihn zu triumphieren. Als das Phantom des schnellen Sieges zerfloß, rollte die Vernichtung an. Diese Lesart des Hit-lerschen Charakters und seiner Absichten bietet auch die Erklärung dafür, daß gerade in jenen „entscheidenden” Kriegsphasen, in denen Hitlers Schicksal freilich längst entschieden war, die Transporte nach Auschwitz und zu den anderen Todesmühlen selbst gegenüber militärischen Transporten eine anders schwer verständliche Priorität genossen.

Die Rezeption eines solchen Buches ist unmöglich ohne die Frage nach seiner Wirkung: Kann es in einem den Völkermord relativierenden, den deutschen Antisemitismus verniedlichenden Sinn mißverstanden werden? Was bedeutet es für die Deutschen und Österreicher, wenn nachgewiesen wird, daß selbst Hitler kein von Beginn an konsequent eli-minatorischer Antisemit war?

Denken, Charakter, Absichten Hitlers werden seit 1945 unablässig wiedergekäut. Dabei fließen der Massenmörder mit seinen Intentionen und der den Massenmord ermöglichende antisemitische Konsens eines wesentlichen Teiles der deutschen und österreichischen Gesellschaft ineinander. Sauber trennen konnte man diese kausalen Faktoren noch nie. Den Zweiten Weltkrieg hätte es wahrscheinlich auch ohne Hitler gegeben. Wäre es ohne ihn bei ein paar Pogromen des Typs geblieben, der unserem Fernsehpublikum dank „Anatevka” als Teil der politischen Folklore ans Herz gewachsen ist? Keine Vergasungen? Keine Fahrdienstleiter des Todes? Möglich. Vielleicht sogar wahrscheinlich. Wieviel Schuld können wir deswegen auf Hitler abladen?

Welche Rolle spielten jene, die doch um Gotteswillen kein Auschwitz wollten, wenn es sie auch freute, daß die Juden verschwanden? Alle, die Hitler insgeheim am meisten verübeln, daß er den Krieg verlor und sie empörenderweise in die Lage versetzte, erfahren zu müssen, auf welch unästhetische Weise er die Sache geregelt hatte? Ist der deutsche und österreichische Nazi nur für die paar verantwortlich, die auf jeden Fall zu Spänen gemacht worden wären, weil ja doch gehobelt worden wäre? Und die volle Differenz zur Singularität Auschwitz geht allein auf Hitlers Konto? Je mehr man auf Hitler blickt, desto größer wird seine Schuld. Er täuschte den armen, kleinen Nazi, der die Juden auf keinen Fall vergasen, aber auf jeden Fall loswerden wollte, über seine düsteren Absichten hinweg. Er wußte eben, was soviele wollten: Die Juden loswerden, aber nichts Genaues erfahren. Ein wahrer Volkstribun.

Man muß Hitler und seine enge Umgebung nur etwas relativieren, damit sich die Dumpfheit und Irrationalität der Massen, die ihm zujubelten, und die Schuld der vielen kleinen Befehlsempfänger, nicht mehr in seinem dämonischen, überlebensgroßen Schatten verkriechen können. Damit die Schuld der Jasager, Zu-jubler und Ausführer deutlich hervortritt. Wieso haben sie nicht Ausrotten verstanden, als er Ausrotten sagte, Gas verstanden, als er Gas sagte, wieso haben sie Jawoll gesagt und wieso haben sie es getan?

Für die Schuld der Jasager, Zu-jubler und Befehlsausführer ist es völlig irrelevant, ob Hitler und seine Mitarbeiter die Ausrottung der Juden von Anfang an wollten - oder doch erst, als die Niederlage erkennbar wurde. Es ändert nichts am Geschehenen und nichts an der Schuld der Einzelnen. Trotzdem ist „Der Madagaskar-Plan” ein wichtiges Buch. Es führt den Leser zur Erkenntnis, daß sich der deutsche Antisemitismus zwar grundsätzlich wenig von anderen Antisemitismen unterschied, daß es aber sehr wohl den ersten Schritt gab, von dem ab es unweigerlich immer tiefer ins Verbrechen ging. Wann ihn Hitler vollzog, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß ihn mehr oder weniger bewußt, mehr oder weniger sehend, mit oder ohne mildernde Umstände, der einzelne deutsche oder österreichische Antisemit damit ging, daß er sich ihm anschloß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung