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Frankreich und das Problem der italienischen Kolonien

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Die Lautstärke, mit der drei von den „Großen Vier“ kraft ihrer überragenden Macht ihre Standpunkte und Forderungen vorzubringen vermögen, überschattet bisweilen die Stimme des vierten Großen — Frankreichs — zu dea Fragen, die nicht unmittelbar mit der deutschen Frage in Zusammenhang stehen. Wenn auch heute Frankreich, nach der mehr als vierjährigen schwersten Ausblutung durch das deutsche Militärregime und infolge sehr erheblicher Zerstörungen durch die Kampfhandlungen des letzten Kriegsjahres, naturgemäß noch recht weit davon entfernt ist, sein politisches und wirtschaftliches Vorkriegsgewicht wiedererlangt zu haben, so hat es doch schon wieder einen Platz im Weltareopag eingenommen, von dem aus es die Entscheidungen über die meisten Teilfragen der künftigen Weltordnung nachhaltigst zu beeinflussen vermag. Frankreich hat selbst in den Jahren seiner tiefsten Erniedrigung seine Geltung als geistige Großmacht nicht eingebüßt und ist, nach seiner Befreiung, auf dem Wege der Heilung seiner Kriegswunden in bewundernswerter Weise rasch fortgeschritten. Es kann — sofern in den gegenwärtigen wirren Zeiten des Nicht-Kriegs- und Nicht-Friedenszu-standes, in dem die Welt nach Friedenslösungen ringt, Prognosen überhaupt begründet erscheinen — nach menschlicher Berechnung vorausgesehen werden, daß Frankreich, wenn einmal seine innerpolitische Konsolidierung eingetreten ist. binnen kürzester Frist die ihm von der Natur bestimmte und angestammte Rolle der westlichen kontinentalen Großmacht und damit eines der Hauptfpeiler der Alten Welt wieder voll auszufüllen berufen ist.

Es ist nur zu begreiflich, daß heute das die Sicherheit seiner Grenzen gegenüber dem deutschen Raum umfassende Ruhr- und Rheinproblem den überwiegenden Teil des außenpolitischen Programms Frankreichs einnimmt. Darauf, daß es auch noch andere, wenn auch gewiß nicht so einschneidende Probleme gibt, die Frankreichs Weltmachtstellung stark zu berühren geeignet sind, haben unlängst vereinzelte, aber maßgebliche Organe der französischen Presse hingewiesen. Nebst den geringfügigen Grenzberichtigungen, auf die Frankreich gegenüber Italien in den Alpen Anspruch erhebt — es handelt sich hier um rund 2000 Quadratkilometer mit 200.000 Einwohnern —, erregen die Diskussionen in-den Pariser Außenministerkonferenzen über das Sckicksal der italienischen Kolonien das Interesse der französischen Öffentlichkeit. Auch hier liegt wieder ein Problem der Sicherheit Frankreichs, nämlich in erster Linie der lebenswichtigen Verbindungen des Mutterlandes mit seinen nordafrikanischen Kolonien und weiter auch des Zuganges zum Indischen und Pazifischen Ozean durch das Mittelmeer und das Rote Meer vor.

Der französische Standpunkt zum italienischen Kolonialproblem läßt sich — wir folgen hier hauptsächlich den Gedankengängen, die unlängst der anerkannte Kenner kolonialer Fragen Pierre Cazenave in der Wochenzeitschrift „La Tribüne des Na-tions“ entwickelt hat — ungefähr wie folgt zusammenfassen:

Hinsichtlich der Frage Libyens stehen verschiedene Vorschläge der Großmächte einander gegenüber: von der Erteilung eines zeitlich begrenzten Mandats an Italien für das gesamte libysche Gebiet über die Teilung Libyiens in Kondominien einer der Siegermächte mit Italien in Tripolis (Rußland und Italien) und in der Cyrenaika (Großbritannien und Italien) — wie es Sowjetrußland vorschlägt —, bis zu einer kontrollierten Selbständigkeit der beiden arabischen Landesteile — wie Großbritannien es unter Berufung auf ein Versprechen anstrebt, das es während des Krieges den von Italien unterdrückten Arabern gegeben hat. Allen diesen Vorschlägen ist die Bedingung gemeinsam, daß die UNO zur Kontrolle und zum Schutz der zu schaffenden Ordnung in Libyien berufen sein soll. Frankreichs Interesse beschränkt sich im wesentlichen darauf, daß letztere Bedingung erfüllt werde, da sie auch die Sicherung der Mittelmeerstraße gegen künftigen Mißbrauch der nordafrikanischen Küste zu kriegerischen Zwecken in sich schließt. Von großer Wichtigkeit für Frankreich ist ferner die unbedingte Rückgabe der beiden in Süden und

Westen Libyens gelegenen Oasen G h a t und Gh ad am es, die 1200, beziehungsweise 500 Kilometer von der Mittelmeerstraße entfernt sind und wichtige Karawanenstraßen in das Herz Afrikas kontrollieren. Im Jahre 1935 waren sie zusammen mit 100.000 Quadratkilometer Steppe im T i b e s t i gebiet nordöstlich des Tsad sees von Laval um den Preis eines — niemals zustande gekommenen — engen Freundschaftsbündnisses und des Verzichtes auf das abessini-sche Abenteuer an Mussolini zediert worden. Diese von Mussolini in den damaligen Verhandlungen als „Wüstenstriche ohne Belang“ bezeichneten Gebiete bildeten ohne Zweifel Ausfallstore des römischen Imperialismus, der die Schaffung eine? „Imperium Romanum Africanum“ sich zum Wahnziel gesetzt hatte; es sollte sich auf Kosten französischen Kolonialgebietes von der algerischen Grenze bis an den Indischen Ozean nach Osten und vom Mittelmeer durch die Wüste Sahara bis zum Golf von Guinea nach Süden erstrecken!

Eine in den Komplex der Sicherung der Verbindungslinien des Mutterlandes mit Algerien, Tunis und Marokko gehörige politische Frage erheischt nach französischer Auffassung gleichfalls eine endliche und befriedigende Bereinigung: Es ist dies die alte Streitfrage um das Statut der zirka 100.000 italienischen Kolonisten in Tunis, denen weit zurückliegende Verträge mit Frankreich eine weitgehende Autonomie in Kolonial-wie Schulfragen sicherten. Tatsächlich hat sich der Einfluß dieser ständig wachsenden und privilegierten italienischen Diaspora in Tunis auf die politische und wirtschaftliche Struktur dieser französischen Kolonie häufig in einem Frankreich abträglichen Sinne geltend gemacht. Es läßt sich daher die Berechtigung der Forderung Frankreichs nach endgültiger Abschaffung der Privilegien, die die italienischen Kolonisten in Tunis bisher genossen, nicht leugnen, zumal bereits im Mussolini-Laval-Vertrag von 1935 eine gestaffelte Uberführung der italienischen Kolonisten in die französische Staatsbürgerschaft vorgesehen war und sich während des Krieges, im Zeitpunkt der Achsenerfolge in Nordafrika, der wahre Sinn dieses vorgeschobenen italienischen Postens offenbarte: Mussolini entsandte Militärkommissionen nach Tunis und enthüllte seine Absicht, das durch langjährige Wühlarbeit der italienischen Kolonie entsprechend aufbereite Tunis zu annektieren!

Schließlich ist Frankreich, das trotz erzwungener Räumung seiner Vormachtstellungen im Nahen Osten bestrebt ist, seine kulturellen und wirtschaftlichen Positionen in Vorderasien und im Fernen Osten zu behaupten, an der Herstellung stabiler Verhältnisse in Ostafrika wesentlich interessiert. Die wichtigste Voraussetzung bildet die gesicherte Unabhängigkeit Äthiopiens, dessen einziger Ausfuhrhafen, D j i b u t i, auf französischem Kolonialgebiet liegt und den Terminus der bedeutendsten abessinischen Bahnstrecke — von Addis Abeba zum Indischen Ozean — bildet. Frankreich begehrt naturgemäß die Rückgabe des im Vertrag von 1935 an Italien abgetretenen Gebietsstreifens in Französisch-Somaliland von 10.000 Quadratkilometer und der vorgelagerten kleinen Insel Dondmerrah. Gegen ein Verbleiben der ältesten italienischen Kolonie, Eritrea, und des Stückes von Somaliland unter der Herrschaft Italiens dürfte Frankreich keine Bedenken tragen.

Der Standpunkt Frankreichs in der Frage des künftigen Schicksals der italienischen Kolonien zeichnet sich, wie man sieht, durch Logik des Zieles und vernünftige Mäßigung aus. Die Hoffnung erscheint daher berechtigt, daß es der bewährten diplomatischen Kunst M. B i-daults gelingen wird, sich erfolgreich für einen Ausgleich der Gegensätze zu bemühen, die an diesem neuralgischen Schnittpunkt der britischen und sowjetrussischen Weltinteressen besonders hart aufeinander stoßen. Frankreich fällt hier sowohl jetzt wie auch auf lange Sicht eine noch bedeutsame, • politische und kulturelle Mittlerrolle zu.

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