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Frankreichs „junge Löwen“

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Ein aufmerksamer Beobachter der französischen Parteienstruktur wird feststellen, daß eine seit Monaten totgesagte geistig politische Richtung des Landes nach unverständlichem Schweigen wieder energische Lebenszeichen von sich gibt und unter neuer Etikette jene Traditionen und Werke pflegt, die in der Palette der französischen Parteien seit 1944 einen bestimmenden Platz eingenommen haben.

Rekapitulieren wir die drei Meldungen: Der letzte Generalsekretär des MRP, Fontanet, wurde beauftragt, das Haus 7 rue Poissy zu verkaufen. Dort befand sich seit Kriegs-

ende das Hauptquartier der Volksrepublikaner. In den schwer übersehbaren winkeligen Gängen und altertümlichen Büros trafen sich mit ungefähr hundert ständigen Mitarbeitern ein witzesprühender Bidault, ein dramatischer Teitgen, ein gelassener Robert Schuman, protestierte

Francisque Gay und ordnete der ruhige Generalsekretär Colin. Mit dem Verkaufsangebot des Generalsekretariates wurde ein Teil der französischen Nachkriegsgeschichte endgültig besiegelt.

Die zweite Nachricht besagte, daß der vorletzte Präsident des MRP und derzeitige Bürgermeister von Straßburg, Pierre Pflimlin, die schlafende Provinzföderation der Volksrepublikaner im Elsaß zu neuem Leben erweckt habe.

Neue Wege und Ziele

Schließlich wurde verlautbart, daß der bisherige Generalsekretär des

demokratischen Zentrums, der Elsässer und Gewerkschaftsvertreter Theo Braun, durch ein bewährtes Schlachtroß des früheren MRP, den mehrmaligen Minister Pierre Abiin, ersetzt worden sei.

Zwischen den drei Meldungen bestehen tatsächlich enger« Verbindun-

gen, zeigen sich die Umrisse einer neuen christlichen Demokratie, die ohne diesen Firmennamen das reiche Erbe der großen christlichen demokratischen Denker des 19. und angehenden 20. Jahrhunderts sucht und diese Ideen modernisiert. Es war klär, daß die Masse aktiver Jungkatholiken, die Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die früheren Leiter der spezialisierten Bewegungen der katholischen Aktion, betont antigaulMstisch und sozialreformatorisch eingestellt,

nicht dauernd auf jede politische Tätigkeit verzichten würden. Da sie das gaullistische Regime vielfach sehr scharf beurteilen und sich auch mit der linken Föderation keineswegs abfinden — viele lehnten auch den Flirt mit den Kommunisten ab —, suchten diese disponiblen Jugendlichen wie die ehemaligen Kaders des MRP eine neue Plattform. Auch das Programm der unabhängigen Republikaner unter dem früheren Finanzminister Giscard d'Estaing wurde als zu technokratisch und kapitalistisch verschrien. Es war daher selbstverständlich, daß eine Organisation in Anspruch genommen wurde, die immerhin bei den Parlamentswahlen 1967 3,500.000 Stimmen erhielt, über 27 Abgeordnete (manche behaupten, es seien 31) verfügt. Zahlreiche Zeitschriften standen als Sprachrohr jederzeit zur Verfügung, und eine bewährte mittlere Führungsschicht hatte niemals aufgehört, auf die Renaissance ihrer Bewegung zu hoffen. Darüber hinaus zeigte sich die starke Verankerung der christlichen Demokratie in gewissen Regionen, besonders im Elsaß. An der Basis erhoben die einfachen Mitglieder ihre Stimme, verlangten die Erneuerung der Strukturen und wollten die Zeit benützen, um selbst neue Wege und Ziele aufzuzeigen.

Winterschlaf...

Die politischen Parteien aller Farben gerieten seit dem algerischen Abenteuer in eine Krise. Das Parlament hatte praktisch an Bedeutung verloren. Als der sozialistische Bürgermeister von Marseille, Deffere, den Plan entwickelte, eine große französische Arbeiterpartei zu schaffen, fand er begeisterte Zustimmung von Seiten des MRP. Der Versuch scheiterte an der Intransigenz des Generalsekretärs der SFIO. Mollet, der im MRP nach wie vor den „okkulten Arm des Vatikans“ sah.

Als dem MRP die Öffnung nach links nicht gelang, wurden diskrete Gespräche mit der rechten Mitte eingeleitet. Pinay lehnte allerdings das Angebot ab, als Präsidentschaftskandidat zu fungieren. Deshalb wurde Lecanuet aufgestellt, der den Auftrag erhielt, die gesamte französische Mitte zu sammeln. Der Senator trat jedoch nicht in seiner Eigenschaft als Präsident des MRP auf, sondern bereits als Vertreter eines praktisch noch nicht existierenden Zentrums. Das MRP beschloß, einen längeren ■Winterschlaf einzulegen.

Die christliche Demokratie wurde In diesen Monaten am eifrigsten von der Zeitschrift „France-Forum“ (monatlich, Auflage 10.000) vertreten. Die Zeitschrift, übrigens ausgezeichnet redigiert vom bedeutendsten lebenden christlich-demokrati-

schen Denker der Gegenwart, Etienne Borne, gründete regionale politische Klubs und hielt die geistige Verbindung zwischen lokalen Organisationen des MRP, des demokratischen Zentrums und verschiedener Zirkel aufrecht. „France-Forum“ wurde eine Art Gewissen der christlichen Demokratie, deckte die anfänglichen taktischen Fehler des Zentrums auf und inspirierte es mit christlich-demokratischem Gedankengut.

Die neue Generation

Betrachten wir also die neue Form der christlichen Demokratie Frankreichs aus der Nähe. Soweit Provinzverbände des ehemaligen MRP Wiederaufleben, werden keine Zweigorganisationen des demokratischen Zentrums gegründet. Im nationalen Rahmen ist jedoch das demokratische Zentrum federführend Der äußere Eindruck ist der einer besonderen Jugend und einer Dynamik, die realistischer erscheint als die oft unklare Mystik der Volksrepublikaner in den fünziger Jahren. Das demokratische Zentrum ist vorläufig keine offizielle Partei, gab sich provisorische Statuten und bereitet sehr eifrig einen Kongreß vor, auf dem die endgültige Form als Partei gefunden werden soll. Diese Tagung wird voraussichtlich im November in Nizza abgehalten.

„Was sind aber ihre Ziele und glauben sie wirklich, christliche Demokraten zu sein?“

Bereiten den Nachgaullismus vor

Der mit 26 Jahren jüngste Kandidat des demokratischen Zentrums, der in den Leitungsorganen eine maßgebende Rolle spielt, umreißt mit Überzeugungskraft die Ziele seiner Bewegung. Der Zuhörer denkt an Gespräche, die er vor 20 Jahren mit den begeisterungsfähigen Generalsekretär des MRP, Gortai, führte. Jetzt tritt ihm ein sachlicher Politiker gegenüber, der trotz seiner Jugend Routine und Distanz zeigt:

„Wir bereiten den Nachgaullismus vor! Der Gaullismus ist mit einer umgekehrten Pyramide zu vergleichen. An der Basis steht die einmalige historische Persönlichkeit, deren Größe von niemandem bestritten wird. Aber hat uns das Regime die Stabilität der Institutionen gesichert, die uns oft versprochen wurde? Der fünfte Wirtschaftsplan ist wahrlich nicht adaptiert, daß er den Erfordernissen einer in voller Mutation befindlichen Industrie-gesellschaft entspricht. Frankreich wurde in die diplomatische Einsamkeit geführt. Das außenpolitische Konzept brachte es mit sich, daß Frankreich innerhalb seiner Grenzen lebt, aber wir als Patrioten wollen den größeren Raum, das wirkliche Europa, und lehnen jeden Nationalismus ab. Wir lehnen die düstere Prophezeiung Malraux' ab, der nur eine Alternative kennt, den Gaullismus oder die Kommunisten. Wir wollen nicht, daß Frankreich in zwei versteinerte Blöcke zerfällt und jedes Leben in der Mitte erstickt und den Dialog unmöglich macht. . Wir sind echte christliche Demokraten, wir weichen allerdings dieser Etikette aus, denn wir wünschen den Atheisten ebenso anzusprechen wie den Christen, der den Kontakt mit der Kirche verloren hat. .. Unsere Aufgabe besteht darin, die Bildung des politischen Europas durchzusetzen, denn wir sind fanatische Europäer, aber wir sehen die Dinge nüchtern und lehnen jede schnell vergehende Begeisterung ab.“

Das sind sie also, die jungen Löwen der erneuerten christlichen Demokratie Frankreichs. Sie sind sachkundig. illusionslos. machtbewußt. Die Nation wird von ihnen in den nächsten Monaten und Jahren einiges zu hören bekommen. Sie können bereits jetzt als ein bestimmender Machtfaktor der französischen Innenpolitik bezeichnet werden.

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