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Freiheit zur Lebensflucht?

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Im Zusammenhang mit der Motivierung von Selbstmordhandlungen tauchen in der Gegenwart wieder jene Fälle auf, bei denen in der Vergangenheit die Selbstvernichtung unter Zwang oder Nötigung in verschiedenster Form, immer aber zielstrebig durch eine andere Person dem Selbstmörder mehr oder weniger nachdrücklich „nahegelegt“ wurde. Hierbei waren in der Vorzeit vielfach die soziale Stellung und gewisse Standesvorurteile mitbestimmend. Die Überreichung der Pistole oder der seidenen Schnur war die unzweideutige Aufforderung, von der Bühne des Lebens zu verschwinden oder... I

Der Massenselbstmord in wesentlich anderer Form und vielfach motiviert durch religiöse Ansichten war das Harakiri, das in Militärkreisen üblich war, um durch die Selbsttötung der feindlichen Gefangennahme zu entgehen. Da die Idee der Inkarnation der Kern der buddhistischen Doktrin ist, hoffte man auf die Glückseligkeit in der folgenden Inkarnation. Selbst im mittelalterlichen Militarismus glaubte man, die Inkarnation billige oder fordere den Selbstmord vor der Gefangennahme. Auf diese Weise konnte man auch die große Tapferkeit der ...Militärs aufrechterhalten. Das pflichtgemäße und obligate Harakiri wurde schon im Jahre 1868 abgeschafft'; das 'freiwillige - Harakiri blieb weiter in Übung. Diese Form des Selbstmordes zeigte sich auch während des zweiten Weltkrieges, wie man es in Saipan und Iwojima erlebte (Prof. Dr. Kichinosuke Tatai, Chef des Departements für physiologische Hygiene in Tokio, Japan, in einer Mis-zelle über den Selbstmord in Japan).

Die zeremonielle Überreichung der Pistole gehört wohl der Vergangenheit an. Um so betrüblicher ist es, wenn der „nahegelegte“ und „empfohlene“, aber „selbstverständlich aus eigenem Entschluß“ gewählte Selbstmord in anderer Form wieder aus dem Nebel der Vergangenheit auftaucht. Vor kurzem hat die in den Vereinigten Staaten von Nordamerika erscheinende katholische Zeitschrift „America“ nach einer Meldung der „Katholischen Presseagentur“ in einem Artikel zu einem Zwischenfall eines amerikanischen Militärflugzeuges schärfstens Stellung genommen, weil dem Piloten von seinem Vorgesetzten für den Fall einer drohenden Gefangennahme der „Befehl zum Selbstmord“ erteilt worden sein soll. Wenn spätere Pressemeldungen den Fall so darstellten, daß dem Piloten die „Giftnadel nur zur Verfügung gestellt“ worden sei und es seinem Ermessen anheimgestellt bleiben sollte, ob er sie zum Selbstmord benützt oder nicht, so ändert dies an der grundsätzlichen Ideologie nichts. Eine solche Zurverfügungstellung eines Selbstmordmittels in der gegebenen Situation, mit oder ohne Befehl, mit oder ohne Empfehlung zur Benützung, ist vom moralischen und ethischen Standpunkt aus zu verurteilen, und zwar auch dann, wenn der Befehlsgeber oder der das Selbstmordmittel Aushändigende formell „durch höheren Auftrag“ sich gedeckt meint.

Nach wie vor gilt unverändert das Gebot „Du sollst nicht töten“, das heißt, niemand darf fremdes Leben vernichten. Wenngleich dieses Gebot jeden einzelnen anspricht, gilt es zweifelsfrei für die Summe aller einzelnen, das heißt für die Gesellschaft. W i r sollen nicht töten! Es ist daher sinnvoll, wenn festgestellt wird: Ich darf dich nicht töten, du darfst mich nicht töten, wir dürfen dich nicht töten, du darfst uns nicht töten, wir dürfen euch nicht töten. In allen Fällen besteht ein personeller Unterschied zwischen dem Täter und dem Träger des verletzten Rechtsgutes, also jener Person, die getötet worden ist. Beim Selbstmord hingegen ist Mörder und Gemordeter in personeller Unität, Täter und Objekt sind ident. Wie immer der Sinn des Lebens verstanden wird, Selbstmord ist M o r d. Man mag zu diesem sozialen Phänomen wie immer stehen, unverändert hleibt der Tatbestand der Vernichtung eines Lebens. Hier der Mord an sich selbst, dort der Mord an einem anderen Menschen. Unter Anerkennung des Gebotes „Du sollst (einen anderen Menschen) nicht töten“, kann daher sinnvoll gefolgert werden „Du sollst dich nicht töten“. Der Selbstmord bleibt, wobei vorerst religiöse Probleme nicht berührt werden sollen, eine Rechtswidrigkeit, weil damit auch die Interessensphäre der Gemeinschaft berührt wird.

Nach den vorstehenden Feststellungen kann nun an das in Rede ;tehende Problem der Mitwirkung am Selbstmord näher herangegangen werden. Der Mitwirkung am Selbstmord ist schuldig, wer eine Handlung ermöglicht oder auch erleichtert, durch die ein anderer sein, eigenes Leben vernichtet. Die Beihilfe zum Selbstmord kann in Form einer Handlung oder Unterlassung bestehen; sie kann in physischer, psychischer, moralischer oder intellektueller Form in Erscheinung treten.

Im Zusammenhang mit der Morali-tät des Problems wird bewußt auf eine strafrechtliche Beleuchtung und Diskussion verzichtet. Dies auch deshalb, weil' die strafrechtliche Behandlung in den einzelnen Staaten differenziell ist. Wer aber den Standpunkt anerkennt, daß Selbstmord auch Mord ist, muß es folgerichtig finden, daß die Beihilfe zum Selbstmord, sie mag in welcher Form auch immer bestehen, ebenfalls zu verurteilen ist. Hier kann es keine Reservation oder Exception geben! Es ist nur mehr als verwunderlich, daß in Zeiten, in denen die Wertschätzung des menschlichen Lebens in seinen verschiedenen Möglichkeiten auch als Fahnenspruch in den nationalstaatlichen Bereichen mehr oder weniger laut und deutlich erkennbar ist, die praktische Verwirklichung in einzelnen Bereichen des menschlichen Daseins ausbleibt. Sind die Mächtigen vielleicht schon so weit, daß sie es aus Bequemlichkeit oder Ignoranz mit Seneca halten, der in seiner Schrift „De dementia“ meint: Mitleid sei eine Geisteskrankheit, die man sich durch den Anblick fremder Leiden zuzieht... diese Krankheit kann aber einen Weisen nicht befallen ..

Das Problem der Selbstmordhandlungen wird bestehen bleiben, solange Menschen auf dieser Erde leben; diese Asozialität einzudämmen und zu mildern, ist heute, in den Zeiten der immer wieder betonten wirtschaftlichen Prosperität — so unglaublich dies scheinen mag —, eine besondere Aufgabe der Gesellschaft und innerhalb dieser wieder der hierzu berufenen fachwissenschaftlichen Persönlichkeiten und ihrer Hilfsorgane. Die Notwendigkeit der im Leben praktizierenden Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft ist nicht nur in nationaler, sondern auch schon in internationaler Sicht deutlich erkennbar geworden. Die internationalen Kongresse über Selbstmordprophylaxe, das „Weltjahr für geistige Gesundheit“, die nationalen, karitativen und konfessionellen Institutionen mit ihrem segensreichen, aber noch immer nicht voll einsatzmöglichen Wirken beweisen das Gebot der Stunde.

Und gerade in diesem so großen Ringen um den „Nächsten“ und das Wiedererlangen des seelischen Gleichgewichts der Menschen drückt jemand, der sich Mensch und „Berufsnächster“ nennt, seinem „Berufsnächsten“ das Belbstmordmittel, die „Giftnadel, für den Fall, daß...“ in die Hand!

Hat man sich schon einmal Gedanken gemacht, in welchem psychischen Notstand ein Mensch sein muß, der, die körperlichen und geistigen Anstrengungen seines „besonderen Dienstes für das Vaterland“ ertragend, im Augenblick der Gefahr vor die Entscheidung gestellt ist, ja oder nein zu sagen? Hat man sich weiter gefragt, welche Verantwortung man übernimmt, wenn man das Selbstmordmittel einem konfessionell oder zumindest moralisch oder ethisch gebundenen Menschen in die Hand drückt? Auch darüber herrscht Schweigen, Man wähnt, schon mit der Feststellung genug getan zu haben, daß mit der Aushändigung der „Giftnadel“ keine wie immer geartete Nötigung oder Empfehlung zum Selbtsmord gegeben ist.

Von welcher Seite man immer die Problematik der „Giftnadel“ auch im weiteren Sinne des Wortes anblendet, es gibt auch bei Negierung der religiösen Problematik und Mindestanerkennung von Moral und Ethik eine Feststellung! Die Beihilfe zum Selbstmord, in welcher Form immer, ist Beihilfe zum Mord, weil Selbstmord Mord an sich selbst ist. Wo ist das zuständige „Gerichtsforum“ und der „Vorsitzende“ dieses Gerichtshofes?

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