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Gaullismus an der Wende

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In Kreisen skeptischer politischer Beobachter in Paris ist seit langem schon ein Gesellschaftsspiel üblich geworden. Man fragt da reihum: „Was kommt nach de Gaulle?” Die einen sagen: die „nationale Revolution” (die viele Spielarten haben kann, von einer Militärdiktatur — das häufigst Genannte — über ein autoritäres Regime mit noch zivilem Anstrich bis zu einem Totalitarismus faschistischer Prägung). Darauf entgegnen andere: nein, eine Volksfront. Und ganz Gewitzte meinen: beides wird kommen, bloß steht die Reihenfolge noch nicht fest. Allerdings gibt es auch hier eine Mehrheit, die der Meinung ist, daß wohl zuerst mit einer Militärdiktatur zu rechnen sei, diese sich aber dann der Lösung der französischen Probleme unfähig erweisen und als Gegenschlag eine Volksfront provozieren werde.

Bei solchen Diskussionen fehlt es übrigens fast nie an jenem Einzelgänger (manchmal ist es sogar ein Franzose selbst), der aus irgendeiner Ecke dazwischenwirft: „Schön und gut, eure Prophetien — aber ihr vergeßt, wer die Herren der Welt sind! Gewiß, euer Szenario mag sich ein Stück weit so abrollen — aber an einem bestimmten Punkt wird es einem jener Herren einfach zu bunt und er stellt uns unter Vormundschaft…” — Nun, das sind Gedankenspiele. Die Häufigkeit, mit der man auf sie stößt, zeigt iedoch, daß diese Spiele an Wirklichkeiten ihren Halt finden müssen.

EIN PSYCHOLOGISCHER DAMMBRUCH

Eine dieser Wirklichkeiten ist ein Dammbruch, der bei den Gemeindewahlen sichtbar , wurde. Wir meinen damit nicht den Wiederaufstieg der Kommunisten — er war zwar eindeutig, bewegte sich aber innerhalb der zwei bis drei Millionen Flugsandstimmen, mit denen man nun einmal bei allen französischen Wahlen zu rechnen hat. Nein, wir meinen einen „psychologischen Dammbruch”.

Der Mechanismus der französischen Innenpolitik beruhte seit 1947/48 darauf, daß es der Rechten gelungen war, i der nichtkommunisti- soben; Linken das Gefühl’ zu geben, die eigentliche politische Todsünde sei ein Zusammenspiel mit den Kommunisten. Und zwar bezog sich das nicht nur auf ein allfälliges Gemeinsamregieren mit den Kommunisten. Es bezog sich auch — was weniger selbstverständlich ist — darauf, daß um keinen Preis die kommunistischen Stimmen benutzt werden dürften. Das galt aber nur für die Linke. Praktisch war es nämlich so, daß die Rechte immer wieder mit Hilfe der Kommunisten Linksregierungen stürzte, aber sofort die Anklage erhob, wenn die Linke einmal dasselbe in umgekehrter Richtung zu tun sich anschickte.

Das Erlebnis der Fünften Republik und die Ahnung dessen, was sich in deren Schatten ankündet, scheint da aber nun etwas geändert zu haben. Das war die wichtigste Lehre der Gemeindewahlen. Schon vor ihnen kam es bei Wahlen zu Volksfrontparolen,’ die von lokalen Sektionen der sozialistischen Stammpartei oder der Radikalen oder linker Splittergruppen ausgingen (oder zumindest von diesen Sektionen akzeptiert wurden). Bis in den letzten Herbst hinein zeigte es sich jedoch, daß das traditionelle sozialistische und radikale Stimmvolk auf diese Parolen in der Mehrheit oder wenigstens zur Hälfte nicht einging. Bei den Gemeindewahlen nun war das anders. Genaue Untersuchungen der Stimmresultate haben eine durchschnittliche Reduktion dieser Volksfront-Renitenz auf 20 bis 15 Prozent gebracht. Und es ist gut möglich, daß dieser Prozeß noch weitergeht.

DIE GRENZLINIE

Was heißt das? Es heißt nichts anderes, als daß ein erheblicher Teil des Stimmvolkes heute anscheinend der Meinung ist, daß im Augenblick die französische KP nicht der Feind Nr. 1 sei. In weiten Schichten scheint sich die Meinung zu verbreiten, man könne sich einen Zweifrontenkrieg nach rechts und nach links nicht mehr leisten; man dürfe die kommunistische- Hilfe nicht länger zurückweisen, wenn es gelte, die „Reaktion” als den gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Daß das nicht nur die nichtkommunistischen Teile der Arbeiterschaft betrifft, sondern auch einen erheblichen Teil der Mittelschichten, also des bürgerlichen Mittelstandes und der Klembauernschaft, und selbstverständlich auch der Intelligenz und freien Berufe, kann nicht mehr bestritten werden.

Damit wird jener dramatische Trennungsstrich wieder sichtbar, der sich seit gut hundert Jahren durch den französischen Mittelstand zieht und der immer nur provisorisch übertüncht werden konnte. Da — wie wir in unserem ersten Bericht zeigten — die Mitte im heutigen Frankreich mehr und mehr ausfällt und im Grunde nur noch in der Person de Gaulles besteht, beginnt sich dieser für Frankreich lebensgefährliche Spalt von neuem zu öffnen. Er ist das eigentliche rätselhafte Phänomen der französischen Innenpolitik.

Eigenartig ist nämlich, daß er eine große Mittelschicht trennt, die soziologisch bis zu einem erheblichen Grade einheitlich ist. Liegt es an historischen Atavismen, daß der „Franęais moyen” links von diesem Spalt republikanisch, laizistisch und in fast anarchischem Sinne freiheitlich gesinnt ist, während sein Bruder rechts von dem Spalt immer wieder, und zwar insbesondere in Notsituationen, für autoritäre Versuchungen anfällig wird und jene Freiheit für die Sicherheit zu opfern bereit ist? Oder liegt es an einem Nachwirken der so erbitterten Religionskriege in diesem Lande? Nun, es ist noch keinem Forscher geglückt, Ursprung und Verlauf dieser Trennungslinie genau zu bestimmen. Sie ist. nun einmal da, und sie droht in absehbarer Zukunft zum Schicksal Frankreichs zu werden. Einem pessimistischen Blick scheinen nur noch zwei Auswege offenzustehen: der in die „nationale Revolution” und’ der in (lie Volksfront der Linken mit den Kommunisten. Wird noch einmal ein Eingriff — von innen oder vom Ausland her — das Land aus dieser gefährlichen Alternative befreien?

DE GAULLES FEHLENDE HAUSMACHT

In dieser Situation ist es tragisch, daß de Gaulle keine „Hausmacht” besitzt, auf die er sich fest verlassen kann. Warum er auf die Armee nicht zählen kann, haben wir in dem vorausgehenden Bericht erläutert. Wie aber steht es mit dem sogenannten „Gaullismus”? Dieser ist eine sehr variable Größe, die. sicfy unter Stimtnungsumschwüngen gewaltig auf blähen und auch über Nacht wieder in sich zusammensacken kann. Und wir haben auch bereits erwähnt, daß die Hauptmasse dieses Gaullismus in einem langsamen Abtreiben nach rechts begriffen ist, das durch unklar-gefühls- mäßige Bindungen an den General nur noch notdürftig überdeckt wird.

Kennzeichnend ist dafür ein Vorgang, der sich vor einiger Zeit abgespielt hat. Als Michel Debrė von de Gaulle zu seinem Premierminister ernannt wurde, haben wir ihn als den „Treuesten der Treuen” bezeichnet. Unter der ersten Garnitur der gaullistischen Führung konnte er ohne Zögern als der einzige bezeichnet werden, der nie in seiner Karriere auch nur eine Sekunde de Gaulle untreu geworden war. Daß nun sogar Zweifel an seiner Treue aufgetaucht sind, ist — selbst wenn sie unberechtigt sein sollten — kennzeichnend für die Situation. Algerische Abgeordnete, welche sich über de Gaulles Weigerung, sich bindend über den Status Algeriens auszusprechen, geärgert hatten, richteten nun eine diesbezügliche Anfrage an Debrė. Und zum großen Erstaunen der Oeffentlichkeit antwortete der Premierminister klipp und klar im Sinne der „Integration”, auf die sich sein Chef doch bisher nie hatte festlegen wollen. Er sagte nämlich, die algerischen Departements seien genau das gleiche wie die Departements des Frankreich diesseits des Mittelmeeres. Der Elyseepalast blieb auf diese Erklärung hin stumm. Aber es fiel auf, daß der „Journal Officiel” sehr lange zögerte, diese Erklärung abzudrucken. Erst als die Anfragen von seiten der „Ultras” in Algerien immer dringender wurden, wurde Debres Stellungnahme in. diese Zeitung aufgenommen, in die alle offiziellen Erklärungen aufzunehmen sind, wenn sie „rechtskräftig” werden sollen.

SPHINX SOUSTELLE

Allerdings: Debrė hat ebenfalls keine Hausmacht hinter sich; seine Stärke beruht einzig und allein in dem persönlichen Vertrauen, das ihm de Gaulle bisher entgegengebracht hat. Es gibt jedoch einen führenden Gaullisten, der im Besitz einer Hausmacht ist und diese ständig ausbaut: Soustelle. Wie alle Geheimdienste, besteht auch der Geheimdienst des „Freien Frankreich”, den Soustelle in London und später, gegen Ende des zweiten Weltkrieges, in Algier leitete, unterirdisch weiter und ist in der Mehrheit seines alten Personalbestandes Soustelle treu ergeben geblieben. Und dieser Personenkreis wurde für Soustelle die Grundlage für eine Hausmacht, pie er in Frankreich wie in Algttien drüt/eri planmäßig weiter auskaut und deren Vertreter er in alle möglichen Schaltstellen der Macht einzuschleusen sucht.

Wie groß diese Hausmacht heute ist, dürfte schwer zu bestimmen sein. Und gerade der Umstand, daß man das nicht genau weiß, trägt zu ihrer Stärke bei. Die Linke hat für Soustelle den Spitznamen „Gros Matou” — „dicker Kater” — aufgebracht. Darin steckt die Vorstellung von einer Katze, die geduldig vor dem Mauseloch wartet; eines Tages wird die Maus schon herauskommen. Und es ist auch eindrucksvoll, wenn man bei offiziellen Anlässen sich diesen Mann ansieht, der zweifellos die bedeutendste politische Begabung unter den Gaullisten ist. Die Art, wie diese methodische Intelligenz sich irgendwo zurückhaltend lächelnd im Hintergrund hält und es Ministerkollegen überläßt, sich im Blitzlicht zu sonnen, drängt dem Beobachter den Eindruck auf: das ist ein Mann, der auf seine Stunde zu warten weiß.

Ein machtmäßiger Vorteil für Soustelle ist ja auch, daß er von einem erheblichen Teil der Kräfte der „nationalen Revolution” nicht mit dem übrigen „Gaullismus” in einen Topf geworfen wird. Wir haben in rechtsextremistischen Versammlungen erlebt, wie de Gaulle mit all seinen Unterführern aufs heftigste attackiert, Soustelle jedoch ausdrücklich ausgenommen wurde. Er — der heute in der Regierung auf einen Nebenposten abgeschoben ist — sei mit General Salan zusammen ein Musterbeispiel für den „Undank de Gaulles” ; dabei wäre de Gaulle ohne die entscheidende Hilfe dieser beiden Männer nicht Staatschef der Fünften Republik geworden.

Immerhin darf man das nicht zu extensiv kommentieren. Erstens einmal kann niemand beweisen, daß Soustelle im Konfliktsfall von seinem alten Chef abfallen und zur „nationalen Revolution” übergehen würde. Bis jetzt sind das alles bloß Mutmaßungen. Und zweitens ist auch nicht gesagt, ob dieses Lager in seiner Gesamtheit bpreit wäre, Soustelle aufzunehmen. Das alte Bürgerkriegslager von Vichy hat dort starke Stellungen besetzt, und für diese Leute bleibt Soustelle nun einmal der „Resistant”.

DIE POLITISCHEN MYTHEN

Außerdem darf eine bestimmte Schwäche von Soustelle nicht übersehen werden. Er ist ein typisches Produkt der „Ecole Normale”, d. h. er glaubt an die Macht der planenden und ordnenden Intelligenz. Darum hat er auch das Hauptgewicht seiner persönlichen Politik auf jene „Unterwanderung der Schaltstellen der Macht” gelegt. Frankreich scheint nun aber in eine Phase einzutreten, in der die politischen Mythen wieder von primärer Bedeutung werden könnten. Für diese „Mythen” scheint aber die kalte Intelligenz Sousteiles — und darin ähnelt er ein wenig seinem politischen Antipoden Mendės-France — kein Organ zu haben. Vielleicht ist er doch zu sehr „Generalstäbler”, um, .FithteT einer,T nationalen Revolution zu werden, den so viele schon in ihm sehen wollen.

Darin ist de Gaulle ihm über: der General weiß, was ein politischer Mythos ist — und vor allem ist er selbst einer. Sein persönlicher Mythos ist die einzig Hausmacht, die de Gaulle sicher auf seiner Seite weiß. Und es ist abzuwarten, was ein solcher persönlicher Mythos gegen die beiden säkularen Mythen auszurichten vermag, die unser Jahrhundert aufgewühlt haben — Faschismus und Kommunismus.

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