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Nach der Art ein offiziellen Weißbuches erscheint seit Jänner, mit den Insignien der vier Besatzungsmächte geschmückt, ein „Amtsblatt der Alliierten Kommission für Österreich“ mit gleichlautendem russischem, englischem und französischem Text; ein deutscher ist beigegeben, aber nur die Texte in den anderen Sprachen sind maßgebend. Benützt man etwa die französische Fassung, so findet man unter dem Titel „Lois du Gouvernement provisoire Autrichien adoptee par le Conseil Allie — Gesetze der österreichischen Regierung, die durch den Alliierten Rat anerkannt sind — auf Seite 57 unter diesen anerkannten Gesetzen als Nummer 4 verzeichnet: „Remise en vigeur de la Constitution 1929 — Loi du 1er mai 1945“ — Wiederinkraftsetzung der Verfassung von 1929, Gesetz vom 1. Mai 1945.

Dieses am 1. Mai v. J. als provisorische Verfassung von der damaligen Regierung Renner wieder erneuerte und am 19. Dezember 1945 im neugewählten Nationalrat von allen drei Parteien durch einstimmigen Beschluß bestätigte und in dem zitierten Amtsblatt des Alliierten Rates als am 18. Dezember 1945 anerkannt verzeichnete Gesetz ist dieser Tage von derselben Stelle als „nicht genehmigt“ erklärt worden. Bis zum 1. Juli 1946 sei ein definitiver Verfassungsentwurf fertigzustellen.

Die Verfassung bildet für jeden demokratischen Staat Grundlage und Ausgangspunkt seiner Rechtsordnung. Wurde die Verfassung brüchig* so konnte sich eine Monarchie alten Stiles helfen, denn in ihr galt der Monarch als die erste Rechtsquelle, zu der bei Notständen die staatliche Ordnung flüchten konnte. Setzt aber die Verfassung des demokratischen Gemeinwesens aus, die Ausdruck des Volkswillens ist, so stockt auch der Herzschlag der Demokratie.

Welch äußere Ursachen den Erdrutsch hervorbrachten, durch den 'die von der freigewählten österreichischen Volksvertretung beschlossene und in offizieller Verlautbarung des Alliierten Rates als anerkannt erklärte Verfassung zwischen 18. Dezember und 26. März verschüttet worden ist, erscheint nicht so ausschlaggebend wie die Frage, welche inneren Gründe diesem Gefetze die Geltung entziehen sollen. Darüber liegt keine klare authentische Mitteilung vor. Man vernimmt nur, daß es eine ihrem Wesen nach ganz veraltete Verfassung darstelle, welche die im Nachkriegsösterreich vor sich gegangenen Veränderungen nicht in Betracht ziehe. — Gewiß läßt diese Verfassung Wünsche verschiedener Art offen. Von weiten Volkskreisen wird zum Beispiel eine bestimmtere Verankerung verfassungsmäßiger Anteilnahme der arbeitenden und schaffenden Stände an der Gesetzgebung. eine Auflockerung des bloßen Parteienstaates, gewünscht. Aber zunächst galt es ja nur rasch ein für die nächste Zeit ausreichendes Notdach zu errichten. Verfassungen schüttelt man nicht aus dem Ärmel. Ihre Beratung und Rechtsatzung rollt alle Probleme des staatlichen Zusammenlebens auf; zunächst waren in dem Staatshaus, das die nationalsozialistischen Machthaber des Dritten Reiches gründlich demoliert hatten, die Türen und Fenster einzusetzen, um es bewohnbar zu machen. Ohne in geschmackloses Selbstlob zu verfallen, können wir Österreicher von uns sagen, daß wir vor dem Zusammentritt des gewählten Nationalrates, in dessen Wahlen und in der neuen gesetzgebenden Körperschaft ein Beispiel wachsender demokratischer, staatlicher Ordnung gegeben haben, das sich in der Umgebung immerhin sehen lassen kann.

Welche Mängel der Verfassung mögen also zu ihrer Diskriminierung Anlaß gegeben haben, die vorläufig unsere Demokratie in eine recht unerfreuliche und schmerzliche Lage bringt? Von ausschlaggebender Wesenheit in diesem Gesetzeswerk, das die Verfassungsgesetze vom 1. Oktober 1920 und die erste Bundesverfassungsnovelle von 1925 ergänzte und abänderte, war die Ausweitung der Rechte des Bundespräsidenten; sie sollte den Staat auch für außerordentliche Fälle rüsten, „wenn der Nationalrat nicht versammelt ist, nicht zusammentreten kann oder in seiner Tätigkeit durch höhere Gewalt verhindert ist“. Dann sollte der Bundespräsident die Möglichkeit haben, „zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder

gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit“ auf Vorschlag der Bundesregierung „vorläufige“ gesetzändernde Verordnungen zu erlassen; diese seien dann „sofort“ dem Nationalrat zur Genehmigung oder Außerkraftsetzung vorzulegen. Der Bundespräsident konnte die Auflösung des Nationalrates aussprechen, aber auch dann hatte ein neuzuwählendes Parlament schon am 90. Tage nach der Auflösung zusammenzutreten. — Wo immer dem Bundespräsidenten Rechte eingeräumt waren, dort waren sie begrenzt durch die effektive, ihn verpflichtende Korrekturgewalt der gesetzgebenden Körperschaft. Ähnliche dem Staatsoberhaupt über-gebene Sicherheitsmaßregeln finden sich in den geltenden Verfassungen aller großen Demokratien, noch weitergehende in den Vorrechten des Präsidenten der USA. Nichts kennzeichnet deutlicher den strengen demokratischen Charakter des Verfassungsgesetzes von 1929 als seine nicht alltägliche Bestimmung, daß ein parlamentaricher, im Proporz

vom Nationalrat zu wählender „Hauptausschuß“ auch das Verordnungsrecht der Regierung und selbst zur Zeit der Auflösung des Nationalrates die Vollziehung zu kontrollieren berechtigt war. Die Durchforschung des Gesetzes gibt keinen überzeugenden Aufschluß über das Geschehene.

Augenblicklich, nach Aufhebung der provisorischen Verfassung, wird sich Österreich also mit noch stärker als provisorisch betonten und weniger demokratischen Einrichtungen begnügen müssen, als es vorher besaß. Wird es möglich sein, das endgültige Verfassungswerk innerhalb eines Vierteljahres herzustellen und — wie es erforderlich ist — dabei jeder Mißdeutung auszuweichen, als ob die neue Fassung nicht einem freien Entschlüsse der gewählten Vertreter des österreichischen Volkes entspringe? Hier nähern sich die Entscheidungen einer Schwelle, die nur mit Gefahr überschritten werden kann.

Es beginnen sich jetzt die Tage zu jähren, da aus den Schrecknissen der letzten Kämpfe, unter dem Donnerlaut des Eisenregens sich Österreich zur Freiheit aufzurichten begann. Mit welchem Jubel, mit welcher begeisterten

Bereitschaft, der geretteten Heimat alles an geben und in froher Zuversicht den neuen Volksstaat zu bauen, haben wir sie begrüßt! Ob mit diesem Schatz von gutem Willen und froher Tatbereitschaft gut gewirtschaftet wird oder nicht, macht das künftige Schicksal dieses Staates aus. Jeder demokratische Staat empfängt seifl Lebenseltment aus dem Vertrauen des Volkes zu seinen selbstgeschaffenen Einrichtungen und zur Sicherheit seiner Rechtsordnung. Wenn es noch irgendwo lauernde Feinde gäbe, die ihre Anschläge gegen die Unabhängigkeit unseres Landes noch nicht endgültig erledigt glauben könnten, dann würden gerade sie sich zu jeder Minderung des Vertrauens in die Standfestigkeit der österreichischen Demokratie beglückwünschen. Es wird wichtig sein, daß die jetzt eingetretene peinliche Lage rasch und eindeutig im Sinne gesicherter Demokratie überwunden wird. Der Österreicher wehrt sich nicht gegen die Mühen und Sorgen, die ihm der Neuaufbau seines Landes aufbürdet. Er wird um so mutiger in dieser Arbeit sein, je deutlicher er seinen freien Volksstaat wachsen sieht.

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