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Evolutionärer Sozialismus in den USA

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In den Vereinigten Staaten hat bisher noch keine selbständige Arbeiterpartei Fuß fassen können. Die Gründe hiefür sind vielfach darin zu suchen, daß die wesentlichen Programm punkte neuer Parteien immer wieder von den schon bestehenden Großparteien aufgenommen wurden. Dazu kommt, daß in Zeiten der Konjunktur der Lebensstandard der amerikanischen Arbeiter außerordentlich hoch ist, so daß er für eine politische Propaganda wenig zugänglich ist.

Wenn sich also in den Vereinigten Staaten ein Sozialismus entwickeln könnte, so müßte dies nicht in revolutionärer Umwälzung, sondern in einer langsamen evolutionären Entwicklung vor sich gehen. Eine solche vermag von den Weltereignissen und einem in erstaunlich kurzer Zeit hervorgerufenen Antiisolationismus beschleunigt werden.

Die Gewerkschaftsführer vom alten Schlag, etwa John Lewis, der Führer der Braunkohlenbergarbeiter, sind, so paradox es scheinen mag, aus ihrer kapitalistischen Haltung selbst niemals herausgekommen. Aufgewachsen in schärfstem Konkurrenzkampf des amerikanischen Wirtschaftslebens, groß geworden in zähem und erbittertem Handeln um einen, wenn auch noch so geringen Vorteil, konnten sie sich eine Vertretung der Interessen ihrer Arbeiter nicht anders vorstellen als durch Feilschen, Handeln und durch Streik, wenn sie es nicht vorzogen, diesen gleichsam als Artillerievorbereitung für ihre Verhandlungen za benutzen. Arbeiterfubrer sein, bedeutet noch heute für die Gewerkschaftsführer alter Prägung, höhere Löhne, weniger Arbeitsstunden und bessere Arbeitsbedingungen za erreichen. Es gilt für sie das „devil-take-che-hindmost”, das Herausholen des Äußersten an Vorteilen für die Arbeiter. Daß bei solchen Methoden das Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer nicht das beste sein kann, ist nicht zu verwundern.

Demgegenüber gibt es in Amerika den Typ des jungen, nüchternen und fortschrittlich denkenden Gewerkschafters, der sich an den Vorbildern des Sozialismus der ganzen Welt geschult hat und sich auf Grund seiner Beobachtungen und Überlegungen eigene Gedanken über das Verhältnis von Arbeiterschaft und Unternehmertum gemacht hat und zu recht bemerkenswerten Ergebnissen gelangt ist.

Einer von diesen jungen Arbeiterführern ist der Präsident der größten Gewerkschaft der Welt, der „United Automobile Workers” (UAW), der „Vereinigten Automobilarbeiter”, Walter Reather. 1907 in Wheeling, Westvirginia, geboren, tritt er nach zwei Jahren High School mit 15 Jahren als Lehrling in die Werkzeugmacherei und Gießerei der Wheeling Steel Corporation ein, verliert seinen Posten wegen Organisierung eines Streiks gegen die Sonn- und Feiertagsarbeit, geht 1927 nach Detroit, arbeitet bei verschiedenen Industrien und landet als Vorarbeiter bei Ford. Besessen von jenem ungestümen Drang nach Fortschritt und Bildung, der für den Amerikaner so charakteristisch ist, arbeitet er in der Nachtschicht, um bei Tag seine fehlenden zwei Jahre High School zu vollenden, und besucht dann in derselben Weise drei Jahre lang die Wayne-Universität. Er gründet in Detroit einen Klub zur Diskussion sozialer Probleme, isj für kurze Zeit Mitglied der Sozialistischen Partei (die nichts mit den Kommunisten zu tun hat) und wird dann von den Ford-Werken entlassen. Darauf geht Reuther mit seinem Bruder drei Jahre auf Reisen, arbeitet zur Zeit der Machtübernahme Hitlers in Deutschland, bereist Rußland, England, Zentralasien, China, Japan. Er kehrt 1935 nadi Detroit zurück und erreicht bald eine führende Rolle in der Gewerkschaft. In außerordentlich jungen Jahren Vizepräsident der UAW geworden, plant und organisiert er deren 113tägigen Streik im Jahre 1945/46, der ein voller Erfolg wird und dessen Neuregelung der Löhne beispielgebend für die ganze amerikanische Nachkriegsindustrie wurde. Reuther erklärte, Ziel dieses Streiks sei, die Kaufkraft de amerikanischen Arbeiters zu erhalten. Es sei dies „ein Kampf aller Amerikaner, die einen dauerhaften Frieden wünschen, bei voller Produktion, vollem Konsum und voller Beschäftigung, jahraus, jahrein, sich ausforeitend über die Vereinigten Staaten hinaus in die übrige fiebernde und unglückliche Welt, nicht durch Eroberung, sondern durch das Beispiel”. Der volle Erfolg dieses großen Streiks bereitete den Boden vor für seine Wahl zum Präsidenten der „United Automobile Workers”, und in dieser Stellung hat er mehr Gelegenheit als früher, seine Ideen über ein neues Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter auszubauen. Eine Gegnerschaft zur Gewerkschaft sei vor allem in den Reihen jener Industriellen zu suchen, die noch immer ihr Unternehmen als Privateigentum betrachten, mit dem jeder anfangen könne, was ihm beliebe, ohne auf eine Verpflichtung für das Wohl der Arbeiter oder das öffentliche Interesse Rücksicht zu nehmen.

Reuther dagegen erklärt: Die alten Gewerkschaften versuchen eine Gruppe von Mitgliedern zu protegieren, indem sie die Zahl der Arbeiter durch hohe Aufnahmegebühren beschränken. Sie kümmerten sich nur um Löhne; Arbeitsstunden und Arbeitsbedingungen. Wir müssen eine konstruktive soziale Macht sein, die daran arbeitet, das Wohl der ganzen Gemeinschaft zu fördern. „Ich habe den Gedanken der CIO (Conference of Industrial Organisation ) als Großgewerkschaft aufgenommen und ihn auf einer höheren Ebene verfeinert. Höhere Löhne sind nicht genug. Mir liegt das Wohl und Wehe der ganzen Gemeinschaft am Herzen.”

Reuther hat vor allen anderen amerikanischen Gewerkschaftern voraus, daß er nicht in der Defensive bleibt, sondern ein konstruktives Programm entwickelt, nämlich die Teilnahme der Arbeiterschaft an der Festsetzung jener Methode, nach der die Fabrik ihre Erzeugnisse am besten und rationellsten herstellen soll; die Teilnahme der Arbeiterschaft an der Festsetzung der Kosten für den Konsumenten und das Mitspracherecht an großen nationalen politischen Bewegungen.

Im einzelnen soll nach Reuther nicht der wöchentlich ausbezahlte Stundenlohn die Basis des Verdienstes sein, sondern der Jahreslohn, denn „der Mensch esse ja auch nicht stundenweise”. Damit will er der in den USA gefürchteten Beschäftigungsunsicherheit zu Leibe rücken, die eine kündigungslose Entlassung von heute auf morgen möglich macht.

Die Gegner haben Reuther immer wieder seine frühere Mitgliedschaft bei der Sozialistischen Partei zum Vorwurf gemacht und ihn als „Sozialisten” beschimpft. Darauf pflegt er zu antworten: „Wenn der Kampf für eine gleichmäßigere und angemessenere Verteilung des Reichtums in diesem Lande sozialistisch ist, dann bekenne ich, ein Sozialist zu sein.”

Denen, die ihn beschuldigen, ein Kommunist zu sein, entgegnet er auf Grund seiner Erfahrungen: „Wir können keine Demokratie ohne Vollbeschäftigung haben. Die Kommunisten sehen, ebenso wie die extremen Sozialisten, das alleinige Heil in der Verstaatlichung. Ich bin dafür, d a ß d i e Privatindustrie eine größtmögliche Verantwortung übernimmt, aber der Staat muß eingreifen, sobald die Beschäftigungsziffer sinkt.”

Reuther will seine Ziele von der „Wohlfahrt der ganzen Gemeinschaft” praktisch durch einen Industrierat erreichen, in dem sowohl die Unternehmer als auch die Arbeiter vertreten sind.

Dies dürfte in einem Land wie Amerika sicherlich nicht leicht sein, und es wird noch lange währen, ehe einer seiner wesentlichsten Programmpunkte verwirklicht sein wird. Andererseits ist Reuther die Unterstützung vieler weitblickender Kreise des Landes gewiß. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß er mit seinem Plan vom „Industrial Council” und der „Welfare of the Whole Community” den Ideen katholischer Sozialtheoretiker nahezukommen scheint. So bezeichnet die von Jesuiten herausgegebene weitverbreitet Wochenschrift „America” Walter Reuther als einen „durch und durch ehrenhaften Mann und klugen Kopf, dem die wirklichen Interessen der Industrie am Herzen liegen”.

Noch ist die amerikanische Arbeiterschaft in viele Interessengruppen gespalten, und eine einheitliche Haltung dürfte sich derzeit wohl nur im Widerstand gegen eine gemeinsame Gefahr (zum Beispiel das Taft-Hartley- Gesetz), nicht aber über eine gemeinsame konstruktive Politik erzielen lassen. Die Tatsache jedoch, daß der Präsident der größten Gewerkschaft der Welt einen evolutionären Sozialismus vertritt, läßt uns den kommenden Ereignissen in der amerikanischen Industrie mit Interesse entgegensehen.

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