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Gefahren populärer Geschichtsschreibung

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Kleine Geschichte Rußlands. Von Paul Sethe. Verlag Heinrich Scheffler, Frankfurt am Main. 159 Seiten. Preis 6.80 DM.

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Kleine Geschichte Rußlands. Von Paul Sethe. Verlag Heinrich Scheffler, Frankfurt am Main. 159 Seiten. Preis 6.80 DM.

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Diese kleine russische Geschichte erscheint in einer Sammlung, die Zünftigen, also Zuständigen, den Zutritt offenbar strengstens verwehrt. Publizisten, die gut schreiben, sollen hier Aufgaben erfüllen, die von Historikern — deren Berufstugend ist, schlecht schreiben zu müssen — nur selten geleistet werden können. Sethe will den sogenannten breiten Schichten der Gebildeten — oder denen, die gebildet werden sollen — einen Ueberblick über und einen Einblick in Rußlands Geschichte bieten, gewissermaßen den Schlüssel zum Verständnis der russischen, der sowjetischen Gegenwart. Der Verfasser besitzt drei von den vier dazu nötigen Gaben: er hat schriftstellerisches Talent, politischen Scharfsinn, Intuition für die großen Zusammenhänge. Ein Viertes aber mangelt ihm, wie fast allen Außenseitern, die Kenntnis der neuesten Fachforschung. Das schadet nicht viel in den Kapiteln über die jüngste Vergangenheit. Es wirkt sich schon schlimmer in den Abschnitten über die Kaiser, von Peter dem Großen zu Nikolaus dem Zweiten und Letzten aus. Schon die Einteilung dieser mit 64 Seiten zwei Fünftel des Ge-samtwerkchens ausmachenden Periode weckt Bedenken. Die Ueberschriften „Der erste Kaiser“, „Herrschaft der Frauen“, „Kampf mit dem Westen“, „Der Zarbefreier“, „Zusammenbruch“, sind irreführend oder sie vereinen sehr Heterogenes unter einem gemeinsamen Nenner. Ist die Epoche Peter I. zweifellos ein geschlossenes Ganzes, dem man aber besser die in ihr Wesen hineinleuchtende Bezeichnung „Begegnung mit dem Abendland und oberflächliche Westtünche“ geben sollte, so verbindet die rein äußere Tatsache, daß von 1725 bis 1796, mit alleiniger kurzer Ausnahme der unglückseligen Regierungen Peter II. (1727 bis 1730) und Peter III. (1762), Frauen in Rußland regierten, miteinander zwei sehr ungleiche Systeme. Anna und Elisabeth hatten weder in ihrer inneren noch in ihrer auswärtigen Politik Aehnlichkeit mit der hochbegabten, scheuseligen Katharina II. Gerade das diese Monarchinnen scheinbar Verknüpfende, ihr wüstes Liebesleben, zeigt den Unterschied zwischen schwachgeistigen Weibchen, deren planloses Walten von den jeweiligen Amanten gelenkt wurde, und „Catherine L e Gr a n d“, die ihre schwer zählbaren Sexualpartner auf deren private Funktionen beschränkte und die dabei nur mit dem einen, Potemkin, eine Ausnahme machte, die in den außerordentlichen Fähigkeiten dieses liederlichen, staatsmännischen und nicht nur männischen Kraftgenies begründet war. „Kampf mit dem Westen“ eine Zeit zu heißen, deren erste Jahrzehnte nach dem tragikomischen Zwischenspiel Paul I., durch den engsten Anschluß an den Westen unter Alexander I. charakterisiert sind, geht nicht an. Dagegen gehören Nikolaus I. und Alexander IL, Alexander III. und Nikolaus II. zusammen in eine Epoche der Abkehr vom faulen Westen, in die Aera des Panslawismus, Eurasianismus, des Absolutismus und der cäsaropapistischen Orthodoxie. Von einem „Zusammenbruch“ kann man in Rußland höchstens ab 1904/05 sprechen, und das genügt nicht, um bei den schmalen Dimensionen des Buches einen eigenen Titel zu rechtfertigen.

Aus der Fülle der abweichend von gesicherten Ergebnissen der historischen Forschung dargestellten Einzelheiten seien erwähnt: die verworrene und fast in jedem Wort irrige Schilderung der ersten Teilung Polens und die kaum bessere des Untergangs der Rzeczpospolita; die Ansicht, Katharina sei „von der Gleichheit dessen, was Menschenantlitz trägt, überzeugt“ gewesen; die Meinung, Paul I. sei „begabt und klug gewesen“ (was z. B. im Kriegsgericht über eine Ratte zum Ausdruck kam, die dem begabten und klugen Herrscher, da er noch Großfürst-Thronfolger war, einen seiner geliebten Stoffsoldaten angefressen hatte). Völlig verfehlt ist die Beurteilung Kutu-zovs; Sethe vermeidet es, die wichtige Frage über die Anstifterschaft des Brandes von Moskau, 1812, zu erörtern. Die Heilige Allianz geht in ihrem LTrsprung nicht auf Alexander I. zurück, sondern auf Metternich, der diesen Gedanken geschickt durch Mittelsmänner bzw. Mittelsfrauen dem Zaren zuschob. Nikolaus I. ist viel zu positiv bewertet; die Sätze über den töricht-heldenhaften Befreiungskrieg der Polen von Anno 1880/81 sind ein Kabinettstück unzutreffender Synthese sehr verwickelter Gegebenheiten .. . Schreiten wir zeitlich zurück, dann wird es immer ärger mit den „Unstimmigkeiten“. Der Raum mangelt, um da auf mehr als noch auf zwei kapitale Sünden hinzuweisen: die an überwundenen Traditionen haftende Erzählung von den Anfängen des russischen Staates, die nur insoferne ein neueres Element bringt, als die Warägerherrschaft noch auf Jahrzehnte vor Rjuryk zurückdatiert wird. Wie es sich damit wirklich verhielt, das hat die russische Forschung im wesentlichen aufgehellt. Rostovcev, Vernadskij, Grekov, Mavrodin, Artamonov, Tichomirov hätten da zu Rate gezogen werden müssen. Des weiteren bleibt uns Sethe den Hinweis auf den hohen Kulturstand schuldig, den Kiev vor dem Mongolensturm erreicht hatte — dessen verderbliche Folgen er recht gut erfaßte.

Sieht man von den Einwänden ab, die sich aus der Abhängigkeit des Autors von ein paar, weithin veralteten, deutschen Gesamtdarstellungen erklären, kann man das Buch zur politischen Orientierung und, mit Einschränkungen, zur ersten Einführung etwa ab Ivan III., den nach rascher, allgemeiner Orientierung über russische Vergangenheit Begehrenden empfehlen. Unsere etwas einläßliche Anzeige sei mit dem Wunsch gerechtfertigt, einmal die Gefahren und die Schwächen auch der besten populären, von Nichtfachleuten herrührenden Ueberblicke darzutun. Es gibt da keinen andern Ausweg als den: daß die Zünftigen besser und anziehender schreiben lernen, da es ein hoffnungsloses Beginnen bleibt, den nur Gutschreibenden das unumgänglich Nötige des historischen Handwerks beizubringen.

Die Kosaken und der Heilige Geist. Von R. i. Bruckberger. Deutsch von Walter W a r n a c h. Stahlberg-Verlag, Karlsruhe. 133 Seiten.

Der Dominikanerpater Raimund L. Bruckberger — sein Vater war übrigens Oesterreicher — ist eine der eigentümlichsten Gestalten des an selbständigen Charakteren bestimmt nicht armen französischen Katholizismus. Durch Jahre teilte er das Leben der Maquisarden, und 1944 las er in Paris vor Notre-Dame die erste Feldmesse für die Befreiung, während die Kugeln der Dachschützen noch über die Köpfe der Teilnehmer hinwegflogen ... In der vorliegenden Schrift hält P. Bruckberger einer gewissen westlichen Intelligenz eine Philippika: allen voran jenen Katholiken, die angesichts des Kommunismus resignieren und allzu schnell bereit sind, den Weg in die Katakomben (und in die kommunistischen „Friedenskomitees“) als einzige Möglichkeit für den Christen zu empfehlen. Demgegenüber predigt P. Bruckberger der europäischen Jugend den Geist einer neuen christlichen „Ritterschaft“ und heißt auch „Fremdenlegionäre“ — „man fordert von diesen Freiwilligen kein Glaubensbekenntnis, das sie mit gutem Gewissen doch nicht ablegen können, sondern nur Ehre und Treue“ — willkommen.

Vorsicht, Vorsicht ... So berechtigt P. Bruckbergers Kritik erscheint, so bleiben doch in seiner nur in wenigen Gedanken hingeworfenen Antwort manche Fragen offen. Ein neuer Mittelalter-Mythos befriedigt wohl kaum, und im Atomzeitalter gehen wohl die „Kreuzritter“ noch schneller im Sog einer Umwelt, die ganz andere Motive verfolgt, sehr bald unter. Endergebnis (bestenfalls): „Teufel durch Beelzebub“ ausgetrieben . ..

Wenn schon ein Leitbild, dann lieber das des neben dem Stacheldraht und in Reichweite der nachbarlichen Maschinenpistolen ruhig pflügenden Bauern, wie wir ihm im Burgenland zum Beispiel begegnen können. Zwischen jenen in unserem Land so gut wie unbekannten „Links“verIockungen für den Katholiken und schon weit eher geläufigen ,.Rechts“versuchungen muß es einen dritten Weg geben. Ihn aufzuspüren und ihren Mitmenschen zu weisen, ist Aufgabe all jener, die fühlen, was unsere Stunde geschlagen hat. Im Angesicht der Kosaken und des Heiligen Geistes.

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