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„Gaudeamus“ in Rotweißgrün

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aui aer ganzen wem gui seil jener die akademische Jugend als der Seismograph der politischen Entwicklung. Die Oktobertage des Jahres 1956 in Polen und in Ungarn waren nur ein Beispiel dafür, daß auch dort trotz der kommunistischen „Züchtigung“ die studierende Jugend zu denken, zu fühlen und zu handeln weiß.

Verursacht die akademische Jugend unserer Tage in einem Land, in dem Kriegsverbrecher ihnen Befehle erteilen können, in dem Politiker ihnen die kalte Schulter zeigen, in dem Personen, die ihnen als Ideale vorgesetzt werden, versagen, der Herrscherschicht kein Kopfzerbrechen mehr? Was den Lernerfolg anbelangt — kaum. Die ernüchterten Kommilitonen der Freiheitskämpfer von 1956 lassen sich nioht in eine Rolle von Don Quichottes drängen, die den von vornherein verlorenen Kampf gegen Windmühlen aufnehmen. Sie konzentrieren sieh auf ihre kommenden Aufgaben: lernen fleißig und bilden sich weiter. Von dieser Seite her ist nicht zu erwarten, daß sie ihre Eltern oder den Staat, der ihnen das Studium Weitestgehend ermöglicht, enttäuschen könnten.

Aus ihnen werden ausgezeichnete Fachleute, vielleicht auch gute Europäer, aber ob sie auch gute Kommunisten sein oder bleiben werden — das gehört auf ein anderes Blatt. Diese Feststellung allerdings stammt von Peter Väjö, dem Sekretär des Zentralkomitees des Kommunistischen Ungarischen Jugendverbandes KISZ. In der soeben erschienenen Jännemummer des ideologischen und politischen Organes der Sozialistischen Ungarischen Arbeiterpartei, der „Tärsadalmi Szemle“, erschien aus seiner Feder ein höchst bemerkenswerter Artikel unter dem Titel „Welche Richtung schlägt unsere akademische Jugend ein?“

Genosse Väjö stellt fest, daß in den letzten Jahren die größten Debatten die Beurteilung der akademischen Jugend hervorrief. „Verständlich“, — heißt es bei ihm — „denn die fachliche und politische Weiterentwicklung der Universitätsjugend widerspiegelt maßgebend die heutige, insbesondere aber die zukünftige geistige Situation unserer Heimat, die Weiterentwicklung der Volkswirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur und damit des gesamten ge-' seilschaftlichen Lebens.“

Gleichgültig, passiv und zweifelnd

„Die Aufgabe unserer Hochschulen ist es, kommunistische Fachleute heranzubilden“, heißt es weiter in dem Artikel. Die Universitätsjahre beeinflussen den Reifeprozeß der geschulten Jugend maßgeblich, und der Tätigkeit des Lehrkörpers ist es zuzuschreiben, ob ihre Schützlinge zu wahrlich kommunistischen Fachleuten werden, oder nicht. Der ungarische Jungpolitiker ist ebenfalls der Meinung, daß man, was die Lernerfolge anlangt,, mit der heutigen akademischen Jugend zufrieden sein könne. Auch auf ideologischem Gebiet sei eine gewisse Besserung festzustellen „Die Mehrheit der Universitätsjugend nimmt in wichtigeren gesellschaftlichen oder internationalen politischen Fragen immer einen Standpunkt ein, der der Sache des Sozialismus entspricht. Dies bewiesen die Erfahrungen der letzten Jahre. Wenn auch bei der überwiegenden Mehrheit der Jungakademiker der Denkprozeß durch den Sozialismus weitgehend beeinflußt wird, ist die Zahl jener bedeutend geringer, die ihre Alltagstätigkeit und ihr Gehaben bewußt in den Dienst der sozialistischen Grundsätze stellen. Sehr häufig läßt sich bei unseren Hochschülern das völlige Fehlen eines mutigen Einsatzes für unsere Ideen sowie eine erschreckende Unsicherheit feststellen, wir haben zahlreiche politisch gleichgültige, passive und zweifelnde Jugendliche.“

Die folgenden Sätze sind als Kernpunkt der ganzen Jeremiade des ungarischen Jungfunktionärs anzusprechen, denn ihnen ist klar zu entnehmen, daß die heutige ungarische akademische Jugend für die kommunistischen Ideen nicht gewonnen werden konnte:

„Manche Jugendliche beurteilen die internationale Lage falsch. Sie sehen die Situation unseres Landes im sozialistischen Weltsystem nicht richtig und beurteilen auch die Rolle der sozialistischen Länder an der internationalen Entwicklung unzutreffend. Andere wieder verkennen den dialektischen Zusammenhang der Begriffe Patriotismus und Internationalismus. Mehrere Hörer beurteilen die Rolle des COMECON und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den sozialistischen Ländern völlig falsch. Schließlich ist ein beachtlicher Teil der Hochschuljugend nicht entsprechend über das wahre Wesen der Auseinandersetzungen und der Polemik im kommunistischen Lager informiert.“ Mit einem Wort, die wiederholten ideologischen Anläufe, der ungarischen Jugend die einzig heilsame Idee des Marxismus einzuhämmern, waren von nur sehr geringem Erfolg gekrönt. Und dies, Obwohl den Jugendlichen vom ersten Tag in der Schulbank an bis zur Matura andauernd kommunistische Ideen durch einen Moskauer Trichter eingeflößt werden!

Wer ist schuld?

An wem liegt also die Schuld? An dem Lehrpersonal, das wahrscheinlich lustlos und ohne Uberzeugung jene Kernsätze Marxens und Lenins sowie ihrer Jünger weitergibt, weil es im Schulplan vorgesehen ist? An den Jugendlichen, die mit einer Ideologie überfüttert werden? An dem Elternhaus, in dem aller Wahrscheinlichkeit nach genau das Gegenteil dessen offen ausgesprochen und praktisch vorexerziert wird, was vom Katheder herab immer wieder behauptet wird?

Weit gefehlt! Aber lassen wir wieder Väjö sprechen. Er berichtet nämlich: „Ein gewisser Teil der Hochschuljugend wird von der sogenannten ,Auflockerungspolitik' der imperialistischen Internationale beeinflußt. Als Auswirkung finden wir bei unseren Jungakademikern eine gewisse Scheinobjektivität, einen übertriebenen Kotau den Leistungen des Westens und der westlichen Lebensform gegenüber, wobei die Errungenschaften des sozialistischen Lagers herabgesetzt werden und pessimistische Stimmungen in Anbetracht der Zukunft der Menschheit um sich greifen und die Jugendlichen sich einer existentialistischen Lebensauffassung hingeben. In den allerletzten Jahren griff jene Stimmung Platz, die als Auswirkung der Tätigkeit von Hörern, die dem Sozialismus bewußt feindlich gegenüberstehen und eine feindliche Tätigkeit ausüben, bemerkbar wurde. Wohl ist der prozentuelle Satz dieser verschworenen Regimegegner auch heute noch minimal, doch die schwerwiegende Wirkung ihrer Taten ist besorgniserregend. Allein unter den Hörern der Budapester Universitäten befanden sich mehr als hundert Akademiker, die entweder selbst unsere Gesetze verletzt haben oder deren Eltern mit unserem Regime in einen schweren Konflikt gerieten.“

Des Mißerfolges ist sich auch die kommunistische Jugendorganisation und ihre Führerschaft im klaren, sonst würde einer von ihnen nicht zuzugeben wagen, daß die akademische Jugend und damit die zukünftige Intelligenzschicht Rot-Ungarns keineswegs gewillt sein dürfte, nach den Wünschen der Partei zu tanzen. Im Artikel von „Tärsadalmi Szemle“ werden bittere Wahrheiten an die Adresse der Parteiführer ausgesprochen. So wird nicht verschwiegen, daß „das politische Weltbild, das sich die Akademiker erringen, auf intellektueller Erkenntnis fußt“. Also: der Geist lehnt die marxistische Ideologie ab! Ferner: „Die heutige Universitätsjugend lernt die Grundzüge der Politiker der Partei und der Erfahrung des Aufbauens unserer sozialistischen Gesellschaft nur einseitig kennen.“ Auch das Lehrpersonal leistet also inneren Widerstand, läßt zu, daß sich die gebildete Jugend frei entfaltet. Schließlich: „Da viele Hörer Fremsprachen sprechen, haben sie die Möglichkeit, sich aus westlichen Rundfunkstationen zu informieren und im

Ausland Erfahrungen zu sammeln; 20 Prozent unseres akademischen Nachwuchses fährt jährlich ins Ausland und erweitert dort aus feindlichen Quellen ihre Kenntnisse.“ Also versagt auch vollends die heimische einseitige Propaganda und ist nicht imstande, Westbesucher zu „immunisieren“.

Was soll geschehen?

Nach diesen vielen warnenden Zeichen — was wird geraten, um die Jugend doch für sich zu gewinnen? Es wird darauf hingewiesen, daß es schwierig ist, in der Sturm- und Drangperiode auf das zu schaffende Weltbild lenkend Einfluß zu gewinnen. Interessanterweise wird aber nicht die Forderung erhoben, durch mehr Propaganda Terrain aufzuholen, sondern eine Besserung auf allen Gebieten wird verlangt: bei der eigenen Propagandatätigkeit beginnend, bis zur besseren ideologischen Ausrichtung der Professoren.

Die Vorbilder sollen also aktiviert werden: jener Personenkreis, dem aufgetragen wurde, der ungarischen Hochschuljugend die kommunisti-sohe Idee und Praxis schmackhaft zu machen.

Aber unter diesen „Vorbildern“ halten sich noch immer viele Elemente verborgen, die von allen gutgesinnten Menschen abgelehnt werden müssen. Mörder, die stolz eine Uniform tragen, vor der jeder Jugendliche körperlich und geistig „Habt acht“ stehen muß, und „Volksvertreter“, die ihrerseits geistig „Habt acht“ stehen, wenn ihnen noch höher Gesteilte „Weisheiten“ vorexerzieren.

Solange diese typischen Merkmale einer kommunistischen Gesellschaft nicht überwunden werden können, wird es geistig unter der ungarischen Akademiker] ugend gären. Diese Stützen zu entfernen hieße allerdings die wichtigsten Pfeiler der kommunistischen Gesellschaft einreißen.

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