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Gefüttert, verehrt, angebetet: Die Ratten von Deshnok

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Etwa 20.000 kleine, meist graue Nager leben hier in einem Tempel aus weißem Marmor und mit silbernen Türen nicht nur völlig unbehelligt, sondern werden von den Tempelwächtern gefüttert, verehrt und angebetet. Durch unzählige Löcher kommen sie aus ihren unterirdischen Verliesen, spitzmäulig und behaart, mit langen nackten Schwänzen. Es fleucht und kreucht kreuz und quer durch den ganzen Tempel, sie spielen und raufen, begatten einander und beißen sich auch manchmal tot. Satt und befriedigt liegen sie in allen Gängen, Ecken und Winkeln.

Die Priester dieser hinduistischen Sekte, die in der Umgebung von Bi-kaner im indischen Bundesstaat Rajasthan mehrere hunderttausend Anhänger hat, füttern sie beständig mit Milchreis. Die Gläubigen bringen ihnen Joghurt. Das hat auch sein Gutes: Die Ratten sind immer satt und daher eher ungefährlich.

Der Tempel von Deshnok ist der Göttin Kami Mata geweiht. 151 Jahre alt soll sie 1539 in Deshnok gestorben sein. Nach der Legende soll Karni-Mata beim Tod eines ihrer Söhne geschworen haben, daß keiner ihrer Nachfahren mehr zu Yama, dem Gott des Todes, kommen werde. „Eher werden sie als Ratten neugeboren", soll sie geschworen haben. Mehr als 500 Familien Rajasthans halten sich für Nachkommen Karni Matas.

Der Hinduismus Indiens ist geprägt von Karma und Wiedergeburt.

Das Karma bestimmt als Summe aller menschlichen Taten das Schicksal und die Kastenzugehörigkeit im nächsten Leben. Die Reinkarnation ist aber nicht auf den Menschen beschränkt. Da für die Hindus alles Leben der göttlichen Ordnung entspricht, kann man wegen Fehlverhaltens auch als Tier oder Pflanze wiedergeboren werden. Steht doch im Manu, dem Gesetzgeber der Menschheit: „Wenn man Korn stiehlt, wird man eine Ratte, Wasser ein Wasser-' tier, Hjanig eine Mücke, Milch eine Krähe und Süßigkeiten ein Hund."

Hier in Deshnok geht man nur insofern einen Schritt weiter, als ausschließlich Tiere, eben die Ratten, als Wiedergeburten verehrt werden. Die Gläubigen erkennen in den Ratten den Geist ihrer Vorfahren. So ist es nicht ungewöhnlich, wenn sie gemeinsam mit den Ratten von dem

gleichen Silbertablett trinken, denn sie trinken mit ihrem verstorbenen Großvater.

Eine Tempelratte hat noch ein vergleichsweise günstiges Karma. Erwartet sie doch ein gesichertes und sorgenfreies Leben im Tempelgeviert. Ein wirklich schlechtes Karma wäre erst das Leben einer gewöhnlichen Landratte irgendwo außerhalb des Komplexes. Ob man als ordinäre Kanalratte oder

als heilige Ratte vor dem Altar der Göttin wiedergeboren wird, auch das hängt vom eigenen Verhalten während des Lebens ab.

Am Eingang des Tempels muß man, wie in allen hinduistischen Heiligtümern, die Schuhe ausziehen. Die Socken darf man anbehalten, was ängstlichere Gemüter aus Furcht vor dem Schmutz der Ratten auch tun.

Man sieht sie sofort. Sie kommen aus allen Ecken und Ritzen, sie kommen von vorne und hinten, von links und rechts, sie sind einfach überall. Sie sind überhaupt nicht scheu und schnuppern an den Füßen von Indern und Touristen. Was die Inder gelassen hinnehmen, bei den immer zahlreicher werdenden Touristen aber gemischte Gefühle erzeugt. Man muß sich sehr vorsehen, um nicht versehentlich auf einen der unzähligen Na-

ger zu steigen. Wir werden darauf aufmerksam gemacht, daß man in einem solchen Fall die Ratte selbst außerhalb des Tempels begraben muß.

Im Tempel selbst herrscht ein buntes Treiben. Die Gläubigen verbeugen sich beim Eintritt vor der Göttin und gelangen durch einen schmalen Gang in das Innere. Im Allerheilig-sten, das nur Hindus betreten dürfen, trinken die Ratten von einem silbernen Tablett Wasser. Die Pilger nehmen es mit nach Hause und trinken davon, ist das Wasser durch den Genuß der Ratten heilig geworden. Vor dem Altar brennen mit Butter übergossene Kuhfladen und falls eine weiße Ratte vorbei-huscht, werfen sich alle Gläubigen zu Boden. Eine gespenstische Szene, überall wimmelt es vonRatten.

Wider Erwarten ist der Tempel aber ziemlich sauber. Die Ratten selbst sind eher niedlich als furchterregend. Sie ähneln mehr unseren Mäusen. Außer - man fürchtet sich vor Mäusen. Aber auch die Ratten müssen sich vor niemandem fürchten. Nicht einmal vor Raubvögeln, denn ihr Tempel ist mit einem Netz gegen die himmlische Gefahr gesichert.

Den Ratten von Deshnok konnte nicht einmal die Pest etwas anhaben. Als vor einem Jahr der „schwarze Tod" Nordindien wieder heimsuchte, wurden sie zu Tausenden erschlagen. 85 Rupien, etwa 17 Schilling, zahlten die Behörden für 50 Kadaver. Nur in Deshnok nicht Hier wurden sie gefüttert, verehrt und angebetet. Schon 1918, als die Pest in Bikaner wütete,

flüchteten viele Einwihner in den Tempelbezirk. Und auch diesmal versetzten der Glaube an die Ratten Berge: „Diese Ratten sind immun und beschützen uns", wird uns gesagt. „Karni Mata, die Ratten-Göttin, hat die Pest von Bikaner ferngehalten." Wirklich: Der „schwarze Tod" erreichte Rajasthan nicht. In Bikaner starb niemand an der Pest.

Bikaner, eine Wüstenstadt mit 400.000 Einwohnern, liegt in der Wüste Thar an einer alten Handelsroute zwischen Indien und Afghanistan. In letzter Zeit profitierte Bikaner vom zunehmenden Wüstentourismus zum 300 Kilometer entfernten Jaisalmer. Neben dem Rattentempel zählen eines der schönsten Forts Rajasthans und die in ganz Indien einmalige Kamelzuchtfarm zu den Sehenswürdigkeiten. Die Stadt hat sich bislang ihr ursprüngliches Aussehen bewahrt und wird von Kamelen, Kühen, Ziegen und Kindern geprägt. Die Wege sind staubig, Schmutz und Unrat säumen den Straßenrand, offene Abwasserkanäle stinken zum Himmel. Im heißesten Monat Mai hat es tagsüber bis zu 48 Grad und nachts nicht unter 27 Grad. Die beste Reisezeit ist von November bis Februar. In Bikaner regnet es nur an 13 Tagen des Jahres.

Man kann in einem der fünf einfachen Hotels wohnen, man kann allerdings auch fürstlich residieren: Im Bhanwar Niwas Palace oder im Lal-garth Palace des Maharadjas für nur 200 bis 300 Schilling. Von Delhi erreicht man Bikaner mit dem Zug in zehn Stunden. Die Liegewagen sind überraschend bequem, soferne man die bestellten Plätze erhält.

Aber auch das ist Karma, wie alles im Leben ...

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