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Gefährliche Vorstellungen in lebenswichtigem Raum

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In den letzten Monaten ist es in Europa allenthalben zu offenen oder verschleierten Konflikten ob des A g r a r-preis es gekommen. Es hat sich hiebei erwiesen, daß über dieses Thema in sehr weiten Kreisen merkwürdig veraltete und bedenklich unwirkliche Vorstellungen herrschen, so daß es vielleicht vor! Nutzen sein kann, die grundlegenden Probleme freizulegen und sie in den weit- und zeitweiten Rahmen zu stellen, in dem sie gesehen werden sollten.

Wie bildet sich der Agrarpreis? Welche Funktion erfüllt er?

Und schließlich: Welche Gefahren müssen in Kauf genommen werden, wenn er seiner Aufgabe nur unzulänglich dienen kann?

Dabei stößt man gleich zu Anfang auf einen höchst allgemeinen Irrtum, daß sich nämlich der europäische Agrarpreis — und von diesem ist hier die Rede -i-in den meisten Ländern des alten Kontinents nach einem Weltmarktpreis richte, wobei die riesigen überseeischen Anbaugebiete sehr viel billiger produzieren könnten, so daß die heimische Landwirtschaft bald wieder eines mäßigen Schutzzolls bedürfen würde.

In Wirklichkeit produzieren — vorsichtiger gesagt: .verkaufen“ — die meisten europäischen Landwirte ihre Ernte oft um den halben Preis des Imports. Zwei naheliegende Beispiele: Der deutsche Bauer erhielt bis vor kurzem für 100 kg Weizen 13 D-Mark, während der USA-Weizen mit 22.05 D-Märk bezahlt werden muß. In Österreich verkauft der Bauer seinen Weizen mit etwas über 86 Schilling, Während der ERP-Weizen — ein Geschenk, das aber kaufmännisch behandelt werden muß — ab Mühlenempfangsstation auf 91 Schilling kommt; Zahlen, welche das wirkliche Mißverhältnis weitgehend verbergen, da hier der Dollar mit 10 Schilling eingesetzt ist; würde man den wirklichen Dollarpreis einsetzen, wäre die Spanne noch größer als im deutschen Exempel. Die Bauern, die in vielen Ländern einem da und dort schutzzollmäßig etwas abgeschwächten, Druck billigen Uberseegetreides ausgesetzt gewesen, sind nun in keinem einzigen Fall Nutznießer des umgekehrten Preisgefälles geworden, weil die Erstellung des Inlandspreises landwirtschaftlicher Erzeugung sehr wesentlich von dem Kräfteverhältnis Stadt-Land beeinflußt wird.

In der Auseinandersetzung zwischen der Masse der Industriebevölkerung und der Masse Ackerbau treibender Menschen erweist sich die Industrie-arbeiterschaft als die ungleich größere politische Kraft. So einfach sich dies formulieren läßt, so klar der Zusammenhang zwischen politischer Macht und Agrarpreis erscheint, so muß man sich doch im klaren sein, daß diese Feststellung mächtige gesellschaftliche Unlust und Abwehrgefühle auslöst. Der notwendig gewordene Ersatz der altvertrauten Vorstellung eines Kampfes zwischen Unternehmern und Arbeitern (wie er am Agrarsektor noch in Süditalien und Spanien eine gewisse Gültigkeit hat) durch die neuzeitliche Erscheinung einer Auseinandersetzung bestimmter Arbeitergruppen untereinander begegnet heute denselben gefühlsmäßigen Widerständen, mit denen die marxistischen Volkswirtschaftler bei

Aufdeckung gewisser Mechanismen der frühkapitalistischen Welt zu tun hatten. Aus dem tiefen Wunsch, an dem alten Vorstellungsschema einer solidarischen Arbeiterklasse festhalten zu können, erklärt sich, daß da und dort versucht wird, die Auseinandersetzung um den Agrarpreis — als entscheidende Phase der Aufteilung des Sozialprodukts zwischen Stadt und Land — durch Lohnforderungen der Landarbeiter zu überblenden. Es ist ein wenig gespenstisch, wieso die einst mächtige landbesitzende Schicht in eine Rolle hineingesteigert wird, die zu spielen sie niemals mehr die politische Kraft hätte.

Will man allen Ernstes glauben mach en, daß die familienfremde Kräfte beschäftigenden Landwirte auch nur einen Tag dem Druck der „solidarischen“ Arbeiterklasse standhalten könnten? Und wo ist der Raum, in dem sie manöverieren sollen? Längst entscheidet die Gesellschaft, der Staat, über die Höhe der ihnen zugestandenen Preise wie über das Ausmaß der Kapitalsinvestitionen, die sie vornehmen dürfen.

Es handelt sich hier also weniger um echte Konflikte als darum, die Verantwortung für die Erhöhung der Agrarpreise von sich zu schieben, eine Verantwortung, die letzten Endes doch von der Regierung, in der wieder die Arbeitermassen entscheidenden Einfluß haben, gelragen werden muß.

Nach welchen Grundsätzen aber sollten die Preise festgesetzt werden? Offensichtlich muß der Agrarpreis meist zwei Aufgaben erfüllen: kostendeckend zu sein und Investitionen für eine Verbesserung der Erzeugung zu ermöglichen.

Die gegenwärtigen Agrafpteise dienen rtur dem ersten Zweck. Die absolut notwendigen Investitionen werden über nationale Sonderkontos oder ausländische Hilfsfonds, Wie die ERP, durchgeführt. Sie erfüllen aber auch den ersten Zweck mir unzureichend. Wenn der landwirtschaftliche Produzent sich mit den nötigen Industriearlikeln versorgt hat, dann bleibt ihm nur so wenig übrig, daß eher die eigenen Kinder als die angeworbenen Kräfte in die Stadt abwandern. Dieser eigentümliche Zug der Landflucht, daß die Bauernkinder stärker zur I n d u s t r i e a r b e i t e r scha f t strömen als dieLandarbeiter, beweistdeutllch, wieschmal der Anteil des Sozialprodukts ist, der dem landwirtschaftlichen Produzenten zugestanden wird. Gewisse Erscheinungen am Ende dieses Krieges, die die landbebauende Schichte vorübergehend in eine stärkere Stellung brachten als den städtischen Arbeiter, trugen deutliche Züge des bloßen Uberganges.

Auf die Dauer wird es aber nicht-vorteilhaft sein, am System der Subventionen festzuhalten. Sie zwingt die Kapitalsinvestitionen in ganz bestimmte, starre Bahnen, läßt dem individuellen landbebauendem Talent keinerlei Spielraum und bedarf natürlich eines gewissen bürokratischen Apparats. So nützlich das System auf beschränkte Zeit ist, so wirkt es doch auf die Dauer hemmend und wie ein Mißtrauensvotum der Gesellschaft an ihre ackerbautreibende Schichte,

Es ergibt sich hier natürlich die Frage nach dem richtigen Gleichgewicht zwischen landwirtschaftlichen und industriellen Kapitalsin v e s t i t i o n e n. Die alte Erkenntnis, daß die Industrieproduktion auf dem Sockel der Agrarproduktion ruht, wurde in den letzten Jahrzehnten durch die Tatsache verschleiert, daß wirtschaftliche Prosperitätsgebiete, wie etwa Großbritannien, nur eine unbeträchtliche Menge landwirtschaftlicher Güter hervorbrachten. England hat aber seine Agrarproduktion nur in andere Länder verlegt, wie dies bereits Malthus vorausgesagt und vorausgefürchtet hatte. Europa aber ist diesem Beispiel sehr weitgehend gefolgt. Auf dem alten Kontinent gibt es nur mehr 0,88 m' Ackerland für jeden Menschen, während amerikanische Ernährungssachverständige der Meinung sind, daß 2,5m1 erforderlich seien. Wir erleben daher gegenwärtig eine Agrarkrise und den Versuch, Sie nochmals über den forcierten Export von Industrieartikeln zu lösen.

Das ist auch wohl der einzig gangbare Weg. Er kann jedoch nur von beschränktem Erfolg sein, keinesfalls die Sorgfalt in der Bestellung und Erhaltung des europäischen Ackerlandes überflüssig machen. Dehn die Weltanbaufläche verringert sich noch immer, die Auswaschung des amerikanischen Bodens wurde nur verlangsamt, nicht völlig aufgehalten, während die britischen Großversuche in Afrika, die europäische Fettlücke zu schließen {Erdnußprojekte), vorläufig gescheitert sind. Auch die Vorschiebung der Getreidegrenze im sowjetischen Norden kann die Lösung dieser Spannung zwischen Weltbedarf und Welterzeugung nicht bringen.

Zur selben Zeit hat aber die Menschheit seit Ende des Krieges um 100 Millionen zugenommen. Versucht man das Phänomen des Menschheitswachstums wenigstens durch die letzten Jahrhunderte zu verfolgen, dann kommt man zu der Tatsache, daß zwischen Dreißigjährigem Krieg und heute die Menschheit von 500 Millionen auf zwei Milliarden angestiegen i s t. Dabei Waren von schnellem Wachstum immer nur einzelne Volksgruppen erfaßt, vor allem die Angelsachsen, die von 5 Millionen auf 200 Millionen stiegen; Professor Notenstein von der Princeton University nennt diese Phase .potentiellen Vermehrungszustand“, „potential growth“. Heute ist nun die halbe Menschheit in diese Phase eingetreten. Das eindruckvolle Bild, das Harold Wright schon 1923 prägte, scheint kaum zu übertreiben: .Wenn man es aus der Perspektive sieht, dann hat sich die Bevölkerung wie eine langsam brennende Zündlunte vermehrt, die vor der Ladung einen Augenblick innezuhalten schien, dann die Explosion auslöste.“

Aus alldem ergibt sich, daß die politische Überlegenheit der Industria-arbeiterschaft bereits in absehbarer Zukunft aufgehoben werden, weil die Menschheit von dem Mangel an der notwendigen Masse an Agrarprodukten bedroht sein wird. Die Abwehr bestünde darin, daß die Kurve der Agrarproduktion zu rascherem Steigen gebracht wird. Nun aber braucht eine einmal vernichtete Vegetationsschichte mehrere Generationen, um nachzuwachsen, und das Gesetz des abnehmenden Bodenertrags, wonach der Wirkungsgrad erzeugungssteigernder Mittel von einem Optimum an abzusinken beginnt, ist hart und unerbittlich. In einer Zeit, deren Vorstellungen sich im wesentlichen an der industriellen Fertigung bilden, scheint es wichtig, darauf hinzuweisen, wie lange es braucht, einen vernachlässigten landwirtschaftlichen Produktionsapparat wieder in Ordnung zu bringen und wie ungeheuer lebenswichtig diese internationale Aufgabe ist.

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