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Fortsetzung zum Großen Herder

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DER GROSSE HERDER. NACHSCHLAGEWERK FÜR WISSEN UND LEBEN. Fünfte neubearbeitete Auflage. Elfter Band. Ergänzungsband I. A bis K. Die Welt in unserer Zeit: Natur und Technik. Verlag Herder, Freiburg, 1962. XVI Seiten, 704 und 740 Spalten. Preis 47 DM.

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DER GROSSE HERDER. NACHSCHLAGEWERK FÜR WISSEN UND LEBEN. Fünfte neubearbeitete Auflage. Elfter Band. Ergänzungsband I. A bis K. Die Welt in unserer Zeit: Natur und Technik. Verlag Herder, Freiburg, 1962. XVI Seiten, 704 und 740 Spalten. Preis 47 DM.

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Der Große Herder bezeugt seine Verbundenheit mit den Problemen der Gegenwart durch Ergänzungsbände, die vom Typus der „Nachträge“ früherer Lexika sehr abweichen. Während sich diese das bescheidenere Ziel setzten, das bereits dargebotene Material „up to date“ zu halten, also die Biographien der ins Nachschlagewerk Aufgenommenen auf den neuesten Stand zu bringen, Todesfälle zu melden und die seit dem Erscheinen des Hauptwerkes berühmt Gewordenen ins gedruckte Pantheon aufzunehmen, die Geschichte der Welt und der einzelnen Länder fortzuführen, und das alles im Rahmen eines alphabetischen Schlagwortkatalogs, wählte man jetzt in Freiburg einen anderen, zugleich komplizierteren und einfacheren Weg. Wohl wird das Schlagwortalphabet beibehalten und auf den letzten Stand in der gewohnten Weise gebracht, doch daneben — und *s wohl dem Umfang nach, als an Bedeutung'weit überragend — reiht sich eine enzyklopädische, systematische Darstellung an, die vom zehnten Band des Großen Herder ausgeht und im Grunde jenes „Bildungsbuchs“ neue, verbesserte, überprüfte Fassung ist, zugleich eine völlig selbständige Überschau der wichtigsten, den Menschen unserer Zeit ansprechenden Fragen und Geschehnisse.

Grundsätzlich ist diese originelle Planung zu begrüßen. Ihr Ergebnis ist eine prächtige, , stoffreiche Übersicht aus der Feder berufener Sachkundigen. Es wäre jedoch zu erwägen, ob es nicht vorzuziehen gewesen wäre, von den beiden Ergänzungsbänden den einen ausschließlich den alphabetischen Schlagworten zu widmen, den anderen dagegen dem Panorama des Wissens und des Wesens, der Leistung und der Strebungen unserer Epoche. Die heute gewählte Lösung zerreißt sowohl die Einheitlichkeit der Einzelartikel, von denen wir im ersten Band nur die mit den Buchstaben bis K beginnenden empfangen, als auch, und das ist ärger, die der Naturwissenschaften (samt der Technik) und der Humaniora, deren Zusammenhang zu wahren gerade für einen um die höchsten kulturellen Werte so sehr besorgten Verlag wie Herder ein kapitales Anliegen ist.

Sehen wir von diesem einen prinzipiellen Vorbehalt ab, so müssen wir, wie bei jedem Produkt des lexikographischen Instituts Herder, unsere dankbare Anerkennung und für vieles unsere Bewunderung aussprechen.

Der alphabetische Teil erfreut vor allem durch die glückliche Auswahl der fürs Zeitgeschehen wichtigen, neu eingereihten Koryphäen jeder Art. Da sind zunächst die Politiker: Adenauer („gelegentlich eigenwillige Persönlichkeit“, „seine großen Verdienste um Deutschland und die westliche Koalition, seine diplomatische Fähigkeit und internationale Hochschätzung sind unbestritten“), Chruäcev (falsch transkribiert als Chruschtschew statt Chruschtschow; „erfindungsreich, temperamentvoll und raffiniert, ist er ein wendiger, weltpolitischer Taktiker ... Neben dem propagandistischen Eifer für Kriegsverhütung und friedliche Koexistenz verschärft er den ,kalen Krieg', setzt mit Angriffen gegen den .Imperialismus', .Kolonialismus' und .Kapitalismus' die Bedrohung des Westens fort, will diesen mit Verweis auf behauptete eigene militärische und ideologische Überlegenheit, technischen Vorsprung und wirtschaftliche Kraft der UdSSR unter Druck setzen, sucht Krisen zu schaffen [zum Beispiel ir Berlin] oder auszunutzen, scheut selbst ultimative, massive Drohungen nicht und sucht die neutralen wie die jungen Staaten, vor allem durch finanzielle, wirtschaftliche und technische Hilfe und Versprechungen, für das sowjetische Lager zu gewinnen“). Dann de Gaulle und Kennedy: An den Beispielen Adenauer und Chruäcev kann man die Vortrefflichkeit und die Unbefangenheit der Charakteristiken ermessen, die vielen Leitgestalten zuteil wird, während bei de Gaulle und Kennedy reine Sachverhalte geboten werden, ohne Wertung.

Raumrücksichten verbieten es, den gesamten biographischen Teil ausführlich zu würdigen. Als Stichproben seien noch lobend hervorgehoben: die kundige Auswahl auf dem Gebiet der Philosophie, die ausgezeichneten literarischen Artikel über Alexandre, Becke, Brecht, Doderer, Th. St. Eliot, Faulkner, Max Frisch, Gadda, Graham Greene, Juan Rainon Jimenez, lonesco, Kazantzakis, Karl Kraus (Vorbehalt gegenüber Bibliographie). Nur bei wenigen Schriftstellerbiographen wären Einwendungen anzumelden, so bei Andric (wird dessen überragender Bedeutung nicht gerecht), Fritz Heer, Herzmanovsky-Or-lando (angebliche Wahlverwandtschaft mit Nestroy unzutreffend). Sehr gut geraten sind, wie bei Herder zu erwarten, die kirchlichen Würdenträgern gewidmeten Porträts, allen voran das Papst Johannes' XXIII. Allerdings hätten wir bei den zwei heute im Mittelpunkt des Weltinteresses stehenden Purpurträgern Amleto Ci-cognani und Bea gerne ein wenig mehr als nackte Daten gelesen. Beim Durchblättern der Biographien von Wirtschaftspotentaten, Komponisten und Sängern, Filmleuten, Atomphysikern finden wir nochmals die Aktualität des Ergänzungsbandes bestätigt.

Wir müssen nun den Überblick über den alphabetischen Teil abbrechen und uns der zweiten, systematischen Hälfte des Bandes zuwenden. Hier haben wir es mit einer grandiosen Gesamtschau zu tun, die in dieser Art kaum ihresgleichen hat. Die berufensten, glänzendsten Kenner der Sondergebiete zeichnen hier ein Bild der Natur und der diese gewaltige Ge-gegebenheit dem Menschen unterwenfenden Technik, wie es gehältiger, dabei erschöpfender, nicht entworfen werden könnte. Astronomie, Physik, Chemie, Technik, Biochemie, Biologie, Medizin erscheinen in ihrer neuesten, durch die Forschung gesicherten oder von ihr um-rissenen Gestalt. Daß dabei einigen Sonderfragen, die in jüngster Zeit den Vordergrund des Interesses beanspruchten, eine bevorzugte Stellung zugedacht wurde, ist begreiflich. So wird der Radioastronomie und der Weltraumfahrt, der Mikrostruktur der Materie, den modernen chemischen Arbeitsverfahren und der Nutzung der Energiequellen vordringliche Aufmerksamkeit geschenkt.

Von da springt der Band über zu den enträtselten Geheimnissen der lebenden Substanz, zur Zelle und ihrem Aufbau, zur Vielfalt der Antibiotika und der Viren. Die Biologie stellt sich als in ihrer Gesamtheit revidierte Wissenschaft vor. Erregende Sonderuntersuchungen berichten uns von der Verhaltensforschung, von der menschlichen Genetik und vom jetzigen Stand der Evolutionstheorie. Hier darf man mit ebenso großem Nachdruck wie Stolz beobachten, wie frei sich ein weltanschaulich an den Katholizismus gebundenes Lexikon auf den heikelsten Gebieten der Forschung äußem kann, es seien das die Menschwerdung oder das Problem der Urzeugung.

Der Ergänzungsband klingt aus in eine 140 Spalten umfassende Erörterung der Fortschritte der Medizin. Wir vernehmen von „neuen Krankheiten“, vom Fortschritt der Chirurgie am Beispiel der Eingriffe in den Zustand des geschädigten Herzens, von der Kinderlähmung und ihrer Bekämpfung, von , den Heilmitteln gegen psychische Störungen. Antibiotika, hier als rein medizinischer Gegenstand, und Sulfonamide, die Suche nach einem wirksamen Mittel gegen den Krebs. Cortisontherapie und die uralt-neue Aufgabe der Gerontologie, zuletzt die Schädigung durch Strahlen, der Schutz wider dieses Unheil, die genetischen Auswirkungen der Strahlungsschäden beenden als Themen die Wanderung durch das Reich der modernen Naturwissenschaft und ^Technik. Ist diese Anordnung des elften Herder-Bandes Zufall oder Absicht? Wir glauben eher: das zweite. Uns wird bei diesem Panorama, das sich uns eröffnet, nicht nur der Stolz darauf rege, wie herrlich weit wir es gebracht haben und wie noch herrlicher wir es weiterhin bringen werden, sondern auch, und bei Fühlsamen sollte dieses Empfinden überwiegen, die Angst vor den Geistern, die man, einmal gerufen, nicht mehr los wird und die uns dem furchtbaren Schuß eines techno-unromantisefien Abenteuers entgegentreiben, das nicht gut ablaufen kann.

Welche Erwägungen nicht hindern, daß wir uns vor der Leistung, die, zumal im zweiten Teil des Herder-Ergänzungsbuches, geglückt ist, mit scheuer Bewunderung verneigen und für die überreiche Bewältigung eines schier unendlichen Stoffes dankbar sind.

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