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Frankreich - vom Werden politischer Mentalität

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Das Volksvermögen des Jahres 1939 auf dem Stand von 1914... eine von Interessengruppen gegängelte Regierung... eine Gesellschaft in der Sackgasse: So britische Historiker und Frankreich-Spezialist Colin Jones über die Lage Frankreichs in seiner „Cambridge lllustrated History of France” am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Die Übersetzung (Udo Rennert) erschien soeben im Frankfurter Campus Verlag. Jones ist, in der besten britischen Tradition stehend, nicht nur ein Historiker von Rang, sondern vor allem auch ein Autor, der sein Fachwissen mit der Formulierungskunst und dem Atem eines Schriftstellers von nicht geringerem Rang zu vermitteln weiß. Anzuzeigen ist somit eines jener viel zu raren historischen Werke, die zu lesen nicht nur einen Gewinn an Information, sondern auch Genuß bedeutet.

Er hat keine neue, sehr wohl aber eine persönliche Sicht anzubieten. Er zeigt das Geschehen nicht nur sowe-weit wie möglich aus der Sicht der Provinzen, was in einer Geschichte dieses traditionell zentralistisch regierten Landes alles andere als selbstverständlich ist, er interpretiert das historische Geschehen auch konsequent auf sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Basis.

Und er läßt die Zahlen erzählen. Etwa, wenn er die Integration der von der politischen Mitsprache ausgeschlossenen Schichten und die Einigung Frankreichs damit belegt, daß der Generalstab der Armee mit über zehn Prozent Verweigerungsquote gerechnet hatte - dem zehnfachen dessen, was dann tatsächlich eintrat.

Jones erzählt, wie Frankreich das Land wurde, das es ist - und die Franzosen die Menschen, die sie sind. Er erzählt es ab ovo, von der Urgeschichte und von der römischen Epoche ausgehend, entsprechend dem Wissensstand von Kapitel zu Kapitel detailreicher. Dem Verständnis des heutigen Frankreich und der heutigen politischen Mentalität der

Franzosen dienen doch am besten die gegenwartsnahen Kapitel. Der Rezensent widersteht daher der Versuchung, sich hier etwa über die Darstellung der paradiesischen Zeiten Frankreichs im 12. und 13. Jahrhundert oder über das knappe, intensive Panorama der großen Revolution und ihrer Vorgeschichte ausführlich zu ergehen.

Jones ist keiner der Geschichtsschreiber, deren Darstellungen um so fülliger werden, je mehr sie sich den Epochen nähern, über die wir genug wissen, um plötzlich vom Fleisch zu fallen, wenn sie sich der Gegenwart nähern.

Wem Geschichte lieber ist, wo sie nicht wehtut, der kann sich auch bei Jones auf gut 240 Seiten in ihr ergehen, ehe es brenzlig wird.

Was sich nach der unerwartet schnellen und vernichtenden Nie-

derlage von 1940 in Frankreich abspielte, geschah nicht nur auf deutschen Befehl. Der faschistoide Geist Vichy-Frankreichs war auch home-made: „Die Parole ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit' von 1789 sollte durch die anspruchslosere Triade von Vichys verhinderter nationaler Bevolution' ersetzt werden. Obwohl sich das Begime ebenso wie sein Führer viel darauf zugute hielt, über den Parteien zu stehen, erwies es sich als äußerst parteiisch und niederträchtig: Viel Zeit und Kraft wurden darauf verwandt, alte Bechnun-gen zu begleichen. Die Denunzierung angeblicher Staatsfeinde wurde regelrecht zur Pflicht gemacht; in einem Jahr gingen bei den Behörden fast eine Million solcher Anzeigen ein.”

(In einer anderen Quelle, den Erinnerungen von Varian Fry, ist nach-

zulesen, was ein hoher französischer Beamter im Krieg dem Amerikaner auf die Frage nach dem Grund seiner Ausweisung antwortete: „Weil Sie Juden retten!”

Denn, so Jones, „die Resistance war zu keiner Zeit eine Massenbewegung: Höchstens ein Prozent war aktiv daran beteiligt... Die zahlreichen Denunziationen von Untergrundaktivitäten zeigen, daß Frankreich gespalten war. Doch je länger der Krieg dauerte, desto deutlicher zeichnete sich ab, daß die stillschweigende Unterstützung der Resistance immer mehr die Oberhand gewann.”

Was man vom Widerstand gegen Hitler bei uns leider nicht sagen kann.

Der britische Historiker spricht aus, wozu man sich in letzter Zeit in Frankreich mühevoll durchringt: In einer Rede nach seinem Einzug in Paris „beschwor de Gaulle den Mythos einer Stadt, ,die von ihrer Bevölkerung befreit wurde, mit Unterstützung der Armeen der Verbündeten Frankreichs...'” (übrigens, ähnliches sagte allen Ernstes nach dem Krieg auch Österreichs Bundeskanzler Leopold Figl!)

Die bittere Wahrheit: „Niemand schien saubere Hände zu haben...

Daß es 100.000 Exekutionen gegeben habe, hat sich als falsch erwiesen; es scheinen weniger als 10.000 gewesen zu sein... Bund 30.000 bis 40.000 Personen wurden wegen Kollaboration angeklagt und verurteilt - die meisten kamen freilich nach wenigen Jahren wieder frei. Der Pöbel führte in vereinzelten barbarischen Akten einer Selbstjustiz Prostituierte und andere Frauen, die sich angeblich einer ,horizontalen Kollaboration' schuldig gemacht hatten, ohne Kleidung und mit kahlgeschorenem Kopf durch die Straßen. Dennoch war das Ausmaß der Gewalttaten bescheiden im Vergleich zu seinen historischen Vorläufern - von den Beligionskriegen bis zur Pariser Kommune.” '

Das Ergebnis ist eine auf „einem schwankenden Boden der politischen Identität” stehende Bepublik mit einem Noch-Präsidenten, der, „obwohl... unter der Vichy-Begierung als Beamter tätig... aktiv der Besistance” angehörte, und „obgleich er eindeutig die Grundsätze der Linken vertrat, war nicht immer genau zu erkennen, worin diese Grundsätze eigentlich bestanden”. Eine solche politische Identität ist immer und überall Ergebnis generationenlanger Lernprozesse, positiver und negativer Erfahrungen. In Frankreich mündet in ihr das jahrhundertelange Wechselspiel von Badikalität und Anpassung und auch von Brutalität und Bingen um Humanität.

Dies steht nicht expressis verbis bei Colin Jones, ist aber der Succus eines der schönst ausgestatteten Bücher jüngeren Datums über Frankreichs Geschichte.

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