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FESTIVALS UND FESTIVALITIS

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Die Festspielfreudigkeit der Menschen hat nach dem zweiten Weltkrieg mit einer beinahe beunruhigenden Rapidität zugenommen. Oft ohne innerlich begründeten Anlaß und organisches Wachstum sind rund um alle Sparten künstlerischer Lebensäußerung Festspiele emporgesohossen, und die Propagandaparolen geschäftstüchtiger Manager und besessener Fremdenverkehrsspezialisten suggerierten Bedürfnisse, die weder durch Tradition, noch durch historisch begründete Anliegen untermauert waren. Es entstanden Begriff und Typ des „Festivaliers”, der meist mit versnobter Miene und blasierter Überheblichkeit von einer internationalen Veranstaltung zur anderen reist, ohne überhaupt mehr daran zu denken, daß ja im Grunde ein solches Festspiel von einer künstlerischen und geistigen Mission getragen sein muß, wenn es sich auf die Dauer im Mahlstrom einer überschäumenden Festivalitis behaupten will.

Musik, Theater, Tanz, kurzum alle neun Musen samt ihren modernen Appendizes, sprich Film und Fernsehen, haben sich diesem Trend verschrieben, wobei das letztgenannte Medium eigentlich erst in den letzten zwei, drei Jahren von dieser hochgehenden Woge erfaßt wurde.

Es entwickelten sich Konkurrenzen, die sich weitgehend spezialisiert den einzelnen Disziplinen einer Fernsehprogrammgestaltung widmeten. Die Sparte „Unterhaltung” mit Wettbewerben von Schlagersängern und großen Showsendungen ist dabei ebenso vertreten, wie das Fernsehspiel (Prix d’Italia) oder die ernste Musik in Form von Opernsendungen, wie schon verschiedentlich in Salzburg während der dortigen Festspiele demonstriert wurde. Wuchsen diese Fernsehwettbewerbe anfangs zumeist noch unter den schützenden Fittichen der großen Schwester „Film” auf, so gewannen sie allmählich, gleichgültig ob in Cannes, Berlin, Montreux, Monte Carlo oder Knokke le-Zoute, selbständiges Leben und eine eigene Dynamik, die teilweise sogar zu einer zeitlichen Trennung — wie heuer zum Beispiel erstmalig in Berlin — von ihren einstigen Protektoren führte. Sicher zum Vorteil der Diskussion über Probleme und Pläne des Fernsehens, dessen Fachleute und Kritiker sich so auf ein Medium konzentrieren können.

Ein großer Unterschied trennt diese zahlreichen internationalen Fernsehveranstaltungen, deren Existenzberechtigung noch zu untersuchen sein wird, aber von der Flut der übrigen Festivalitis. Durchwegs tragen sie nämlich den Charakter von echten und ernsten Arbeitstagungen, bei denen die Beteiligten wirklich von dem Willen zu einer Sichtung und Überschau des Geleisteten und einer Durchforschung der Probleme der Programmgestaltung beseelt sind. Vielleicht hilft auch;die — abgesehen von den öffentlichen Konkurrenzen der Schlagersänger — zwangsläufig gegebene Intimität und zahlenmäßige Teilnehmerbeschrän-’ kung — bei den Vorführungen der am Wettbewerb teilnehmenden Sendungen kann eben nur eine gewisse Gruppe von Zuschauern sich jeweils um die im Saal auf gestellten Apparate scharen — in gewisser Hinsicht, das Arbeitsfluidum stärker zu erhalten.

Gerade die Tage in Berlin haben es wieder bewiesen, wie wichtig und notwendig diese Zusammenkünfte und Konkurrenzen auf immer breiterer internationaler Basis zur Klärung von Formen, Aufgaben und Zielen — geistigen und künstlerischen — des jungen Mediums sind.

In einem solchen Stadium der Empirie, da die festen Regeln und Normen erst zu wachsen beginnen, ist der regelmäßige Austausch von Erkenntnissen und die Demonstration der eigenen Leistung im Spiegel der über die Grenzen reichenden Konkurrenzen unerläßlich.

Selbst auf die Gefahr hin, daß man zuweilen bei derartigen Veranstaltungen Sendungen vorgesetzt bekommt, die eigentlich des Hinsehens kaum wert sind. Denn nur so, durch die ständige Absonderung der Spreu vom Weizen, läßt sich jene Leitlinie entwerfen und finden, die die Programmgestalter des Fernsehens im weitesten Sinne die immer drückender werdende Verantwortung leichter tragen läßt. Die steigenden Millionenziffern — allein in Deutschland erwartet man in Kürze den zehnmillionsten Teilnehmer und richtet sich auf eine maximale Erweiterung bis zu 14 Millionen ein — der vor dem Bildschirm versammelten Menschen ist dafür Forderung und Verpflichtung zugleich.

Ein einziges schlechtes Abendprogramm im Fernsehen ist also ein verlorener Abend für Millionen.

Dabei liegt das Problem nicht sosehr bei der Aktualität, bei der Nachricht. Täglich geschehen in aller Welt viele und aufregende Ereignisse, so daß es keine allzugroße Mühe bereitet, hier den Fernsehkonsumenten zufriedenzustellen.

Wesentlich schwieriger ist da schon die Situation auf dem Gebiet der Unterhaltung. Vorläufig zumindest poch in den deut|ęljąprąchigen Räumen.’Hier, aber köntfen- ptliö-nationale Fernsehfestivals helfend in die Bresche springen. Wohl gilt der Grundsatz, daß man in jedem Lande anders- lacht. Mäh “ wird es sieh abgewöhnen müssen, derartige Sendungen nur stur zu übernehmen und gegebenenfalls zu synchronisieren. Aber wer mit offenen Augen und Ohren einen Fernsehwettbewerb an sich vorüberziehen läßt, kann Anregungen gewinnen, die sich ihm wahrscheinlich niemals erschließen würden, wenn er immer nur in seinem eigenen Saft kocht.

In dieser Hinsicht boten die trotz mancher kleinen Kinderkrankheiten äußerst aufschlußreichen Wettbewerbstage in Berlin ein geradezu exzellentes Beispiel. Wohl wenige der anwesenden Fachleute, Kritiker und Journalisten werden je vorher auf dem Bildschirm ein so ernstes und heikles Thema, wie das der Rassendiskriminierung mit einer solchen Vitalität und Intensität diskutiert gesehen haben, wie dies bei dem Film „Freedom Road” (Freiheitsstraße) des jungen englischen Produzenten und Regisseurs Elkan Allan geschah.

Mit einer völlig neuen Mischung von Musical, Show, Dokumentation und Aktualitätenbericht demonstrierte Allan überzeugend, daß und wie sich ein solch bedrückendes Problem lebendig und faszinierend für alle Kreise eines bildungsmäßig vielschichtigen Fernsehpublikums gestalten läßt. Keine trockene volksbildnerische Bravheit mit symbolisch erhobenem Zeigefinger kann die Menschen über den Bildschirm zur echten Auseinandersetzung mit einer brennenden Frage bewegen. Aber Sendungen wie „Freedom Road” von einem musikalisch, rhythmisch und darstellerisch hervorragenden Negerensemble dargeboten, gehen einem unter die Haut und zwingen selbst den durch ein Übermaß an Sensationen abgestumpften Gegenwartsmenschen zu ehrlicher Anteilnahme. Die starke innere Beteiligung der ihre Geschichte von der Sklaverei bis heute in Spirituals, Blues und Jazzliedern besingenden Neger übertrug sich spontan und elektrisierend auf die Zuschauer.

Dieser Film war sicher nicht übermäßig teuer, aber er wird ebenso sicher die Fernsehstationen dies- und jenseits des Atlantiks durchlaufen und stärker als noch so viele gutmeinende Appelle die Massen für das auch heute noch in vielen Teilen der Welt harte Los der Neger interessieren und Maßnahmen zu dessen Linderung mobilisieren helfen. Wenn das gesamte Fernsehfestival in Berlin nur diesen einen Film geboten hätte, so wäre fast allein damit seine Existenz gerechtfertigt.

Hiermit aber bgrühräri wir die Ftagev däß das Fernsehen’ ją nicht nur i örmiereri üäd uirterhälten will ütld Söll. Ist es nicht direkt dazu berufen, infolge seines eminenten Einflusses auf Millionen und Abermillionen von Individuen die Zukunft von Völkern, Staaten, ja der ganzen Welt mitzugestalten?

Bei der Erreichung dieses Zieles mitzuhelfen, wird mit eine der schönsten und vornehmsten Aufgaben solcher Festivals sein, wie es in Belin jetzt unter dem Motto „Freiheit und Gerechtigkeit” veranstaltet wurde. Nur durch die bei solchen Konkurrenzen möglichen Gegenüberstellungen und differenzierten thematischen Auslegungen wird es möglich sein, in mühevoller Arbeit die dem Fernsehen gemäßen künstlerischen und dramaturgisch-organisch entwickelten Ausdrucksformen zu finden, die auch dieses Medium zur moralischen Anstalt im höchsten Schillerschen Sinn machen. In dieser Hinsicht dürfen es sich weder die Menschen vor dem Bildschirm, noch die Menschen hinter den Kameras des Fernsehens leicht machen.

Darum ist es sicher wertvoll, daß sich die Verantwortlichen schon jetzt, in der Frühzeit des Fernsehens, bei derartigen Konkurrenzen über die zu diesem Endziel einzuschlagenden Wege auseinandersetzen.

Offen bleibt freilich die Frage, ob es ratsam und zweckmäßig ist, ein Festival unter ein so engumrissenes Thema wie „Freiheit und Gerechtigkeit” zu stellen. Im Falle Berlin hat jedenfalls die praktische Erfahrung gelehrt, daß damit leicht die Gefahr einer allzu einseitigen ideologischpolitischen Auslegung heraufbeschworen werden kann. Die meisten Einsender — gezeigt wurden 31 Beiträge aus 16 Ländern — fühlten sich nämlich mit Blick auf die tragische Situation dieser grausam zweigeteilten Stadt zum großen Teil bemüßigt, sich weniger auf die menschlichen, geistigen Deutungen dieser beiden Begriffe, als vielmehr auf deren gegenwarts- und aktualitätenbezogene Kriterien zu konzentrieren.

So ließen die Berliner Tage den Wunsch nach Verbreiterung und Ausdehnung derartiger Festival-Thematik auf- kommen. In diesem Wunsch schwang auch sicher die Erkenntnis mit, daß es für den Beschauer psychisch außerordentlich belastend ist, vier Tage durchschnittlich sechs Stunden lang die überwiegend trist und bedrückend getönten filmischen Aussagen zu diesen beiden Idealen über sich ergehen lassen zu müssen. Der menschliche Geist kann da leicht abstumpfen und letztlich in seinem kritischen Urteil ungerecht werden.

Wohl läßt sich mit Festivals und Preisen nicht von heute auf morgen eine neue kulturelle Blütezeit hervorzaubern. Aber mit ihrer Hilfe vermögen wir doch aufzuzeigen, daß wir neue Impulse herbeisehnen und neuen Talenten die Möglichkeit gegenseitigen Kennenlernens und konstruktiven Wetteiferns geben wollen.

In unserer von Konjunktur und Wirtschaftswunder übertönten Zeit sind leider viele geistige und künstlerische Werte schal geworden, so daß wir jede sich bietende Gelegenheit nützen sollten, um unserem Dasein neuen Inhalt zu geben. Zwar können geniale Funken nicht auf dem Verordnungswege gezündet werden. Aber solche Wettbewerbe vermögen anzuzeigen, wo Feuer glühen, die anzufachen unser aller Pflicht ist und die wir ohne solche internationalen Begegnungen gar nicht entdecken würden.

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