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EWG an englischen Kaminen

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In London und in den Provinzstädten Englands schien sich in den letzten Wochen alles um das Weihnachtsgeschäft zu drehen. Die Geschäftsstraßen übertrafen einander im Reklameaufwand; in den großen Kaufhäusern standen die Kinder Schlange und warteten auf Father Christmas. Die Briefträger stöhnten unter der Flut von Weihnachtskarten, die heuer wieder angeschwollen ist. Und anscheinend hatte die öffentliche Dehatte um die Commonwealth-Einwanderung und den Lohnstopp die Frontseiten der Zeitungen erobert. Alles das überdeckte aber nur die Kernfrage: Was wird ;in Beitritt Großbritanniens zur EWG für die Zukunft bedeuten? Die Antwort darauf' wird gesucht in Debatten der politischen Parteien; in heißen Diskussionen auf den Hochschulen; in Gesprächen des kleinen Mannes („common man“, wie er in England genannt wird). Diese Frage ist sogar imstande, so wichtige Ereignisse wie die letzten Fußballoder Rennresultate aus der privaten und öffentlichen Diskussion zu verdrängen. Ihr Korrespondent hat eine Reihe von Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft sowie Herrn Jedermann um ihre Meinung über das Problem eines Beitritts Großbritanniens zur EWG befragt, um herauszufinden, wie die Engländer über diese Frage wirklich denken.

Ein gewisses Unbehagen

Unweit des Parlaments und der Westminster Abbey ist ein kleiner, ruhiger Platz, Smith Square; in einem unscheinbaren Haus hat die Konservative Partei ihr Hauptquartier. In einem kleinen Raum im1 dritten Stock sitze ich einem der Organisatoren der Young Conservatives gegenüber.

Auf meine Frage nach dem Verhältnis zwischen Großbritannien und der EWG stellt mein Gesprächspartner, ein rund 40jähriger, freundlicher Engländer, der ebensogut in einem der Handelshäuser Londons sitzen könnte, zunächst eine Gegenfrage: „Wollen Sie meine private Meinung oder jene der Konservativen Partei hören?“ Natürlich will ich beide hören. Bündig erklärt er, daß die Regierung im Sommer beschlossen habe, der EWG beizutreten, und daß man selbstverständlich die Verhandlungen bald zu einem Ende bringen möchte. Natürlich gäbe es eine Reihe von Problemen zu lösen; zuversichtlich beendet er jedoch den Satz: „aber doch keine unlösbaren“.

Als ich darauf hinweise, daß in den letzten Wochen in den unabhängigen Tageszeitungen wiederholt von einer wachsenden Opposition gegen einen Beitritt Großbritanniens die Rede war, führt er aus: „Die Young Conservatives fänden es unweise, nicht dem Gemeinsamen Markt beizutreten. Freilich gibt es unter den konservativen Abgeordneten und den Mitgliedern auch solche, die gegen einen Beitritt sind. Die Konservativen haben keine Ideologie im kontinentalen Sinn des

Wortes; es verbindet sie nur die Vorliebe für das Individuelle. Allgemein gesprochen, und das bezieht sich jetzt auf die ganze Bevölkerung, ist die Mehrheit für einen Beitritt. Nur eine Minderheit lehnt den Beitritt wirklich ab, und ein großer Teil hat noch keine entschiedene Meinung darüber. Wenn die Zeitungen diese Frage öffentlich diskutieren, dann entspricht das nur alter englischer Tradition; aber das bedeutet noch lange nicht eine wachsende Opposition.“

Auf meinen Einwand, daß besonders die Landwirtschaft opponiere, meint er, über diesen Fragenkomplex könne in Verhandlungen mit .der EWG wohL ein Arrangement getroffen werden. „Sicherlich haben “fie in der Presse von den Schwierigkeiten der EWG-Länder gelesen, in der Frage der Landwirtschaft zu einer Einigung zu kommen. Wahrscheinlich werden einige Mitglieder der EWG — ich denke zum Beispiel an die Benelux-Länder — unseren Standpunkt unterstützen. Im übrigen kann ich zu dem ganzen Komplex nur sagen: wait and see“ (etwa: manches wird sich mit der Zeit von selbst lösen).

Einige Stunden später sitze ich wieder im Zimmer eines Hauses auf dem Smith Square, diesmal im Transport House, dem Sitz der Labour Party. Mein Gegenüber, der Leiter der Forschungsabteilung der Partei, in einen groben Tweedanzug gekleidet und offensichtlich der Intellektuellenschicht zugehörig, verneint eine allgemeine Ablehnung der Beitrittserklärung durch die Labour Party. „Aber ich gebe zu, daß viele Mitglieder ein gewisses Gefühl des Unbehagens nicht unterdrücken können. Niemand weiß, in welche Richtung sich die EWG entwickeln wird.“

Als ich frage, ob es richtig sei, daß dieses Unbehagen auf einem Gefühl des Mißtrauens de Gaulle und Deutschland gegenüber beruht, wie es gelegentlich heißt, antwortet er: „Ich kenne diese Argumente; ich glaube nicht, daß sie eine große Rolle spielen, zumindest nicht in der Labour Party. Ich glaube eher, dieses Unbehagen erklärt sich aus der allgemeinen Ablehnung eines föderalistischen Europa; die Mehrzahl der Engländer will nur eine wirtschaftliche Integration.“

Nach diesen Worten ergreift er einen Stoß Papier, sucht eine der Resolutionen des Parteitages der Labour Party in Blackpool vom Oktober 1961 heraus und reicht sie mir über den Tisch. Unter dem Vermerk „Vertraulich“ kann ich lesen, daß die Labour Party so lange einen Beitritt Großbritanniens zur EWG nicht billige, bis nicht Garantien für die Landwirtschaft, die EFTA-Länder und das Commonwealth erreicht sind. Darüber hinaus müsse das Vereinigte Königreich sich das Recht vorbehalten, Verstaatlichung. Gründung neuer Staatsbetriebe und Planung als Mittel zu verwenden, ..um in Großbritannien den sozialen Fortschritt voranzutreiben“.

Die Labour Party, höre ich, wäre aber nicht so streng ideologisch ausgerichtet wie manche Parteien auf dem Kontinent, man wäre mehr pragmatisch. Die Partei sei auch nie so stark wie andere sozialistische Parteien vom Marxismus beeinflußt gewesen. Im Lauf des Gesprächs stellt sich jedoch heraus, daß das Unbehagen vieler Labour-Politiker im Kern doch ein ideologisches ist. Für sie beruht die EWG auf der Ideologie eines Adam Smith und stellt den Versuch der Bourgeoisie dar, die kapitalistische Gesellschaft zu konservieren. Ich halte dem Direktor der Forschungsabteilung der Labour Party die Existenz starker sozialistischer Parteien in den EWG-Ländern entgegen, welche den Gemeinsamen Markt durchaus bejahen. Ich erzähle ihm von einem Gespräch mit Dr. Deist, dem Wirtschaftsexperten der SPD in Düsseldorf, in welchem Dr. Deist unmißverständlich feststellte, daß die EWG für Europa notwendig sei und daß er keinen Widerspruch dieses Bekenntnisses zum Sozialismus entdecke. Ich ernte bloß die Antwort: „Wir wissen, daß die deutschen Sozialisten und Herr Deist keinerlei ideologische Skrupel bezüglich EWG haben. Wir — die englischen Sozialisten — unterscheiden uns darin ein wenig.“

Ich verabschiede mich und muß mich beeilen, um rechtzeitig zum Royal Institute for International Affairs auf dem St. James' Square zu kommen, wo mich der Studiendirektor, Andrew Shonfield, empfängt. Auch ihn frage ich, ob es richtig sei, daß in England eine wachsende Opposition gegen die EWG zu beobachten ist.

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