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Film in Athen und Alexandria...

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Die Erscheinung ist nicht neu: Wie die alexandrinische Zeit, gemessen an der athenischen, weniger poetisch-schöpferische als reflektorisch-wissenschaftliche Leistungen hervorgebracht hat, so wird auch die Filmliteratur unserer Zeit, besonders die deutschsprachige, um so reicher und gehaltvoller, je krisenhafter das Filmschaffen selbst ist.

Schon die Quantität verblüfft. So tauchen in einer von der jungen, aber sehr rührigen Schweizer Gesellschaft für Filmwissenschaft und Filmrecht herausgegebenen „Internationalen Filmbiographie 1952 bis 196 2“, mit einem Nachtrag bis zum 1. Mai 1963 (Editor H. P. Manz, Vorwort: Dr. Martin Schlappner, Verlag Hans Rohr, Zürich, 262 und 12 Seiten, 8 sFr.), fast dreitausend neue Titel für die letzten zehn Jahre auf. Der Umblick ist allerdings weltweit und umfaßt nicht nur ganz Europa, sondern auch die USA, Kanada, Süd- und Mittelamerika, Indien, Ostasien, Australien; eine Fundgrube also, deren übersichtlich aufgegliedertes Material unmittelbar an die schon wieder zehn Jahre alte Bibliografia generale del cinema Professor Charles Vincents (Rom, 1953) anschließt. Durch jährliche Nachträge soll das Werk laufend vervollständigt werden. Die Publikation ist besonders aufmerksam betreut, weil „Rohr“ auch die größte Filmfachbuchhandlung deutscher Sprache ist und den Großteil der angeführten Literatur auch liefern kann.

Taucht diese Bibliographie ordnend in die Flut der Filmliteratur, so sichtet eine fortgesetzte Publikation der Katholischen Filmkommission für Deutschland im Verlag Haus Altenberg, Düsseldorf, kritisch das uferlose Meer deutscher und damit auch größtenteils österreichischer Filmerstaufführungen. Den „6000 Filmen“ (1945 bis 1958) sind jetzt die „Filme 1959 bis 1961“ (480 Seiten, 36 DM) gefolgt. Der an sich hohe Preis ist durch den abundanten Inhalt mehr als gerechtfertigt. Neben den Kunstkritiken von 1770 Filmen mit allen üblichen Angaben finden sich: Regisseure, Filmpreise, Auszeichnungen und Prädikate, Bundesprämien, Festivale, OCIC-Preise, Oscars, Bambis, Totenliste, Bibliographie u. a. — ein überwältigendes Material.

Es ist nun reine Geschmackssache, ob man bei der Registrierung und Bewertung der Filme diesem deutschen Kompendiumsystem oder der für weit kürzere Zeiträume dezentralisierten Methode der österreichischen Katholischen Filmkommission den Vorzug gibt. Der „Film-spicgcl VIII“ (Handbuch der Katholischen Filmkommission für Österreich, 1961/62, 124 Seiten, 25 S) wird von vielen durch seine bessere Handlichkeit und den niedrigen Preis vorgezogen. Auch der achte Filmspiegel enthält, wie seine Vorgänger, nicht nur standfeste Kurzkritiken und Klassifikationen aller in den letzten beiden Jahren in Österreich aufgeführten Filme, sondern auch, wie immer, Hinweise für die praktische katholische Filmarbeit, Anschriften, Literatur usw.

Die bedeutendste Veröffentlichung zum Film in deutscher Sprache, gültig vermutlich für viele lahre, ist Ulrich Gregors und Enno Patalas' „Geschichte des Films“ (Sigbert-Mohn-Verlag, Gütersloh, 524 Seiten, 39,80 DM). Ein erstaunliches Buch zweier heute etwa 40 Jahre alter Kritiker, die sich als führende Mitarbeiter der erst seit sechs Jahren in Deutschland erscheinenden Zeitschrift „Filmkritik“ einen Namen gemacht haben. Zwei Vorzüge springen in die Augen: einmal die temperamentvolle, kritische, manchmal allerdings recht eigenwillige Stellungnahme zu den Filmen und Entwicklungen und zur jeweiligen gesellschaftlichen Umwelt, und dann eine Tugend aus der Not: Da die Autoren, nach ihrem Alter zu schließen, vom Film vor 1945 nicht sehr viel selbst kritisch gesehen und erlebt haben können, behandeln sie das Altertum und Mittelalter des Films kürzer, die Neuzeit dagegen, in Dezennien fortschreitend, ausführlich. In beidem reicht diese Filmgeschichte damit über alle bisherigen deutschen Ansätze hinaus. Leider wissen beide Autoren nicht, wo (wörtlich genommen) Gott wohnt, das heißt, sie sind in Metaphysik und Religion, Weltanschauung und Moral (Fellini!) völlig ahnungslos. Auch Humor fehlt ihnen. Sattelfest sind sie dagegen in Soziologie, weshalb man sie in Deutschland als „Linksleute“ ansieht. Ein Titel-, Personen- und Firmenregister sowie eine reichhaltige Bibliographie sind von geradezu wissenschaftlicher Akribie. Zu 80 Filmen gibt es Bildmontagen, deren „Verkleinerung allerdings zu groß“ ist. Im ganzen ist das Werk eine Leistung, die Respekt erfordert.

Filmgeschichte bietet auch der zweite Band der Abteilung Film einer eigenartigen Schweizer Publikation: „E i n t r i 11 f r e i“ (Editions Recontre, Lausanne), die sich in insgesamt 13 Bänden auch auf andere Künste, aber auch auf Zirkus und Strip-Tease (!) erstreckt. Die beiden Filmbände (deutsch von Renate Bergk, 303 und

225 Seiten, je 12.80 sFr., im Abonnement 9.80 sFr.) schrieb Franck Jotterant; die sehenswerten Bilder stammen aus Magnum und eigenem Archiv. Band 2 (Geschichte) ist forsch geschrieben, stark ästhetisierend und ungebührlich in den französischen Film verliebt. Wie bei Gregor-Patalas existiert auch hier der österreichische Film selbständig nicht, sondern nur als Wurmfortsatz des deutschen. Band 1, eine lockere Ästhetik und Technik des Films, reicht bis zu Stargehältern und einem Fachsprache-Lexikon.

Hier freilich ziehen wir nach wie vor den alten „Iros“ vor, der nunmehr im Verlag Die Arche, Zürich, neu vorliegt. Ernst Iros selbst hat noch vor seinem Tod (1953) eine neue Bearbeitung seines 1938 veröffentlichten Buches, „W e s e n und Dramaturgie des Film s“, eingeleitet, trotzdem waren Ergänzungen notwendig, die Dr. Martin Schlappner behutsam und fachkundig durchgeführt hat. Mit diesen neuen Kapiteln (über Farbe und Cinemascope, Kinder und Jugendliche, Staat und Kirche) haben wir nunmehr neben F. Kempes „Film“ wieder ein Buch, in dem Nachwuchskünstler aller Art richtiggehend „Film studieren“ können.

In der deutschen Filmliteratur nimmt das Teilgebiet der Pädagogik und Psychologie einen außerordentlich breiten Raum ein. Alle bisherigen Veröffentlichungen zusammengeschaut und berücksichtigt zu haben, ist das Verdienst des Buches von Walter Tröger, „Der Film und die Antwort der Erziehung“ (Ernst-Reinhardt-Verlag, München-Basel, 237 Seiten, Leinen, 16 DM). Trögers Untersuchung unter dem Patronat Keilhackers erstreckt sich auf lugendliche und Oberschüler und empfiehlt die üblichen Methoden der Filmerziehung. Eine schüchterne Frage: Wird es jetzt nicht langsam Zeit, die überlangen, ermüdenden Methodikeinleitungen einzuschränken? Die Verfasser würden Raum für die konkreten Ergebnisse gewinnen, viele nichtpädagogisch vorgebildete Leser würden nicht gleich durch die Fachsprache abgeschreckt.

Intensivst beschäftigt sich seit kurzem mit filmwissenschaftlicher Literatur der C.-Bertelsmann-Verlag in Gütersloh. Hier erschien in der Reihe Rundfunk-Film-Fernsehen eine fundierte Studie Wilmont Haackes: „Aspekte und Probleme der Filmkritik“ (40 Seiten, 6 DM). Bedeutender sind im selben Verlag veröffentlichte „Neue Beiträge zur Film- und Fernsehforschung“, im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Film- und Fernsehforschung herausgegeben von Erich Feldmann, Bonn, in Zusammenarbeit mit internationalen Fachleuten. Die ersten drei Proben sind mehr als ein Versprechen: Gilbert Cohen-Seat: „Film und Philosophie“ (120 Seiten, 12 DM), die berühmte Grundlegung der „Filmologie“; ferner Gerd Albrecht: „Film und Verkündigung“ (128 Seiten, kart.,

12.50 DM), eine auch für den Katholiken interessante strenge Auseinandersetzung mit den Problemen des religiösen Films aus evangelischer Sicht, und schließlich Hans Alex Thomas „Die deutsche T o n f i 1 m m u s i k“ (208 Seiten, 18.50 DM), die bisher beste und ausführlichste Arbeit zum Thema, die leider mit dem Jahre 1956 abbricht.

Filmkritiker, als „Reproduzenten“ bisher produktionsscheu, sind in letzter Zeit auffallend oft unter die Autoren gegangen. Eine brillante Berliner Feder ist die Karena Niehoffs, die in „Stimmt es — stimmt es nicht?“ (Horst-Erdmann-Verlag, Herrenalb, Schwarzwald, 376 Seiten, 18.60 DM) eine schmissige Bilanz ihrer 17jäbrigen Feuilleton-, Essay- und Kritikertätigkeit legt.

Mit dem „Spectaculum“ bei Suhrkamp begann das Experiment deutscher Dreh-buchveröffentlichungen, das in zwei Jahren erstaunlich gewachsen ist. Der Carl-Hanser-Verlag, München, ist nun mit Alain Robbe-Grillets „Letztes Jahr in Marien bad“ aufgekreuzt (136 Seiten, 11 Photos, 9.80 DM). Von Enno Patalas, dem Mitverfasser der neuen Filmgeschichte,

herausgegeben ist auch die „Cinemathek“ des Marion-von-Schröder-Verlages, Hamburg, in der bisher sechs Bände vorliegen: Ingmar Bergmans „W i e in einem S p i e g e 1“, Rene Clairs „Schweigen ist Gold“, Fritz Längs „M“ (nicht Drehbuch, sondern rekonstruiertes Protokoll), Luis Bunuels „Viridiana“, Michelangelo Antonionis „L'A vveotura“ und Jean Cocteaus „O rphe e“. Die Photos sind in den Fluß der Texte eingeführt. Die Vor- beziehungsweise Nachworte sind interessant, mindestens bezeichnend, auch dort, wo der Salonbolschewik Bunuel seine Kritiker als Dummköpfe schmäht...

Österreichs seriöseste Filmzeitschrift, „Filmkunst“, benützt Willi Forsts 60. Geburtstag dazu, um im Heft 39 (28 Seiten, 10 S) den „österreichischesten Regisseur des österreichischen Films“ in einem brillanten Essay Ludwig Geseks, in biographischen Notizen von Forst selbst und in einer überaus sorgfältigen Filmo-graphie Goswin Dörflers zu feiern. Eine dreifache Würdigung erfährt auch ein vergessener Großer des Films: Carl Mayer O 894 bis 1944), ein gebürtiger Grazer, dessen schöpferische Drehbucharbeit von „Caligari“ (1920) bis „Sunrise“ (1927) reicht, also zur „perikleischen“, nicht nur „hellenistischen“ Epoche des Films zählt...

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