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Gefahrliches Vakuum

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Als der Verfasser dieses Artikels seinerzeit einem Bewohner damals noch weltabgeschiedener Gebiete Zentralasiens in dessen eigener Sprache die modernen Eisenbahnen beschrieben hatte, fragte ihn dieser: „Ja, warum baut man denn solche sich mit Windeseile fortbewegende feuerfressende Gestelle?“ Auf meine Antwort, man baue Eisenbahnen, damit man dreißigmal schneller ans Ziel gelange, als sich auf primitiven Pfaden vorwärtsbewegende Tragtierkolonnen, bemerkte er: „Damit solche sich schnell bewegende Verkehrsmittel auch wirklich von Nutzen sind, muß man doch zuerst dafür Sorge tragen, daß die Menschen lernen, mit soviel ersparter Zeit auch etwas wirklich Vernünftiges anzufangen!“ — Und viel später, als das kommunistische China in diesen Gebieten die moderne Technisierung gewaltsam eingeführt hatte, überbrachte man uns eine Botschaft eines Einheimischen, die die Bemerkung enthielt: „An sich hätte ich gegen die Vorteile der Technisierung nichts einzuwenden, wenn ich nicht immer wieder die Beobachtung machen müßte, daß der sich der Modernisierung völlig verschreibende Mensch dazu neigt, seine Mitmenschen schlechter zu behandeln als seine Maschinen und Autos!“

Mit solchen Bemerkungen vermögen echte Asiaten den Inhalt stundenlanger Vorträge der Kommunisten über die Vorteile einer rücksichtslos vorangetriebenen Technisierung zu entkräften. Schon vor dem Ausbruch des offenen Aufruhrs in Tibet gegen die Angliederung des Landes an das kommunistische China erhielten wir laufend Berichte über die Enttäuschungen kommunistischer Propagandisten im „Verbotenen Land“. Ja mehr noch„ es kam vor, daß gründlich geschulte Kommunisten durch ihren Kontakt mit Tibetern dem Kommunismus abtrünnig wurden. So transportierte man zum Beispiel im Frühling 1959 in einer einzigen Woche über die neugebauten Hochgebirgsstraßen in dreißig vollbesetzten Autobussen in Tibet verhaftete chinesische Militärpersonen, Beamte und Siedler, nach China, um sie dort in. „Um-erziehungslager einzuliefern.

Es ist kein Wunder, daß lediglich materialistisch ausgerichtete „Ordnungen“ jede auch nur zum Teil im Nichtmateriellen verankerte Gegenkraft als potentielle Gefahr ansehen. Nebst gewisser strategischer Erwägungen ist dies wohl der Hauptgrund, warum heute die geballte Macht eines 650-Millionen-Menschen-blocks gegen zwei Millionen arme Tibeter, die niemandem ein Leid zufügen, eingesetzt wird.

Vor uns liegen in tibetischer Sprache die ausführlichen Antworten des Dalai-Lama auf eine ganze Reihe von Fragen über den Aufstand in Tibet und seine Ursachen, die ihm kürzlich von Journalisten und verschiedenen Asienkennern gestellt wurden. Sehr wichtig ist die von ihm betonte, im Ausland aber fast unbeachtet gebliebene Behauptung, daß während der Zeit, in der der Lamaismus mit den chinesischen Kommunisten paktierte, um seinen materiellen Rahmen zu retten, von der unter der Leitung des Dalai-Lama stehenden tibetanischen „autonomen Regierung“ Maßnahmen getroffen wurden, um durch den Ankauf von Ländereien der Großgrundbesitzer und deren Verteilung an tibetanische Ackerbauer den kommunistischen Vorstößen zuvorzukommen. Der Dalai-Lama gibt bekannt, daß diese Maßnahmen von den Kommunisten bewußt sabotiert würden, um sich eine günstigere Ausgangsbasis für die Beseitigung der tibetanischen Autonomie zu schaffen.

Das heutige Großchina strebt nach Augenblickserfolgen, die sich aber oft schon' auf der materiellen Ebene gegen ihre Urheber kehren. Ein Beispiel: Bekanntlich ist der chinesische Lebensstandard so niedrig, daß in vielen Teilen des Landes vierzig Chinesen zusammen für ihre Lebenshaltung nur ebensoviel ausgeben können wje der durchschnittliche Westeuropäer. Man hält daher die Volksmassen mit andauernden Versprechungen baldiger Produktionssteigerungen „unter Dampf“, damit sie ein den Bedürfnissen einer raschen Technisierung nach ausländischem Muster entsprechendes Arbeitstempo auch unter den elendsten Lebensverhältnissen beibehalten. Aber trotz der Errichtung großer. Fabriken und riesiger Stauwerke, der Einführung ertragssteigernder, landwirtschaftlich Methoden usw.. vergehen Monate und Jahre ohne dem Zustandekommen einer dieser gewaltigen Kraftanspannung auch nur einigermaßen entsprechenden Steigerung des Lebensstandards. Denn die mit der Technisierung einherschreitende Einführung der modernen Krankheitsbekämpfung und Hygiene (dazu noch in einem ausländische Vorbilder übertrumpfenden Maßstab, wie es zum Beispiel beim erzwungenen Auflegen von Gesichtsmasken zur Verhinderung eventueller Krankheitsübertragungen bei einer ganzen Reihe von Betätigungen in Erscheinung tritt) führt bei dem ehedem durch Seuchen usw. immer wieder gewaltsam dezimierten kinderreichen chinesischen Volk zu einem sich von Jahr zu Jahr steigernden Bevölkerungszuwachs, der heute bereits 18 Millionen Menschen im Jahr beträgt und eventuelle Produktionssteigerungen wettmacht. Da kommt auch die geschickteste Propaganda nicht mehr mit, die übrigens in ihrer Breite, Tiefe und Hemmungslosigkeit sogar die wirkungsvollsten ausländischen Schablonen übertrifft und die es sogar fertigbrachte, zum Beispiel in den Augen der Chinesen ein dermaßen zwingendes „Leitbild“ der gewöhnlichen Fliege als verkörperten Krankheitsbringer zu konstruieren, daß sich jedermann „freiwillig“ in die Massenvertilgung der Fliegen einschaltete und das Auftauchen einer einzigen Fliege auch in abgelegenen Landgebieten allgemeines Entsetzen und eine fast komisch wirkende Fliegenjagd auslöst! In nicht wenigen Bereichen erzeugt das geistlose Haschen nach Augenblickserfolgen eine Art kollektiven Wahnsinnszustand, so daß es vorkommen konnte, daß in Großbetrieben durch einen „freiwilligen“ Beschluß der Arbeiterschaft der 15-Stunden-Arbeitstag eingeführt wurde, worauf dann übermüdete Werktätige an ihren Präzisionsmaschinen einschliefen, und ein Plan zur sofortigen Vervielfachung der Hochschulen die Tatsache übersah, daß man zwar Studiersäle und Baderäume aus dem Boden stampfen kann, nicht aber ein geistiges Konzept und einen' Lehrkörper, so daß dann „zeitweilig“ linientreue Parteibeamte mit Volksschulbildung als Hochschulprofessoren eingesetzt wurden!

Die chinesische Vergangenheit kennt Zeiten, in denen weise Kaiser mit einem Beamten und drei Soldaten gut und gerecht regierten. Zumindest im Unterbewußten steckt in jedem echten Chinesen die Vorstellung: „Wenig Beamte und wenig Soldaten - gute Regierung; viele Beamte und viele Soldaten — schlechte Regierung.“ Das heutige Großchina, das - was sehr viel besagt — einen dem sowjetischen und amerikanischen nachgebildeten „Riesenapparat“ besitzt, schlägt also in den Augen echter Chinesen alle Rekorde eines von einer schlechten Regierung beherrschten Landes. Daß sich das Regime trotzdem halten kann, ist nach Ansicht weitblickender Beobachter nicht nur auf ein geschicktes Hineinmanövrieren der Masse in eine anderen großen Weltmächten nachgeahmte Anbetung des Götzen „Höherer Lebensstandard“, auf die Gehirnwäsche für die vielen, und die Verwendung satanischer, aus dem Arsenal der modernen Tiefenpsychologie geholter Methoden zur Beeinflussung einer wertvollen Minderheit zurückzuführen, sondern auf das Fehlen eines glaubwürdigen geistigen Konzepts für die Zeit nach der Beseitigung der kommunistischen Herrschaft. Nach Ansicht weiser Chinesen haben alle aus dem Ausland importierten Herrschaftssysteme versagt, da sie mit allseitiger Auflösung chinesischer Wertungen Hand in Hand gingen, ehe noch die Voraussetzungen für eine Verankerung ihrer unchinesischen Wertskala geschaffen waren. Und obwohl manche chinesische Dynastien ganz gut regierten, befand sich das von einem wenig gebildeten Adel der Mandschü umgebene Kaisertum in den seiner Beseitigung vorhergehenden Jahrzehnten in einem Zustand schlimmer Entartung, so daß eventuelle Bestrebungen zur Wiederäüfriehtung eines chinesischen Kaisertums wenig Erfolgsaussichten hätten. Alles in allem scheint es darum zu gehen, wer letzten Endes imstande sein wird, das sich unter der kommunistischen Herrschaft andauernd vergrößernde geistige Vakuum des riesigen Landes durch ein den Chinesen wirklich einleuchtendes geistiges Konzept aufzufüllen. Inzwischen geht die, oft allerdings nach dem Muster anderer materialistischer Ordnungen durch Kulturfassaden getarnte, Selbstzerstörung der geistig-seelischen Substanz des Landes weiter, und es steigt allmählich das Verlangen nach einer echten inneren Erneuerung. Die Uebergangszeit ist gefährlich. Hat nicht schon vor Jahren ein bedeutender chinesischer Denker vorausgesagt, daß das Uebergreifen des Konzepts materialistischer „Ordnungen“: „Anarchie plus einem Gendarmen“, auf China die gesamte Welt in Gefahr bringen würde?

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