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Digital In Arbeit

„Gegen das Urteil keine Berufung“

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Nach dem Verhör der Zeugen wurde eine Pause angeordnet. Ich fragte Kisseljew nach seiner Meinung über die Verhandlung, und er antwortete, daß alles eine Komödie sei, mein Fall sei bereits im voraus entschieden. „Aber das Strafverfahren ist doch eingestellt worden“, wandte ich ein. „Nun ja, mit dem Strafverfahren haben sie sich etwas vergaloppiert“, sagte Kisseljew. Nach fünfzehn Minuten wurde die Verhandlung wieder aufgenommen. Der Richter forderte mich auf, weitere Erläuterungen abzugeben und mein Schlußwort zu sprechen; dabei ließ er durchblicken, daß ich mich in dem „Schlußwort“ zu meinen Theaterstücken und den Bildern äußern sollte. Offenbar erwartete er von mir entweder Reue und Verdammung der eigenen Schriften oder ganz im Gegenteil eine flammende Rede zur Verteidigung von Malerei und Literatur. Ich war jetzt entschlossen, ihm den Gefallen nicht zu tun und ihn weder das eine noch das andere hören zu lassen. Ersteres hätte mich nicht gerettet, sondern mich nur zu einer traurigen Figur gemacht. Letzteres hätte dem Richter womöglich freie Hand gegeben, falls sie überhaupt in irgendeiner Weise gebunden war. Außerdem bin ich meinem Wesen nach kein Agitator, sondern glaube, daß die Treue zu den eigenen Uberzeugungen nicht darin besteht, ihre Richtigkeit jedem vorbeikommenden Esel beweisen zu wollen; vielmehr sollte man diese Treue durch seine Arbeit beweisen. Aus diesem Grunde entschied ich mich, nur über das zu reden, was formell Gegenstand der Gerichtsverhandlung war. Ich sagte, daß ich mich nicht für einen Schmarotzer hielte, daß ich seit meinem siebzehnten Lebensjahr ständig oder zeitweilig gearbeitet oder studiert hätte, daß es in den letzten Jahren, besonders im vergangenen, wegen der schweren Krankheit meines Vaters, sehr schwierig für mich gewesen sei, ständig zu arbeiten. Es könne stimmen, daß ich in den letzten Monaten bei der Arbeitsuche wenig Ausdauer bewiesen und die mir von der Miliz gesetzte Frist schlecht genutzt hätte, aber ich bäte das Gericht, mir noch einmal Gelegenheit zu geben, eine Arbeit anzunehmen und meinen Vater zu pflegen.

Das Gericht schloß sich im Beratungszimmer ein und blieb dort volle 40 Minuten, was sehr viel ist, wenn man bedenkt, daß die Gerichte, wenn „Schmarotzer“ abgeurteilt werden, gewöhnlich nur fünf Minuten beraten und sich häufig dazu nicht einmal zurückziehen. Wenn ich auch mit einer maximalen Strafe rechnete, so hoffte ich irgendwie doch auf einen Freispruch. Schließlich konnten auch die Beisitzer dem Richter entgegenwirken. Allerdings machten sie eher den Eindruck schweigender Statisten — die ganze Zeit hatten sie den Mund nicht auf getan, nur einer stellte einmal eine unbedeutende Frage. Dann wurde die Tür geöffnet, der Richter sagte: „Bitte aufstehen!“ — und verlas das Urteil. Ich wurde zu zweieinhalb Jahren Verschickung in ein vorgeschriebenes Wohngebiet mit vorgeschriebener physischer Arbeit verurteilt, ohne Konfiszierung des Eigentums. Gegen das Urteil konnte keine Berufung eingelegt werden. Der Richter fügte aber hinzu, daß ich bei guter Führung nach der Hälfte der Frist freigelassen werden könne, und befahl dann, mich in Gewahrsam zu nehmen. Damit war die Verhandlung beendet

Meiner Meinung nach benahm sich Richter Tschigrinow die ganze Zeit über äußerst gewissenlos, voreingenommen und gesetzwidrig. Erstens teilte er mir praktisch bereits am Vorabend der Gerichtsverhandlung in Gegenwart des Untersuchurigs-beamten, der Beisitzer und der Sekretärin mein Urteil mit; zweitens lehnte er die Vorladung der von mir gewünschten Zeugen mit der einzigen Begründung ab, daß dann die Verhandlung vertagt werden müsse; drittens nahm er mir die Möglichkeit, um einen Anwalt nachzusuchen, weil ich das nicht bereits am Tage vor der Verhandlung getan hatte; viertens weigerte er sich, das mir von meiner letzten Arbeitsstelle ausgestellte Zeugnis zu den Akten zu nehmen, und berücksichtigte bei der Urteilsflndung nur das Zeugnis, das auf Anforderung der Miliz von dort geliefert worden war; fünftens verhörte er die Zeugen so voreingenommen, daß er ihnen praktisch die Möglichkeit nahm, Aussagen zu machen; sechstens wurden die Zeugen, auf Grund deren Aussagen er das Urteil fällte, das heißt meine Nachbarn, von ihm weder vorgeladen noch verhört; siebentens war er nicht bereit zu prüfen, ob ich irgendwie und irgendwann gearbeitet hatte, außer in den in meinem Arbeitsbuch vermerkten Fällen, oder ob ich zu irgendeinem Zeitpunkt an der Universität studiert hatte; achtens weigerte er sich, die Notwendigkeit der Pflege meines kranken Vaters anzuerkennen, und zwar mit der Begründung, daß mein Vater selbst für sich sorgen könne, obwohl dieser damals bereits Invalide ersten Grades war, also eine Invaliditätsstufe hatte, die nach dem Gesetz nur denjenigen zugestanden wird, die ständige Pflege brauchen und die außer ihrer Rente dafür eine besondere finanzielle Zulage erhalten; neuntens weigerte er sich, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich meine kranke Tante bis zu ihrem Tode betreute; zehntens wurde von ihm das ge-richtsmedizinische Gutachten, das die Frage, ob ich zwangsweise zu körperlicher Arbeit herangezogen werden könne, offenließ, weder berücksichtigt noch erwähnt; elftens führte er sich während des ganzen Prozesses äußerst grob und voreingenommen auf — nicht wie ein Richter, sondern wie eine Prozeßpartei, wie er auch den größten Teil der Zeit nicht dem Kern des zur Verhandlung stehenden Falles, sondern der Darlegung seiner persönlichen Ansichten über Literatur und Kunst widmete. Ein Mensch wie Tschigrinow ist kaum fähig, überhaupt Richter zu sein, dennoch wurde er bald darauf zum Oberrichter des Bezirks ernannt.

Vorher schon und auch später wieder hatte ich einigemal Gelegenheit, Gerichtsverhandlungen zu besuchen, freilich in der etwas angenehmeren Rolle des Zuschauers, und jedesmal erstaunte mich die außerordentliche Grobheit der Richter, ihre tendenziöse Verhandlungsführung sowie die völlige Nichtbeachtung der Prozeßvorschriften. Ich will natürlich nicht behaupten, daß alle unsere Richter so sind, doch ist es offenbar eine recht verbreitete Erscheinung. Es scheint, daß die Sowjetführung zur Zeit angesichts der wachsenden Kriminalität sehr beunruhigt ist. Die Bekämpfung des Verbrechertums — ganz zu schweigen von Präventivmaßnahmen — ist jedoch allein vom Rechtsstandpunkt aus nicht möglich ohne eine wirksame und achtunggebietende Rechtsordnung. Hier kommt es nicht auf die Verabschiedung immer neuer drakonischer Gesetze an, sondern auf die richtige Anwendung der bereits vorhandenen, die ohnedies schon schwere Strafen für unbedeutende Vergehen vorsehen. Darüber hinaus muß es demjenigen, der seine Strafe abgebüßt hat, ermöglicht werden, in die Gesellschaft zurückzukehren und in ihr ein normales Leben zu führen; das darf ihm weder durch das Anmeldesystem noch durch die Anrechnung der Vorstrafen erschwert werden. Vorstrafen dürften nur bei neuer Straffälligkeit in Betracht gezogen werden und nicht bei den Bemühungen um Arbeitsaufnahme oder beim Wunsch nach Rückkehr zu den Angehörigen.

Und schließlich, kann wirklich all das als gesetzlich“ angesehen werden, was im Gesetz geschrieben steht? Wie kann man sich damit abfinden, daß einige Paragraphen des Strafgesetzbuches der RSFSR und der Unionsrepubliken in offenem Widerspruch zum Grundgesetz, zu der Verfassung der Sowjetunion stehen? So widerspricht der Paragraph 70 des Strafgesetzbuches der RSFSR sichtlich den Punkten a, b und c des Artikels 125 der Verfassung der UdSSR, der Paragraph 190 des Strafgesetzbuches demselben Artikel 125 der Verfassung*. Und wenn man schon diese Paragraphen des Strafgesetzbuches anwendet, wie kann man dann dem Wort „antisowjetisch“ eine derart maßlose Bedeutung beimessen, wie das beispielsweise beim Prozeß gegen Daniel und Sinjawskij geschah? Höchstens könnte man noch unter antisowjetischer Propaganda eine Propagierung des gewaltsamen Umsturzes der sowjetischen Staatsordnung verstehen; doch wenn unter den Begriff „antisowjetische Propaganda“ theoretische Untersuchungen über den sozialistischen Realismus fallen, so erinnert das allzusehr an das Jahr 1951, als der Mann meiner Tante zu fünf Jahren verurteilt wurde, weil ihm die Romane Scholochows und Fadejews nicht gefielen. Mir scheint, Personen, die mit sehr großer Macht ausgestattet sind, sollten einsehen, daß, wenn Gesetzlosigkeit zum Gesetz erhoben wird, sie sich eines schönen Tages selbst in der Situation von Sinjawskij und Daniel wiederfinden könnten. Wie viele hochstehende Sowjetführer wurden seinerzeit in Prozeß-Komödien zu im voraus festgelegten Strafen verurteilt! Solange wir nicht in einem Rechtsstaat leben, wird niemand, sei es ein obdachloser „Tscherdatschnik“, sei es eine verantwortliche leitende Persönlichkeit, sich für seine Handlungen voll verantwortlich fühlen, ebenso wird er auch nicht an persönliche Sicherheit und an gerechte Behandlung glauben können.

* Paragraph 70 Strafgesetzbuch dei RSFSR: „Agitation oder Propaganda die mit dem Ziel geführt werden, die Sowjetmacht zu stürzen oder zu schwachen, wie auch einzelne besonders gefährliche Staatsverbrechen oder die Verbreitung von Verleumdungen mit dem gleichen Ziel, welche die staatliche und gesellschaftliche Ordnung der Sowjetunion verunglimpfen, desgleichen die Verbreitung, Herstellung oder Aufbewahrung von Literaturerzeugnissen deren Inhalt dem gleichen Ziel dient werden mit Freiheitsentzug von sechs Monaten bis zu sieben Jahren und zusätzlicher Verbannung füi zwei bis fünf Jahre oder ohne Verbannung oder nur mit Verbannung für zwei bis fünf Jahre bestraft.“ Artikel 125 der Verfassung dei UdSSR: „In Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und mit dem Ziel der Festigung der sozialistischen Ordnung werden den Bürgern der UdSSR gesetzlich garantiert:

a) Redefreiheit,

b) Pressefreiheit,

c) Versammlungsfreiheit“ Paragraph 1901 Strafgesetzbuch der RSFSR: „Die systematische Verbreitung von bekanntermaßen unwahren Äußerungen, die die staatliche und gesellschaftliche Ordnung der Sowjetunion verunglimpfen in mündlicher Form, sowie die Vorbereitung oder Verbreitung von Arbeiten solchen Inhalts in schriftlicher, gedruckter oder anderer Form, werden mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren oder mit Besserungsarbeit bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bis zu 100 Rubeln bestraft.“

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