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Evian war der Anfang

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Vom 14. bis 24. Juli tagte in Evian-les-Bains am Genfer See die fünfte Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes. Die Mehrzahl der etwa 75 Millionen Lutheraner wurden durch ihn repräsentiert. Deutschland, das Mutterland der lutherischen Reformation, ist noch immer am Weltluthertum hervorragend beteiligt. Jeder zweite Lutheraner redet deutsch. Skandinavien folgt mit vier geschlossenen lutherischen Volkskirchen von insgesamt 19 Millionen Menschen, dann die USA mit Kanada als drittgrößte lutherische Gemeinschaft von acht Millionen. Alle übrigen lutherischen Kirchen der Welt — man zählt etwa 70, die zum Weltbund gehören — leben als Diaspora inmitten Andersgläubiger. Das Gesamtthema der fünften Vollversammlung „Gesandt in die Welt“ betrifft sie in besonderer Weise. Drei Arbeitsgruppen haben in Sektionen das Generalthema aufgegliedert. „Gesandt mit dem Evangelium“ war die stärkste mit den Unterthemen „Die Kraft des Evangeliums für den heutigen Menschen“, „Sendung oder Selbsterhaltung“ und „Mission — Zurüstung und Dienst“. Der Bogen war hier weit gespannt. Sektion II trat unter dem Thema „Mehr als Einheit der Kirchen“ zusammen. Ökumene und Zusammenleben mit anderen Christen standen zur Diskussion.

Sektion III schließlich befaßte sich unter dem Thema „Verantwortliche Teilhabe an der heutigen Gesellschaft“ mit dem sozialen Wandel, der Bildungsknise, den Menschenrechten einschließlich der wirtschaftlichen Gerechtigkeit und mit der Verantwortung für den Frieden. Im Gegensatz etwa zu oft recht einseitigen Engagements der Prager Christlichen Friedenskonferenz, aber auch manchen Verlautbarungen der Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen vor zwei Jahren in Uppsala gab es von den Delegierten des Weltluthertums maßvolle und nicht ideologisch gefärbte Diskussionen und Beschlüsse. Die Brüderlichkeit mit den Katholiken, aber auch mit der reformierten Schwesterkirche, den Anglikanem,Pfingstlern und Missouri-Lutheranern in mehreren Resolutionen erneut zu deklarieren, fiel der Versammlung in den letzten Tagen noch am leichtesten. Der neugewählte Präsident des Weltbundes, der Finne Prof. Dr. Juva, unterstützte auf seiner ersten Pressekonferenz nachdrücklich die These, das Fernziel müsse ein gesamtchristliches Konzil sein. Nachdem die Lehre von der Rechtfertigung nicht mehr zwischen den Konfessionen stehe, gelte es nun, die Lehre vom Amt — noch immer das größte Hindernis zwischen Katholiken und Protestanten — gründlich zu überdenken. Theologische Arbeit muß also, stärker, als diese Versammlung erkennen ließ, gleichberechtigt neben das soziale und politische Engagement treten, soll der Lutherische Weltbund mit seinem in Evian einbekannten Pluralismus nicht auf die Dauer sich selbst überflüssig machen. Was der ökumenische Rat der Kirchen auf weltweiter Ebene bereits an sozialen Verpflichtungen eingegangen ist, bedarf innerhalb der konfessionellen Weltbünde dringend der soliden theologischen Arbeit als Ergänzung. Dem Beispiel Papst Pauls VI. und der orthodoxen Kirchen folgend hat die Fünfte Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Evian die Bitte um Vergebung an der Mitschuld der Trennung der Christenheit ausgesprochen. In einer Erklärung der Vollversammlung heißt es, dem Gebot der Wahrheit und der Liebe entspreche es, „daß auch wir als Lutherische Christen und Kirchen bereit sind, daß das Urteil der Reformatoren über die römisch-katholische Kirche und Theologie ihrer Zeit oft nicht frei war von polemischen Verzerrungen, die zum Teil bis in die Gegenwart nachwirken“. Eingehend auf die Vergebungsbitte des Papstes zum Beginn der Zweiten Session des Zweiten Vatikanischen Konzils wird in der Erklärung betont: „Wir bedauern aufrichtig, daß unsere römisch-katholischen Brüder durch solche polemischen Darstellungen gekränkt und mißverstanden worden sind. Mit Dankbarkeit erinnern wir uns der Erklärung Papst Pauls VI. zu Beginn der Zweiten Session des Zweiten Vatikanischen Konzils, in der er seine Bitte um Vergebung aussprach für alle Kränkungen, die durch die römisch-katholische Kirche geschehen sind. Im Gebet des Herrn bitten wir zusammen mit allen Christen um Vergebung. Laßt uns deshalb darauf bedacht sein, einander aufrichtig und in Liebe zu begegnen.“

In der persönlichen Anwesenheit des Präsidenten des Sekretariats zur Förderung der Einheit der Christen, Kardinal Jan Willebrands, und der katholischen Beobachter sehen die Lutheraner ein Zeichen der wachsenden Verständigung zwischen den Katholiken und den Lutherischen Kirchen und eine Ermutigung, weiter um jene Gemeinschaft zu ringen, derer die Kirchen bedürfen, um ihrem gemeinsamen Dienst und ihrer gemeinsamen Sendung gerecht zu werden. Von besonderer Bedeutung seien hier die Ausführungen des Kardinals zur Person und Theologie Martin Luthers in seinem Referat vor der Vollversammlung. „Wir sind uns der Bedeutung dessen bewußt“, heißt es in der Erklärung weiter, „daß ein so hoher Vertreter der römisch-katholischen Kirche bei einer so denkwürdigen Gelegenheit sich für eine gerechtere Beurteilung des Reformators und der Reformation einsetzte“. Evian war ein Ende und ein Anfang zugleich. Ein Ende: eine Versammlung dieser Größenordnung ist kaum mehr arbeitsfähig, und der immense Fleiß steht darum in keinem Verhältnis zu den Ergebnissen. Ein Anfang: die Tore der lutherischen Kirchen zur Welt sind weit aufgestoßen worden. Niemand wird nach dieser Vollversammlung den Lutheranern mehr mangelndes Interesse an den öffentlichen Dingen vorwerfen können. Aber eine Kirche muß Türen haben, die sich auch zeitweilig schließen lassen, damit drinnen in Wort und Sakrament, in Predigt und Anbetung die geistlichen Kräfte erneuert werden. Sonst lebt sie über ihre Verhältnisse.

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