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EWG und Atlantische Welt

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Es besteht gar kein Zweifel, daß Großbritannien derzeit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitreten möchte. Daran ändert auch die starke Kritik der Commonwealth-Konferenz im vergangenen Monat nichts. Diese weltweite Versammlung war nichts anderes als ein bedeutungsloses Spektakel, da ihr die Grundlage der Diskussion fehlte: nämlich die Einigung zwischen England und der EWG über einen Beitritt oder zumindest eine Assoziierung.

Das einzige, was von der Commonwealth-Konferenz übriggeblieben ist, ist ein großes Rätselraten darüber, ob die starke Ablehnung eines vereinten Europa dein britischen Verhandlungspartner in Brüssel nützt oder schadet. Sie wäre gut für ihn, wenn die sechs Staaten der EWG einen Beitritt Großbritanniens zu ihrer Gemeinschaft vorbehaltlos bejahten.“ Denn dann müßten ' sie dem Inselland, das in seiner „Völkerfamilie“ solche Schwierigkeiten hat, mehr entgegenkommen als bisher. Sie würde sich nachteilig äußern, wenn das Gegenteil der Fall ist. Wissen doch die sechs, wo sie vor der öffentlichen Meinung am glaubwürdigsten einzuhaken haben, um die Beitrittsverhandlungen scheitern zu lassen: nämlich England Bedingungen aufzuerlegen., mit deren Annahme es das Commonwealth so brüskiert, daß es vor der Weltöffentlichkeit sein Gesicht verlieren müßte.

Die Frage, ob die EWG England in ihrer Mitte haben möchte, ist nicht so leicht zu beantworten. Es ist vorerst eine Analyse der Situation notwendig.

Derzeit gibt es drei Strömungen innerhalb der Sechsergemeinschaft. Da ist zunächst die zweifellos bestehende Achse Paris-Bonn. Sie wird repräsentiert und in ihrer Ausschließlichkeit gehalten durch die zwei großen alten Männer de Gaulle und Adenauer. Die Hauptgegner sind die drei Benelux-länder: Belgien. Holland und Luxemburg unter Führung des belgischen Außenministers Spaak, der eine Hegemonie der beiden Großmächte fürchtet. Insbesondere de Gaulles Ruf nach einer dritten Kraft zwischen den Weltblöcken Rußland und Amerika klingt übel in ihren Ohren. Sie wollen die Anlehnung an die atlantische Gemeinschaft. Dies ist auch der Hauptgrund, weshalb Italien in jüngster Zeit den Bestrebungen de Gaulles immer mehr ablehnend gegenübersteht. Seine Triumphfahrt durch Deutschland und seine so offensichtlich gezeigte Verbrüderung mit Adenauer war nur der äußere Anlaß, damit Italien seinen Kummer offen zeigen konnte.

Dennoch gehört Italien nicht wie die Beneluxländer zu den ausgesprochenen Gegnern de Gaulles. Es repräsentiert sozusagen die dritte Strömung innerhalb der EWG und wartet ab. Ist de Gaulle bereit, das Duovirat zu einem echten Triumvirat auszubauen, und verzichtet er auf seine unfreundliche Haltung gegenüber Amerika in militärischen Belangen, so daß Italiens militärische Deckung gesichert bleibt, wäre es bereit, voll auf seine Linie einzuschwenken.

Welche ist aber die Linie de Gaulles? Bei den undurchsichtigen und dunkel gehaltenen Aussprüchen des Generals eine schwer zu beantwortende Frage. Noch zu gut ist der Vorfall mit seiner Äußerung von dem „l'Europe des patries“, dem Europa der Vaterländer, in Erinnerung. Als er merkte, daß man ihn damit auf eine Linie festlegen wollte, erklärte er der erstaunten Welt, daß er von so etwas nie gesprochen habe. Gegenwärtig ist sein Wort v^on der „troisieme force“, der dritten Kraft, umgeben vom Mythos Europa, in aller Munde. Vielleicht kommt dex. Tag, da er behauptet, daß er nie einen“ % ejijkr0päischer£ Block zwischen RußlancLund“. Anierika hätte,, bilden' wöllert.'>De%ä%trfisfYirVf&-schickter Taktiker, der durch den Dschungel der täglichen innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten seinem Ziel zustrebt. Er muß oft im Zickzack gehen, und das läßt sein Wollen so unklar erscheinen. Er weiß aber sicher, wohin er kommen will; nämlich zu einem vereinten Europa unter Frankreichs historisch bedingter Führung. Das Reich Karls des Großen ist für ihn mehr als ein Mythos; es ist eine Realität. Damit ist auch die Frage beantwortet, wie sich de Gaulle zu einem Beitritt Englands zur EWG stellt.

Es hat keinen Zweck, dieser Tatsache auszuweichen'. Sosehr sich England bemüht, in die Gemeinschaft hineinzukommen, sosehr wünschen de Gaulle und Adenauer, daß es derzeit noch nicht geschieht.

Es geht hierbei nicht ausschließlich um die Vorherrschaft Frankreichs in Europa, sondern um das Gesamtkonzept. England würde „Europa“ in die atlantische Gemeinschaft hineinziehen. Frankreich und Deutschland wollen aber tatsächlich das schaffen, was man derzeit die dritte Kraft nennt.

Sie haben dabei den Vorteil, daß England verhältnismäßig spät sozusagen auf ihre Schliche gekommen ist. Nur am Rande sei bemerkt, daß Washington noch nicht einmal heute so weit ist. Als nämlich die sechs im Jahre 1950 die europäische Kohle-und-Stahl-Gemeinschaft (Montanunion) gründeten, wäre ein Beitritt Englands ohne weiteres möglich gewesen. Damals scheute es sich, in Verkennung der Lage, gewisse Souveränitätsrechte einer übernationalen Behörde zu übertragen. Damals war der entscheidende Anfang, und als der Versuch geglückt war, trat im Jänner 1958 die EWG in Funktion. Jetzt begriffen die Briten, aber es war bereits zu spät. Das von ihnen vorgeschlagene Projekt einer großen Freihandelszone scheiterte am Widerstand Frankreichs, und die später gegründete kleine Freihandelszone (EFTA), welche die „Ausgesperrten“ umfaßte, war daher nur eine Notlösung. Immerhin hat sich dieses Experiment gelohnt, denn es hat gezeigt, daß eine wirtschaftliche Vereinigung, die nicht bereit ist, Souveränitätsrechte an eine übernationale Behörde abzutreten, nicht imstande ist, mit einer zu konkurrieren, die das tut.

Die psychologische Wirkung des EWG-Schwunges ist enorm. Obwohl sich die Zollsenkungen innerhalb der Gemeinschaft noch nicht so ausgewirkt haben können, ist doch ein größerer Wirtschaftsaufschwung festzustellen als bei den EFTA-Staaten oder Drittländern.

Die jährliche Zuwachsrate des Bruttosozialproduktes in der EWG betrug in den letzten Jahren etwa 5,5 von hundert, in der EFTA etwa 3 von hundert, in den USA 3,3 von hundert. Der Gesamtindex der Industrieproduktion von 1958 (100) stieg in der Sechsergemeinschaft im Jahre 1960 auf 121, Großbritannien erreichte in der gleichen Zeit einen Index von 114 und die USA einen solchen von 118.

Der innere Handel innerhalb der EWG hat in den letzten Jahren stärker zugenommen, als man erwartete, insbesondere, wenn man ihn mit dem Wachstum des Warenaustausches mit Drittländern vergleicht. '

Der Investitionsbetrag ausländischer Kapitalgeber in der EWG steigt ebenfalls von Jahr zu Jahr. Die Zahl der amerikanischen Firmen z. B., die sich innerhalb des EWG-Raumes niedergelassen haben, beträgt derzeit mehr als 500 gegenüber 180 im übrigen Europa. Für die Fertigwarenindustrie wurde eine ausländische Kapitalinvestition wie folgt geschätzt:

In Millionen Dollar:

1958 1959 1960 EWG 166 167,3 269,2

übriges Europa 293 222 231,7

Diese Zahlen geben zweifellos ein Bild über die stürmische Wirtschaftsentwicklung innerhalb der Sechsergemeinschaft.

Daran ändert sich auch nichts, wenn kürzlich von britischer Seite Ziffern gebracht werden, die weniger optimistisch sind. Aufschlußreich ist der in der Augustnummer der „National Institute Economic Review“ (London) erschienene Artikel von R. I. Major, der zu dem Schluß kommt, daß „die Auswirkungen des Gemeinsamen Marktes zwar auf längere Sicht wahrscheinlich bedeutsamer werden mögen .. ., die bisherige Entwicklung es aber als voreilig erscheinen ließe, wollte man den Block des Gemeinsamen Marktes im internationalen Wettbewerb als eine geschlossene Wirtschaftseinheit sehen“.

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