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Frei mit Pulver und Blei

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Eines der größten Probleme, mit denen sich die USA auseinandersetzen müssen, ist die ständig wachsende Kriminalität. Amerika ist, statistisch gesprochen, von allen Ländern der freien Welt jenes Land, in dem die meisten Verbrechen geschehen. Natürlich darf nicht übersehen werden, daß die USA ihrer Ausdehnung und ihrer Bevölkerungszahl nach ein Kontinent sind und diese Probleme auch unter diesem Aspekt betrachtet werden müssen. Wenn man alle Verbrechen, die innerhalb eines Jahres im freien Europa geschehen, zusammenzählt, kommt ebenfalls eine stattliche Anzahl zusammen. Dies darf aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß die Anzahl der Verbrechen in Amerika ständig im Wachsen ist.

Washington, die Hauptstadt der USA, ist gleichzeitig auch die Hauptstadt der Verbrecher, und fast jeder Bewohner dieser Stadt, die Mitglieder des Diplomatischen Corps inbegriffen, war sicherlich schon einmal das Opfer eines Vergehens oder Verbrechens. Die sogenannten Hauptverbrechen, die in den USA „major crimes“ genannt werden und zu denen Morde, Vergewaltigung und Ubergriffe auf Personen gehören, sind im Jahr 1968 um 25,6 Prozent gestiegen, wobei die Vergewaltigungen mit 53,9 Prozent den ersten Platz einnehmen. Im Jänner dieses Jahres wurden bereits 19 Banken beraubt, drei von diesen Banken liegen in unmittelbarer Nähe des Weißen Hauses, des Wohnsitzes des Präsidenten der USA, Die Großbanken Washingtons veröffentlichten in Form einer gahiSeitigei* ~An-nonc,e. eineöo AppellsiH'.'*-8rasSdent.. Nixon, mit dem sie ihn baten, aus der Bundeshauptstadt ein Modell der Stabilität an Stelle eines Beispiels von krimineller Anarchie zu machen. Präsident Nixon versprach tatsächlich, daß die Verhütung von Verbrechen, insbesondere in der Hauptstadt, eines jener Probleme sein werde, die die neue Regierung in erster Linie zu lösen versuchen wird.

Mit Hoffnung, die mit Skeptizismus vermischt ist, sieht deshalb die Bevölkerung dem Wirken der neuen Regierung entgegen. Mit Skeptizismus deshalb, weil der Bevölkerung ganz klar ist, welche Schwierigkeiten der Regierung bei der Lösung dieser Probleme harren. In Washington werden jetzt tausend neue Polizisten gesucht, die die schon bestehende Polizei verstärken sollen. Von wo diese Polizisten kommen sollen, ist allerdings ein Rätsel. Denn die Polizei in Washington hat schon Mühe, 800 vakante Posten der Polizei zu besetzen.

Es gibt wohl kein Land der freien Welt, in dem die Lehrer bewaffnet in die Schulen und in die Klassen gehen. Aber in den USA ist dies eine ständige Übung. In East St. Louis zum Beispiel, einer Stadt, die östlich von St. Louis auf der anderen Seite des Mississippi im Staate Illinois liegt, gehen 80 Prozent der Hochschullehrer bewaffnet in die Vorlesungssäle. Denn zu viele der Lehrer wurden bereits Opfer der mit Messern bewaffneten Schüler. Gegen zu viele Lehrer werden ständig durch das Telephon Drohungen ausgesprochen. Zu viele Lehrerinnen wurden von den Schülern attackiert. Zu viele Schulen wurden schon in Brand gesteckt. Und da die Polizei machtlos gegenüber diesem. Treiben zu sein scheint, müssen die Lehrer mit geladenem Revolver in die Schulen gehen, die man populär „Dschungel der schwarzen Teufel“ nennt. Fast scheint es notwendig zu sein, daß die USA zum Zeitalter der „Vigilanten“ zurückkehrt — private bürgerliche Überwachungs-komdtees, die einst im Wilden Westen erfolgreich die Verbrechen bekämpften.

Gewalttätigkeit ist heute ein Teil des amerikanischen Alltags. Diebstähle, Raube, Morde (in St. Loiüs ein Mord pro Tag), Vergewaltigungen, Straßenunruhen, Studentenumruhen, Brandstiftungen, Bombenanschläge und andere Verbrechen sind nur ein Teil der täglichen Gewalttaten. Dazu kommt der Krieg in Vietnam, die Polizeibrutalität als Reaktion auf die brutalen Angriffe der Demonstranten, die um sich greifende Rauschgiftsucht, die Massentötungen, die durch Straßenunfälle verursacht werden (zumeist ein Resultat betrunkener Wagenlenkeir) und die Grausamkeit, die in den Filmen und im Fernsehen gezeigt werden. All diese Dinge fördern natürlich noch die Gewalttätigkeit in den Staaten. Und dazu kommt, daß sich leider nur sehr wenige junge Männer zur Polizei melden.

Dies ist begreiflich, denn die Polizei ist schlecht bezahlt, und ihr soziales Ansehen nicht sehr hoch. Den Polizisten trifft nicht nur der Haß der Verbrecher, sondern auch die mitleidige Verachtung der braven Steuerzahler, die zusehen müssen, wie mangelhaft sie der Staat schützt. Dazu kommt noch, daß auch die Gerichte den einzelnen Polizisten viel zuwenig schützen, was die soziale Stellung nicht verbessert. Warum soll deshalb ein junger Mann Polizist werden?

Inzwischen steigt die Anzahl der Verbrechen. Zwar gehört es heute zum guten Ton, daß fast jedes College und jede Universität Untersuchungen über die „Ursachen der Gewalt“ über „die Gewalt in der demokratischen Gesellschaft“, „Gewalttätigkeit und Rauschgift“, „Gewalttätigkeit und Scheidungen“ usw. anstellt. Alle diese Studien werden gedruckt, gelesen und durchstudiert, und zu gleicher Zeit wird weiter gemordet, vergewaltigt und gestohlen. Aber statt solche Studien anzustellen, wäre es besser, endlich Taten zu setzen und die grauenhaft ansteigende Flut der Verbrechen einzudämmen.

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