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Föderalismus

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Der nachfolgende Aufsatz erhält durch die in den letzten Wochen wieder neu belebte öffentliche Diskussion über das Thema „Föderalismus" seine besondere Aktualität. Die „Furche"

Der föderalistische Charakter unseres Staates ist nach dem demokratischen zweifellos der bedeutsamste und grundlegendste. Kaum irgendein Staatsprinzip wird so eifersüchtig gehütet wie das föderalistische, obwohl es wohl im Grunde in allen Bevölkerungskreisen und -schichten anerkannt und unbestritten ist. Selbst der zum Zentralismus neigende marxistische Teil unserer Bevölkerung ist realpolitischen Sinnes genug, um das föderalistische Wesen unseres Staates unangetastet zu lassen, zumal selbst in seinen Reihen nicht selten sehr lebhaft betonteföderalistische Momente zutage treten.

Dennoch herrschen über die Herkunft und das Wesen des österreichischen Föderalismus vielfach sehr unberechtigte Vorstellungen. Er ist nämlich nicht, wie man allzu leicht glauben könnte, ein uralter, aus der Monarchie herüberragender Bestandteil unseres staatlichen Denkens, sondern er ist im Gegenteil ein Erzeugnis der republikanischen Gestaltung unseres Staates.

Aus der Monarchie herüber ragen nur spärliche Reste der ehemaligen Eigenstaatlichkeit unserer Bundesländer, nämlich die inner-; staatlichen Grenzen und ein gewisses landsmannschaftliches Zusammengehörigkeits- ‘ gefühl.

Als Willenbildungsorgan schufen sich die Länder allmählich aus den überlieferten ständischen Landtagen nach modernen Grundsätzen gewählte Beschlußkörperschaften. Man ist daher versucht, das Mitwirkungsrecht der Landtage bei der partikularen Gesetzgebung als legislative Autonomie zu bezeichnen. Eine Erweiterung dieser Autonomie der Länder war auch schon in der Monarchie zu einem i Schlagwort politischer Parteien geworden. Im Interesse der richtigen staatsrechtlichen Auffassung dieses Rechtes aber, erklärte schon Ulbrich, wäre dieser Ausdruck besser zu vermeiden: „Denn die Funktion der Landtage ist nicht Selbstgesetzgebung innerhalb der Schranken der staatlichen, sondern Mitwirkung bei der vom Kaiser im Namen des Staates geübten, allerdings auf partikulare Gebiete beschränkten Gesetzgebung.“ Ulbrich, Lehrbuch des österreichischen Staatsrechtes, 1904, S. 115.

Auf Grund dieser Rechtslage beanspruchten die sich zur provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich zusammenfindenden, auf dem Gebiete des heutigen Oesterreich gewählten Abgeordneten des Reichsrates das Recht im Sinne des Manifestes des Kaisers Karl vom 16. Oktober 1918, einen Nationalrat zu bilden und die Gesetzgebung auf diesem Territorium auszuüben. Die erste österreichische Verfassung in der Republik, das Gesetz vom 21. November 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich, entstand daher als eine zentralistische Verfassung, die allerdings mit Rücksicht auf die vorgefundenen tatsächlichen Verhältnisse in ihrem Artikel 10 schon auf eine gewählte Landesvertretung Bedacht nahm. In konsequenter Verfolgung dieses Standpunktes beanspruchte das Gesetz vom 22. November 1918 über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich die Gebietshoheit über die Länder Oesterreich Unter der Enns, Ob der Enns, Salzburg, Steiermark und Kärnten, die sic! Grafschaft Tirol und Vorarlberg sowie verschiedene deutschsprachige Gebiete der ehemaligen Monarchie, über die die Staatsgewalt wirklich auszuüben Oesterreich aber nie in die Lage kam. Kraft dieser Gebietshoheit nahm das Gesetz in Anspruch, daß alle Personen, die in diesem Staatsgebiete weilen, den Gesetzen und Behörden Deutschösterreichs unterstehen. Kelsen: Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, L, S. 29 und S. 62 f.

Der bundesstaatliche Gedanke klingt erstmals vernehmbar in dem Gesetz vom 14. November 1918, betreffend die Uebernahme der Staatsgewalt in den Ländern, an. In ihm werden an Stelle der auf Grund des Kaiserlichen Patentes vom 26. Februar 1861 berufenen Landtage provisorische Landesversammlun- den gebildet, die aus ihrer Mitte einen Landeshauptmann und nach der Verhältniswahl zwei bis vier Stellvertreter zu wählen haben. Diese führen den Vorsitz in der Landesversammlung und leiten die Amtsführung des Landes. Sie bilden zusammen die Landesregierung. Der Landeshauptmann wird zu ihrem Vorsitzenden erklärt und ihm die Vertretung des Staates und der Staatsregierung gegenüber den Landesbewohnern aufgetragen. Die Landesregierung wurde bei ihrer gesamten Amtsführung an die Dienstes- anweisungen der Staatsregierung gebunden und dieser verantwortlich erklärt Kelsen, S. 98 f.. Vorausgegangen war ihm allerdings der Beschluß der provisorischen Nationalversammlung vom 12. November 1918, mit dem sie die feierlichen Beitrittserklärungen der Länder und Gaue des Staatsgebietes zur Kenntnis nimmt und diese Gebiete des Staates unter den Schutz der ganzen Nation stellte. So föderalistisch sich dieser Beschluß gehabt, war er em rein zentralistischer Akt. Er nennt die Länder gar nicht, die dem neuen Staat beitraten. Tirol und Niederösterreich hatten solche Beitrittserklärungen überhaupt nicht abgegeben, Oberösterreich erst nachträglich Hans Kelsen: Oesterreichisches Staatsrecht, S. 98. Zweifellos mangelt diesen Erklärungen jede juristische Bedeutung. Wem beizutreten sollten diese Länder erklären? Dem Staate? Dessen Bestandteil waren sie kraft der vorausgegangenen revolutionär geschaffenen Verfassung schon vor den Erklärungen und unabhängig von diesen. Dennoch liegt dem Beschluß der provisorischen Nationalversammlung wie den angegebenen Erklärungen der Länder die Vorstellung einer vertragsmäßigen Födus-Vertrag Konstituierung des Staates zugrunde. Von da ab entwickelt sich rechtlich in unserer Verfassung die Eigenexistenz der Länder und die Tendenz einer bundesstaatlichen Struktur Kelsen: Verfassungsgesetze L, S. 72.

Als die konstituierende Nationalversammlung darangehen mußte, eine Verfassung auszuarbeiten, stand sie vor dem Problem, das Ignaz Seipel schon 1917 als das Kernproblem der Verfassungsreform der Monarchie bezeichnete. Vor dem Problem: „Wie die Ansprüche des faktisch bestehenden österreichischen Staates mit den Rechten und Wünschen der Länder, die ihn bilden, und der Nationen, die ihn bewohnen, auf die beste, alle beteiligten Faktoren nach Möglichkeit befriedigende Weise in Einklang gebracht werden können Seipel: Der Kampf um die österreichische Verfassung, S. 15. In den maßgebenden Kreisen bestand daher von Anfang an die Absicht, die Verfassung bundesstaatlich zu gestalten, denn nur durch die Form des Bundesstaates konnte der in der letzten Zeit immer schärfer werdende Gegensatz zwischen den Ländern und dem Staatsganzen ausgeglichen werden, d. h. der Gegensatz bestand darin: In den Ländern dominierten die Christlichsozialen und die kleinen bürgerlichen Parteien, im Staatsganzen kam das massierte Gewicht der Sozialdemokratie zum Vorschein. Die Ueberzeugung, daß eine Bundesstaatsverfassung geboten sei, kam daher schon in dem Verfassungsentwurf zum Ausdruck der von der Christlichsozialen Partei in der Sitzung der Nationalversammlung vom 14. Mai 1919 unter dem Titel: Verfassung des deutschen Bundesstaates Oesterreich Nr. 231 der Beilagen zum Stenographischen Protokoll eingebracht wurde. Nach diesem Entwurf sollte die Gesetzgebung des Bundes vom „Volkshaus“ und vom „Ständehaus“ besorgt werden, in welch letzteres die Landtage je drei Landesvertreter, ebenso aber die Räteorganisationen als Berufsorganisationen entsprechend ihrer Mitgliederzahl Vertreter zu entsenden gehabt hätten. Zu jedem Gesetz hätte es grundsätzlich übereinstimmender Beschlüsse beider Kammern bedurft. Dieser Entwurf ist jedoch niemals beraten worden. Erst der Koalitionspakt vom Oktober 1919 zwischen den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten schuf eine brauchbare Verhandlungsbasis. Er legte fest, daß Oesterreich ein Bundesstaat wird und „Deutschwestungarn“, d. h. das heutige Burgenland, als ein besonderes Land dem Bunde angehört. Schon in ihm findet sich hinsichtlich der Kompetenzteilung die grundlegende Bestimmung, die heute im Artikel 15 unserer Verfassung siehe Adamovich: Die Oesterreichischen Bundesverfassungsgesetze, S. 53 verankert ist: Alle dem Bunde nicht vorbehaltenen Angelegenheiten fallen in die Kompetenz der Länder. Diese Formel ist allerdings schon durch das Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung vom 16. Februar 1861 vorbereitet gewesen, die alle nicht in die Kompetenz des Reichsrates verwiesenen Gegenstände in den Wirkungskreis der Landtage fallen ließ Ulbrich, a. a. O., S. 114. Es war das Verdienst Professor Dr. Michael Mayrs als Staatssekretär für Verfassungswesen, durch Bereisung sämtlicher Landeshauptstädte und die Länderkonferenzen vom 15. bis 17. Februar 1920 in Salzburg sowie vom 20. bis 23. April in Linz eine Annäherung der Koalitionsparteien herbeizuführen, die eine endgültige Gestaltung des Verfassungsentwurfes erlaubte. Es war höchste Zeit. Die Legislaturperiode der Konstituante neigte sich ihrem Ende zu, und es drohte die Gefahr, daß die Länder ohne Mitwirkung des Zentralparlamentes und der Zentralregierung, also auf revolutionärem Wege, eine Bundesverfassung vereinbaren und so statt einer bundesstaatlichen eine staatenbündische Verfassung zustande kommen würde Kelsen: Die Bundesverfassung, S. 54 und S. 61.

Entgegen allen Erwartungen gelang es dem unter der Führung Seipels stehenden Unterausschuß, seine Arbeiten am 23. September 1920 zu beenden und das Bundesverfassungsgesetz am 1. Oktober 1920 der Nationalversammlung zur Beschlußfassung vorzulegen. Auch Seipel und Otto Bauer sehen in ihrem Bericht an das Haus das Problem Länder-Bund als das Zentralproblem der Verfassungsgebung an, denn die ehemaligen Kronländer hatten sich auf dem gleichen Wege wie der Gesamtstaat, nämlich revolutionär, zu staatsartlichen Gebilden konstituiert, was vom Bund durch die Annahme der Beitrittserklärungen anerkannt worden war Kelsen: Bundesverfassung, S. 508.

So waren die österreichischen Länder zwar niemals Staaten und haben sich als solche auch niemals bezeichnet. Nur die Landesverfassung von Vorarlberg vom 30. Juli 1923 stellt im Artikel 1, Abs. 2, die Behauptung auf: Vorarlberg übe als selbständiger Staat alle Hoheitsrechte aus, die nicht ausdrücklich dem Bunde übertragen sind oder übertragen werden. Das ist aber ein politischer Wunschtraum, dem kein juristischer Gehalt beizumessen ist. Denn auf welche Weise die verfassungsgesetzlich festgelegte Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern abgeändert werden kann, welcher Autorität somit das Recht der Kompetenz-Kompetenz zusteht, ist nach Artikel 10 unserer Verfassung dem Bund zugeschrieben. Das ist übrigens keine österreichische Spezialität, sondern findet sich in fast allen Bundesverfassungen, so daß die Kompetenz-Kompetenz der zentralen Autorität geradezu als das Wesensmerkmal des Bundesstaates zum Unterschied vom Staatenbunde angesehen werden kann.

Es ergibt sich für Oesterreich insbesondere auch aus der allgemeinen Bestimmung des Artikels 44, Abs. 1, Bundesverfassungsgesetz,’ wonach Bundesverfassungsgesetze und in einfachen Bundesgesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen nur wieder durch Verfassungsgesetze des Bundes aufgehoben oder abgeändert werden können. Den Ländern steht auf eine Aenderung der Kompetenzverteilung keine besonders geartete Einflußnahme zu L. Adamovich: Oesterreichisches Staatsrecht, S. 93.

Ist nach all dem unser Föderalismus, rein rechtlich gesehen, verhältnismäßig jung, so darf doch nicht außer acht gelassen werden, daß er zutiefst im Stammesgefühl unserer Bevölkerung verankert ist und die soziologischen Wurzeln, aus denen er sich nährt, stärker sind als die juristischen. Diese Erkenntnis beinhaltet aber auch für die Anhänger des Föderalismus eine Warnung, ihn nicht zu überspannen und ihn vor allem dort nicht hindernd in den Weg zu schieben, wo der lebendige Pulsschlag der gesellschaftlichen Entwicklung eine gesetzliche Ordnung erheischt, die über die Grenzen der Länder hinweggeht und ein gemeinösterreichisches Interesse, eine bundeseinheitliche Regelung gebietet. Ueber alle Landesinteressen stehe immerdar das Interesse Oesterreichs!

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