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Gegen alle Hoffnung hoffen

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Fern der Heimat, manchem der älteren Generation als eigenwilliger, scharfer Denker und gesinnungsstarker Politiker gelegentlich in unbequemer Erinnerung, feiert am 1. September in seinem freiwillig gewählten Exil, für das er den geforderten Zoll bis zur letzten Münze bezahlt hat, ein Mann, dem Oesterreich mehr ist als bloß das Land seiner Vorfahren und seiner besten Mannesjahre, den sechzigsten Geburtstag: Ernst Karl Winter, von 1934 bis 1937 Dritter Bürgermeister von Wien.

Seine philosophisch-soziologischen, historisch-politischen und religionshistorisch-theologischen Schriften, die er seit dem Abschluß seiner Studien an der Wiener Universität (juristisches Doktorat: 1922) bis heute veröffentlicht hat, seine politische Wirksamkeit während eines der dramatischesten Abschnitte der österreichischen Geschichte, seine spannungsreiche Persönlichkeit, die sich mächtig genug fühlt, auch den weltanschaulichen Gegner in das eigene katholische Konzept hereinzunehmen, reizt zu Stellungnahme, zu polemischer Auseinandersetzung. Der Anlaß legt jedoch die Untersuchung nahe, in welchem Maße er mit der Analyse der österreichischen Gegebenheiten jener Zeit recht behalten hat, wie weit seine Ideen, damals von den Gegenspielern links und rechts als Utopien eines Schwarmgeistes verhöhnt, heute lebendige Wirklichkeit geworden, ja' vielleicht sogar, über das Scheitern seiner politischen Mission hinaus, in das Fundament eingegangen sind, auf dem das Gebäude des freien, unabhängigen und neutralen Oesterreich aufruht.

Ist es nicht charakteristisch für Ernst Karl Winter, daß er, der sich nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges als Freiwilliger zur kaiserlichen Armee gemeldet hatte und dann wegen Verwerfung des Duellstandpunktes nicht zum Reserveoffizier befördert wurde, nach dem Zusammenbruch der Monarchie dem exilierten Kaiser Karl in Disentis als Bote jener Unentwegten begegnete, die damals als Bürger der von den Katholiken mitgeschaffenen österreichischen Republik unter der Führung Anton Orels als einzige politische Gruppe in die Mitte ihrer Planung die Krone setzte? Aber, „die Monarchie ist keine reale Kraft, nur mehr ein Traum, den viele Oesterreicher träumten“, schreibt in unseren Tagen Ernst Karl Winter, und meint damit jene letzte Phase des Kampfes gegen das Dritte Reich vor 1938, in der vielen Oesterreichern rechts und links in ihrer Verzweiflung vor dem, was sie kommen sahen, die Restauration der Monarchie als das letzte Mittel erschien, die Ueberwältigung durch den Nationalsozialismus aufzuhalten.

Ebenso charakteristisch ist das Schicksal seiner Habilitationsschrift „Die Sozialmetaphysik der Scholastik“ (1929). Daß sein Habilitationsgesuch niemals, weder positiv noch negativ, erledigt wurde, mag vielleicht auch damit zusammenhängen, daß diese Schrift eine Zeitlang in Gefahr stand, auf den römischen Index gesetzt zu werden, und daß also katholischerseits das Gesuch kaum nachdrücklich unterstützt wurde. Jedoch scheint heute die Nichterledigung des Gesuches den damaligen Amtsträgern der Fakultät die bequemste Methode gegenüber einem Bewerber gewesen zu sein, dessen unbedingte Ablehnung des Anschlusses für die Wiener Universität überaus unerwünscht war, da deren „deutscher“ Charakter in akademischen Kreisen ungleich mehr galt als ihr österreichischer.

Wie weit scheinen nun diese Dinge heute zurückzuliegen! Ernst Karl Winter gehörte von allem Anfang an zu jenen, die auf das Uebcl hinwiesen, daß weite Kreise, namentlich der Intellektuellen, die Heimat preisgaben. — Selbst Churchill hat später zugegeben, daß diese sinnloseste Tat der neueren Geschichte die Zerschlagung des jahrhundertelang gewachsenen Staatswesens „Oesterreich“ war. „Aber“, schrieb Winter 1933, „daß es dazu kam, war keineswegs das in der Luft hängende Ergebnis doktrinärer Entscheidungen brutaler Sieger, die auf der Friedenskonferenz von St. Germain 1919 das Ende Oesterreichs dekretierten, sondern ganz im Gegenteil der Ausdruck einer den breiten Schichten aller österreichischen Völker eigentümlichen, ein halbes Jahrhundert vorbereiteten Ueberzeugung. Nicht die außerösterreichische Welt und nicht die Siegermächte haben Oesterreich zerstört, sondern Oesterreich selbst hat sich aufgegeben. Die Vertreter der Weltmächte entschieden dann am grünen Tisch nur, was ihnen die Vertreter der österreichischen Völker, und beileibe nicht nur der nichtdeutschen, soufflierten ... Niemals wurde Bismarck in Deutschland so verehrt, wie in /diesem .Deutschösterreich', das einen österreichischen Bismarck gesteinigt hätte!“

Und wie erging es Dollfuß, an dem Winter mehr als jeder andere hing und zu dessen klarsichtigen Kritikern er gehörte und gehört? In einem Zeitpunkt, da die Zusammenfassung aller österreichischen Kräfte am notwendigsten gewesen wäre, blieb das Volk in zwei feindliche, bürgerkriegsmäßig aufgerüstete Lager zerspalten und „Austromarxismus“ und „Antimarxismus“ standen sich haßerfüllter gegenüber als Deutsche und Tschechen in der Tschechoslowakei. Als sich innerhalb der Sozialdemokratie, die über ein Jahrzehnt mit dem Gedanken der „Diktatur des Proletariats“ gespielt hatte, Neigungen zeigten, einen Teil der Verantwortung mit zu übernehmen, war die innenpolitische Entwicklung schon zu weit gediehen. „Man wird die Unnach-giebigkeit der Rechten in den letzten elf Monaten vor der Februarkatastrophe 1934 nur verstehen“, erklärte Ernst Karl Winter fünf Monate nach dieser, „wenn man die vorhergehende Ueberheblichkeit der Linken betrachtet, die beständig mit verfassungsfremden Machtfaktoren, Streiks, Aufmärschen und sonstigen Demonstrationen Politik machte.“

Nach der Februarkatastrophe 1934 war sich Dollfuß darüber im klaren, daß eine neue Gesellschaffsordnung nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit der Arbeiterschaft aufgebaut werden könnte. Nicht einen Politiker, sondern einen Wissenschaftler, der als. konservativer Einzelgänger außerhalb jeder Parteigruppierung stand, betraute Dollfuß mit der Aufgabe, die Arbeiterschaft in den Staat einzugliedern. Mit einem kühnen Entschluß wurde Winter die Freiheit einer konstruktiven politischen Aktion im Sinne eines „schöpferischen österreichischen

Konservativismus eingeräumt, der bis ins Herz der Marxisten reichen sollte“.

Das Schicksal Oesterreichs ruhe auf zwei Säulen, einer christlichen und einer sozialistischen.

Es gibt mancherlei Gründe, die den Politiker Ernst Karl Winter scheitern ließen. Die „Revolutionären Sozialisten“, als illegale Partei-Erben der Sozialdemokratie, bekämpften erbittert das neue System. Die alte emigrierte Führung blies in dieses Feuer. „Versöhnler“ war eines der schlimmsten Schimpfworte. Als vier Jahre später, nach dem Besuch Schuschniggs in Berchtesgaden am 12. Februar 1938, der Einmarsch Hitlers unmittelbar drohte und Otto Bauer, wider alle Hoffnung hoffend, die Arbeiterschaft, ganz im Sinne Winters, aufrief, nicht mehr zuzuwarten, sondern sofort ihre ganze Kraft für dieses Oesterreich einzusetzen, denn „nur ein kraftvoller, heroischer Widerstand des österreichischen Volkes selbst kann die öffentliche Meinung der Welt aufrütteln und dadurch auch die Hilfe der demokratischen Staaten erzwingen“, war es zu spät. Der Führer der Revolutionären Sozialisten, befangen von der Idee unentrinnbarer historischer Abläufe, hielt die Katastrophe für unabwendbar, und Schuschnigg, im Gegensatz etwa zu Richard Schmitz, erwartete sich nichts mehr von einem Einsatz der Arbeiterschaft.

„Die Geschichtsforschung hat keineswegs die banale Aufgabe, daß, weil es so ist, es nicht anders sein könnte; sondern vielmehr kritisch herauszuarbeiten, daß, wo immer ein ethischer Bruch erfolgt, der politische nicht ausbleibt“, schreibt Ernst Karl Winter in seinem letzten Aufsatz im „Hochland“ (XLVII/6. Aug. 1955).

Die „christliche Sozialreform“ blieb in Deklamationen und schüchternen formalistischen Versuchen stecken. Das heutige Oesterreich, in welchem wegen der Erinnerung an 1934/38 von „berufsständischer Ordnung“ kaum gesprochen wird, verfügt über mehr echte und funktionierende berufsständische Einrichtungen, als damals auch nur ernsthaft geplant werden konnten. Und wenn sich heute auch über das Zusammenwirken der beiden staatstragenden Regierungsparteien und den „Proporz“ Unbehagen Luft macht, wie denn sonst hätte Oesterreich in den vergangenen zehn Jahren Staat und Wirtschaft wiederaufbauen und die Freiheit und Unabhängigkeit des besetzten Landes, trotz aller Bedrohungen und Verlockungen von jenseits der Grenzen, erkämpfen, sichern Und international verankern sollen?

Auch jener Führer der illegalen Revolutionären Sozialisten, der jeder „Versöhnung“ so leidenschaftlich entgegenwirkte, lebt heute in Amerika. Er denkt nicht mehr daran, in die Heimat zurückzukehren. Ernst Karl Winter dagegen hat nie die Hoffnung aufgegeben, seinen Lebensabend einmal in Oesterreich verbringen zu können.

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