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Franzosen und Deutsche

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Die ersten freundschaftlichen französischdeutschen Begegnungen nach dem ersten Weltkrieg fanden in den Jahren 1928 und 1929 statt. Der Bericht, den uns die Teilnehmer hinterlassen haben, ist ungemein lehrreich: auf beiden Seiten verspürte man damals, ungeachtet der Bereitwilligkeit zu Verständnis und zu Sympathie, die Kälte, die Zurückhaltung; jeder Delegierte betrachtete sich ein wenig als Botschafter seines Landes und glaubte diplomatisch auftreten zu müssen. Nach 1945 ist die Atmosphäre der deutsch-französischen Begegnungen, vor allem unter den diristlich Denkenden, eine ganz andere: auf beiden Seiten herrscht Freimut und Freiwilligkeit. Ich habe in den letzten vier Jahren an Zusammenkünften dieser Art teilgenommen und ich kann Zeugnis legen von der fröhlichen Kameradschaft, die die Teilnehmer beseelte; feste Freundschaften wurden im Verlauf dieser Versammlungen geknüpft. Man machte dort die Erfahrung, daß es eine internationale Gemeinschaft unter den Menschen, die guten Willens sind, geben kann, die sie zu konstruktiven Gedankengängen befähigt, auch wenn sie sicherlich durch ihre Interessen und ihre Erinnerungen geschieden sind. Ungeachtet seiner Sdirecken hat der zweite Weltkrieg zahlreiche Begegnungen zwischen Deutschen und Franzosen gestattet, denn man kann nicht Seite an Seite leben, nicht einmal in der Beziehung des Herrn zum Gefangenen, des Besetzenden zum Besetzten, ohne daß diese unvermeidlichen Berührungen nicht wenigstens von Zeit zu Zeit Gelegenheit böten, hinter dem Beamten oder dem Soldaten den Menschen zu enthüllen.

Die Tatsache, daß sich beide Teile nur mit kurzer Unterbrechung in der Rolle des Siegers und des Besiegten folgten, hat gleichfalls zum gegenseitigen Verständnis beigetragen, sie hat ein wenig den Hochmut des Siegers gedämpft und sehr schnell einen Austausch der Ansichten gestattet. Rasch erkannte man bei den Besprechungen, daß uns die gleichen geistigen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen Probleme beschäftigen. Mit Erstaunen und im Grunde mit freudiger Überraschung haben die Franzosen festgestellt, daß sie sich von. allen ihren Nachbarn auf dem Felde der persönlichen Beziehungen ohne Zweifel mit dem Deutschen am besten verstanden.

Dank einer stattlichen Anzahl von Vorkämpfern, die seit 1945 von hüben wie von drüben das Werk der Wiederverständigung betrieben haben, hat sich die öffentliche Meinung allmählich gewandelt. Hier muß aber eine sehr wichtige Feststellung gemacht werden: die öffentliche Meinung ist in Frankreich um vieles weniger beweglich als in Eeutschland. Es hat beispielsweise nahezu 40 Jahre gebraucht, um die traditionelle feindliche Einstellung gegen England in eine „Entente cordiale“ zu verwandeln, die doch nichts anderes war, als ein einfacher diplomatischer Vertrag. Aber diese „Entente cordiale“ zwischen Frankreich und England ist heute eine feste und, wie es scheint, unzerstörbare Freundschaft. Was Deutschland betrifft, so sind wir seit vier Jahren Zeugen der ersten Anzeichen einer ähnlichen Erscheinung in der französischen öffentlichen Meinung: sie entwickelt sich langsam, aber mit Sicherheit und immer in dem gleichen Sinne der Aussöhnung entgegen. Die deutsche öffentliche Meinung, die sehr beweglich ist, weiß die Verzögerungen, die hiebei auftreten, nicht zu deuten; sie geht unvermittelt von der Begeisterung für die europäische Gemeinschaft zum Zorn gegen Frankreich über. Diese Verschiedenheit im .Rhythmus der öffentlichen Meinung beider Länder erklärt, daß die Äußerungen beider selten übereinstimmen: die eine ist stets der andern gegenüber im Vorsprung oder im Rückstand. Vielleicht ist es möglich, den Rhythmus der Entwicklung etwas abzuändern, aber es wäre utopisch, ihn völlig wandeln zu wollen. Es ist Aufgabe der verantwortlichen und leitenden Männer, soweit als möglich die Auswirkungen auf die öffentliche Meinung abzusdiwächen.

Welches sind nun zur Zeit die empfindlichsten Reibungspunkte zwischen beiden Ländern? Entgegen der Auffassung der Deutschen läßt sich die französische öffentliche Meinung die Saarfrage nicht sehr angelegen sein. In den Augen der Franzosen würde ein Handelsabkommen, das zu vernünftigen Preisen den Bezug der Kohle, deren die französische Industrie bedarf, sicherstellt, einer völligen wirtschaftlichen Annexion gegen den Willen der Bevölkerung vorzuziehen sein. Aus Gründen, die zum großen Teil ideologischer Natur sind, interessiert vor allem das Internationale Ruhrstatut die Franzosen: sie sehen darin den ersten Schritt auf dem Wege, die wirtschaftlichen Reichtümer Europas zur Verfügung aller zu stellen und, obzwar sie nicht sehr geneigt sind, das auf ihre eigenen anzuwenden, fühlen sie doch, daß der Weg in diese Richtung führt. Es wird früher oder später dazukommen, und da sich nun die Gelegenheit weist, bei der Ruhr zu beginnen, so bestehen sie darauf, daß das internationale wirtschaftliche Statut an der Ruhr eingeführt und aufrichtig erfüllt werde. Die Erwägungen der militärischen Sicherheit, die im allgemeinen bei diesem Anlasse bei den diplomatischen Konferenzen durch die französischen Regierungsvertreter vorangestellt werden, sind in den Augen der öffentlichen Meinung sekundärer Natur.

Es ist nun gewiß nicht so, daß das Problem der Sicherheit an sich ein zweitrangiges wäre. Es ist nicht zu leugnen, daß die Franzosen mit einer gewissen Furcht die rapide Erholung der deutschen Wirtschaf tsmacht sehen. Sie fürchten vor allem, daß die Industrie, welche die Amerikaner in den Händen der großen kapitalistischen Trusts belassen haben, nochmals zur Herstellung von Waffen verwendet werden könnte. Sie wissen sehr wohl, daß ungeachtet der Geisteshaltung, die zur Zeit in Westdeutschland herrscht, eine völlige Verkehrung der Bündnisse immer möglich ist und daß dann eines Tages die Industrie der Ruhr in den Händen eines vom Osten aus wieder geeinten Deutschland (als Waffe) gegen unser Land dienen könnte. Diese Schlußfolgerungen sind nicht unwahrscheinlich und die Regierungen müssen ihnen Rechnung tragen. Die Klugheit M. S c h u-m a n s, dessen zutiefst friedliche und christliche Überzeugung bekannt ist, behindert keineswegs die Entwicklung der französischen öffentlichen Meinung Frankreichs zu einer Wiederversöhnung hin — ich glaube vielmehr, sie begünstigt sie.

Um ganz frei zu sprechen: es gibt in den Augen der Franzosen eine Eigenschaft im Charakter der Deutschen, die die völlige Wiederaussöhnung hemmt. Der Franzose hat den Eindruck, daß der Deutsche rasch vergißt und gewissermaßen verschiedene Stufen der Aufgeschlossenheit hat. Niemand denkt daran, in die Besprechungen wieder den Begriff der Kollektivschuld einzuführen. Aber für eine verbrecherische Politik nicht verantwortlich zu sein, berechtigt nicht dazu, sie mit dem Vorgeben zu entschuldigen, daß andere Länder eine ebenso grausame und eigensüchtige Politik führen. Und es ist gerade das Fehlen einer solchen Strenge bei der Beurteilung politischer Gegenstände, das uns bei unseren deutschen Kameraden häufig beunruhigt. Es scheint uns, daß in ihren Augen die Verbrechen der Sowjets und die Ungerechtigkeiten der Alliierten endgültig die deutsche Politik der Flitlerzeit von jedem Vorwurf reingewaschen haben. Wir Franzosen machen keine Schwierigkeiten, die Ungerechtigkeiten, die während der Besetzung durch unsere Mitbürger begangen worden sind, zuzugeben, aber wir stellen mit höchstem Erstaunen fest, daß diese Ungerechtigkeiten im Gedächtnis unserer Gesprächspartner jede Erinnerung an die Vergangenheit völlig ausgelöscht zu haben scheinen, gleichsam als ob die Ungerechtigkeiten, die im Hinblick auf das deutsche Volk begangen wurden, unendlich viel schwerer wögen als jene, die anderen Völkern zugefügt wurden. Die Auslassungen H. Schumachers sind eine andere Bekundung dieses Mangels an Maß. Wenn der Vorsitzende der Deutschen Sozialdemokratischen Partei das ganze Ausmaß des Schadens übersehen würde, das er seinem Volke in der öffentlichen Meinung des Auslands durch die Zügellosigkeit seiner Sprache zufügt, die in den Ohren von Nichtdeutschen unausweichlich an Hitler erinnert, würde er vielleicht vorziehen, zu schweigen. Es ist gewiß, daß eine Ansprache Schumachers genügt, um für mehrere Wochen in der öffentlichen Meinung Frankreichs das Fortschreiten der

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